Im Kino

Platz für ein paar mehr Passagiere

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Fabian Tietke
14.10.2015. Ein beklemmender Film über das Scheitern der europäischen Migrationspolitik ist Jonas Carpignano mit "Mediterranea" gelungen. Aleksandar Nikolics "Der serbische Anwalt" porträtiert ruhig und konzentriert den Karadzic-Verteidiger Marko Sladojevic.


Ein Berg aus Säcken, Tüten und Taschen bedeckt den LKW, oben sitzen Menschen dicht an dicht, von unten fordert der Fahrer die Menschen auf, noch weiter zusammenzurücken, damit Platz für ein paar mehr Passagiere frei wird. Kurz darauf rumpelt der LKW gemeinsam mit einem zweiten durch die Nacht. Von irgendwo in Afrika nach Norden, an die libysche Küste soll die Reise gehen. Bis Algerien fahren die LKWs, dann geht es weiter zu Fuß auf endlosen Fußmärschen durch die Wüste in Richtung Libyen. Kaum hat die Gruppe Flüchtender die algerisch-libysche Grenze überquert, wird sie überfallen und ausgeraubt.

Schon bei der Darstellung der Flucht auf dem Landweg bis an die libysche Küste zeigt sich, dass Jonas Carpignanos "Mediterranea" auf zahllosen Erfahrungsberichten aufbaut: Der Film stellt die Flucht nicht als eine Art Pauschalreise mit schlechter Logistik dar. In der ersten Stadt hinter der Grenze müssen die Protagonisten Ayiva und Abas erst einmal bei Verwandten um Geld bitten, um die Reise an die Küste und später nach Europa fortsetzen zu können. An der Küste angekommen, weigert sich der Fluchthelfer, das Boot zu steuern. Die europäische Jagd auf "Schlepper" hat ihre Spuren in den Techniken der Flucht hinterlassen.

In einem kleinen Boot fährt die Gruppe aufs Meer hinaus, gerät in einen Sturm, in dem einige der Fliehenden vom Boot fallen, einige von ihnen ertrinken. Die übrigen werden von der italienischen Küstenwache aufgegriffen. Im ersten Bild nach der Ankunft folgen die Geflüchteten einem Offizier der italienischen Küstenwache durch die Gänge eines Aufnahmezentrums. Über das Bild des Innenhofes schiebt sich der Schriftzug "Italien". Europa zeigt sich von seiner schönsten Seite.

Kurz darauf machen sich Ayiva und Abas auf eigene Faust auf den weiteren Weg mit dem Zug nach Rosarno in Kalabrien. Ein Bekannter nimmt sie in Empfang, sie essen gemeinsam. Nach und nach treffen sie immer mehr Bekannte, einige von ihnen nehmen sie mit in ein Zelt- und Barackenlager am Rand der Stadt. Das Ankommen ist hart, Europa und Italien erweisen sich als wenig paradiesisch, eher als ein zugiges Wellblechlager im Zustand dauernder Belagerung durch die örtliche Bevölkerung. Der Versuch, eine Aufenthaltserlaubnis in Italien zu bekommen, macht die beiden zu Tagelöhnern in der Orangenernte.

Carpignanos Film gibt einen detailreichen Einblick in die Schwierigkeiten von Flucht und Ankunft, zeigt die Relevanz eines weiten Netzwerks von Bekannten und die prekäre Gemeinschaft unter den Migranten als emotionale Notwendigkeit. Innerhalb des großen Kontextes der Ausbeutung der neu Angekommenen bei der Arbeit und der rassistischen Ablehnung, entfaltet "Mediterranea" ein komplexes Bild von den Begegnungen mit der italienischen Bevölkerung. Dem Hass der (vor allem männlichen) Jugendlichen steht ein kleines Netzwerk von Unterstützer_innen gegenüber. Selbst Ayivas Verhältnis zu seinem Chef schwankt mehr und mehr zwischen Ausbeutungsverhältnis und kollegialem Miteinander.



Doch der gesellschaftliche Rahmen steht unverrückbar. Carpignano ist klug genug, die Konflikte nicht lösen zu wollen, nicht zu versöhnen, die Spannungen auszuhalten - "Mediterranea" ist geradezu ein Modell dafür, wie Personen und Strukturen in einem Film in ein Spannungsverhältnis gebracht werden können. Während Toleranzfilme allzu oft gesellschaftliche Rollen auf Personen projizieren, machen die Personen in "Mediterranea" die Umrisse der sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen sichtbar. In dieser Wirklichkeit liegen Welten zwischen der persönlichen Sympathie eines Chefs für seinen Tagelöhner und dem bisschen mehr, dass es bräuchte, damit er ihm durch einen Arbeitsvertrag zu einer Aufenthaltserlaubnis verhelfen würde.
 
In Italien dürfte schon das Bahnhofsschild von Rosarno eine Kette von Assoziationen in Gang setzen: 2010 war der Ort durch rassistische Ausschreitungen bekannt geworden. Wie jedes Jahr häuften sich die Übergriffe in den letzten Tagen der Orangenernte. Italienische Jugendliche schossen auf schwarze Migranten, zwei von ihnen wurden schwer verletzt. Die Migranten organisierten sich, begannen für ihre Rechte als Landarbeiter zu kämpfen, nahmen den Ort auseinander. Schließlich beschloss die Politik, die Migranten aus dem Ort wegzubringen, räumte das Zeltlager, in dem viele von ihnen wohnten. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Rosarno hatte den Rassismus in Italien sichtbar werden lassen. "Mediterranea" erzählt die Vorgeschichte der Ereignisse des Januars 2010 und ist gleichzeitig deren mittelbare Folge: nach den Ausschreitungen zog Carpignano nach Rosarno, um Geschichten für ein Drehbuch zu sammeln, realisierte einen ersten Kurzfilm, sammelte weiter Erzählungen und Erfahrungsberichte. Diese Berichte und Carpiganos Fähigkeit zuzuhören, machen "Mediterranea" zu einer präzisen, beklemmenden und äußerst sehenswerten Bestandsaufnahme des Scheiterns der europäischen Migrationspolitik.

Fabian Tietke


Mediterranea - Italien 2015 - Regie: Jonas Carpignano - Darsteller: Koudous Seihon, Alassane Sy, Annalisa Pagano, Sinka Bourehima, Davide Schipilliti - Laufzeit: 107 Minuten.

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Es ist eine Frage, die man sich bei vielen juristischen Verfahren stellen kann: Was geht in diesen Rechtsanwälten vor? Wie kann man einen solchen Menschen nur verteidigen, womöglich sogar auf Freispruch plädieren oder auf einen solchen hinarbeiten? Konkret geht es um Radovan Karadzic, der sich nach seiner Festnahme im Jahr 2008 am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für seine Rolle im Bosnienkrieg verantworten muss. Unter anderem dreht sich der Prozess um das Massaker in Srebrenica im Juli 1995. Die Frage, die der Filmemacher Aleksandar Nikolic in "Der serbische Anwalt" umkreist, lautet: Wie rechtfertigt ein Anwalt, konkret: Marko Sladojevic, der Nikolic bemerkenswert nahe an sich heran lässt, sein Engagement in diesem Prozess, über den zumindest nach Ansicht der Öffentlichkeit das Urteil völlig absehbar ist? Welches Verhältnis findet der junge, aufstrebende Anwalt zu diesem Mandanten und dessen mutmaßlichen Taten?

Eine mögliche Antwort steht schon frühzeitig im Raum: Ein solcher Prozess kann, ganz unabhängig von seinem Ausgang, nur förderlich für die eigene Karriere sein. Reiner Opportunismus also? Hinzu kommt: Sladojevic stammt selbst aus dem untergegangenen Jugoslawien. Als junger Mann stand er in heftiger Opposition zu Karadzic und Milosevic, als Belgrad Ende der 90er Jahre bombardiert wurde, verließ er das Land, um in den Niederlanden Asyl zu suchen und ein neues Leben aufzubauen. Der Film legt implizit die Ahnung nahe, dass es vielleicht gerade diese Diaspora-Erfahrung mit den erlebten Ausgrenzungen ist, die zu einer Wiederannäherung geführt hat: Führt man im Innern noch politische Auseinandersetzungen, wird man von Außen zum widerspruchsfreien Serben erst gemacht.

Wobei es ein Missverständnis wäre, den Rechtsanwalt zum Komplizen seines Mandanten zu erklären. In dieser Hinsicht stellt "Der serbische Anwalt" eine Lektion in Rechtsstaatlichkeit dar. Sladojevics Ehefrau, die ebenfalls aus Serbien stammt und in Karadzics Kanzlei arbeitet, bringt es an einer Stelle beim Abendessen mit den Eltern auf den Punkt: Damit zweifelsfrei Recht gesprochen werden kann, ist ein möglichst umfassendes Bild der Situation zu dessen Evaluation nötig. Die Rolle der Strafverteidigung bestehe nun darin, zu diesem Gesamtbild beizutragen und Übergangenes ans Tageslicht zu holen, um eine Basis für einen gerechten Schuld- oder auch Freispruch zu schaffen. Eine Position, der sich auch Sladojevic glaubhaft anschließt.



Auch wenn einen im Verlauf dieses intimen Porträtfilms nie ganz die Ahnung verlässt, dass es sich um eine Rationalisierung handelt, die mögliche Schuldkomplexe abwehrt: Dass es beim Sichten von mitunter brutalstem Dokumentarmaterial zu eingestandenen Unterschlagungen kommt, die der eigenen Argumentation vor Gericht abträglich werden, räumt der Anwalt ebenso ein, wie die Tatsache, dass es ein gewisses Maß an emotionaler Abtötung braucht, um sich auf Jahre so intensiv mit einem Genozid und dessen Beurteilung auseinanderzusetzen. Bei seinen Landsleuten, früheren Weggefährten und Familienmitgliedern stößt Sladojevic regelmäßig auf Unverständnis und verteidigt seinen Mandanten schließlich noch im Privaten: In den Medien würden viele Lügen erzählt, einzelne Sätzen würden aus dem Zusammenhang gerissen und Karadzic sei beileibe nicht das Monster, als dass er dargestellt werde. Fraglich bleibt in solchen Momenten, wie sehr Sladojevic diesen Fall tatsächlich zur eigenen Sache gemacht hat.

"Der serbische Anwalt" ist ein ruhiger, konzentrierter, dennoch mulmig-intensiver Film. Er umkreist die komplexe Sachlage eher, als dass er sie auf einfache Antworten und Parolen zuzuspitzen würde. Es geht nicht um Thesen, sondern um Facetten, die auch im Widerspruch zueinander stehen dürfen: Wenn die Gerichte jahrelang um die Wahrheitsfindung kreisen, kann es einem Dokumentarfilm nicht gelingen, diese in knapp 90 Minuten auf einem Servierteller zu präsentieren.

Vielleicht geht es auch um einen Zustand post-jugoslawischer Melancholie: Gegen Ende des Films reist Sladojevic in seine Heimat, im Autoradio hört er einen schwärmerisch-emphatischen Song, der einstige Heldentaten der jugoslawischen Fußball-Nationalmannschaft preist. Mit Freunden bildet er ein neues (gesamt-)jugoslawisches Feierabend-Team. Über den Bildern liegt ein Hauch von Nostalgie, die Erinnerung, dass es am Rande Mitteleuropas einmal ein Land gab, dem trotz aller Misststände die sympathische Idee zu Grunde lag, verschiedene Völker in einem Staat zu einen, der letztlich am völkisch-nationalistischen Denken zugrunde ging.

Thomas Groh

Der serbische Anwalt - GB 2014 - Originaltitel: The Serbian Lawyer - Regie: Aleksandar Nikolic - Laufzeit: 92 Minuten.

Außerdem diese Woche neu: "The Tribe" von Miroslav Slaboshpitsky
. Hier unsere Kritik aus der letzten Woche.