Im Kino

Schnauze nach vorn

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Jochen Werner
21.10.2015. In Francesco Clericis Dokumentarfilm "Scultura - Kunst. Hand. Werk." kann man einem postheroischen Bronzehund bei der Entstehung zusehen. Das Berliner Kino Arsenal widmet derzeit dem dänischen Regisseur Nils Malmros eine Retrospektive. Dessen großartiger neuester Film, "Sorg og glæde", konfrontiert uns mit unseren Irrationalitäten.


Es entsteht im Laufe des Films vor unseren Augen kein hochgereckter Männerkörper in Heldenpose, auch kein idealisierter, vielleicht sogar göttlicher Frauenkörper, sondern die Gestalt eines Hundes, der entspannt auf dem Boden liegt, in der brennenden Mittagshitze vielleicht, die Schnauze nach vorn geschoben, die Beine seitlich neben dem Rumpf ruhend. Die Technik, die diesen freundlich erschlafften Hundekörper hervorbringt, ist dieselbe, die seit mehreren Jahrtausenden andere, zumeist vermutlich deutlich heroischere und transzendentalere Gestalten hervorgebracht hat: Der Hund wird in einer Mailänder Werkstatt hergestellt, die sich auf das sogenannte Wachsausschmezverfahren, eine Technik der Bronzeverarbeitung spezialisiert hat.

In der Fonderia Artistica Battaglia, in der der Film "Scultura - Hand. Werk. Kunst" komplett gedreht ist, entstehen seit 1913 Bronzeskulputuren nach dieser aufwändigen, nur arbeitsteilig zu bewältigenden Methode - die ihrerseits freilich noch deutlich älter ist und sich seit dem 6. Jahrhundert vor Christus kaum verändert hat. Lediglich einige wenige mechanisierte und motorisierte Hilfsmittel sind dazu gekommen - bei einem Stromausfall wären sie problemlos zu ersetzen. Gelegentlich montiert der Regisseur Francesco Clerici historische Aufnahmen in seinen Film, die in derselben Werkstatt in den 1960ern entstanden sind und die zeigen, wie damals mit fast identischen Mitteln an einer anderen Skulptur gearbeitet wurde.

Wenn es nach der klassischen europäischen Kunsttheorie geht, beginnt der Film erst, wenn sich das Entscheidende schon vollzogen hat. Die Form, die das fertige Werk annehmen soll, ist bereits vorhanden, der geistige Schöpfungsakt des Künstlersubjekts vollbracht: Da kauert er schon in der dritten Filmminute, der Hund, auf einem Blechtisch in der Werkstatt. Noch ist er knallrot eingefärbt und besteht aus einer nicht allzu langlebigen, wächsernen Substanz, aber er ist doch schon jetzt zweifellos eine Materie gewordene Idee. "Scultura" zitiert dagegen am Ende den Bildhauer Giacomo Manzu: "Sculpture is not a concept. Sculpture is the hand gesture." Noch genauer, mit dem italienischen Originaltitel "Il gesto delle mani" gesprochen: Kunst ist nicht das Produkt eines autonom wirkenden, kreativen Subjekts, sondern das Werk vieler unterschiedlicher Hände.

Als systematisches Argument überzeugt mich das nur halb: Auch Clericis Film kann sich am Ende, wenn im "fertigen" Hund eben doch die Gestalt seines wächsernen Provisoriums wieder durchscheint, vom tief im abendländischen Kulturschaffen verankerten Primat des Konzepts (und also der Form) über die Ausführung (und also die Materie) nur bedingt freimachen. Insbesondere wird das in jenem einen Moment deutlich, in dem aus einer amorphen Lehmmasse die Hundegestalt wieder herausgeklopft wird: Als Zuschauer kann man in dem Moment gar nicht anders, als die wiederauferstandene Form mit ihrem Original - und damit mit einer Idee - zu vergleichen.



Allerdings ändert das nichts daran, dass "Scultura" den Blick in beeindruckender Weise auf einen anderen, auf den kollaborativen, materialistischen Aspekt der Kunstproduktion lenkt. Auf die Arbeitsschritte und vor allem Handgriffe, die notwendig sind, um den lächerlich und ein wenig untot anmutenden Wachshund in den matt glänzenden, auf verschmitzte Art erhabenen Bronzehund umzuformen. Von den kurzen Abschweifungen ins letzte Jahrhundert abgesehen filmt Clerici strikt eines nach dem anderen. Erst, wie auf der Wachsfigur ein Gestell angebracht wird, dann, wie sie mit einer weiteren Substanz übergossen wird, die bald zu verhärten beginnt; anschließend, wie sie ausgebrannt und wie die dabei entstehende Hohlform mit der flüssigen Bronze gefüllt wird. Oder wenigstens so ungefähr. Tatsächlich gibt es dazwischen noch jede Menge weiterer Arbeitsschritte, die ebenfalls aufgezeichnet werden. Und gerade die Details sind wichtig: Besonders genau schaut der Film hin, wenn es darum geht, die Verstrebungen des Gestells, das auf dem Hund errichtet wird, zu verschmelzen. (Überhaupt scheint es beim Wachsausschmelzverfahren vor allem um die Dienstbarmachung des Feuers zu gehen).

Es gibt in dem Film, der sich darin seinem Gegenstand (also dem Wachsausschmelzverfahren sowie seiner Durchführung; aber in gewisser Weise auch der schmucklos schönen Hundeskulptur) gleich macht, keinen Schnörkel zuviel. Oder fast keinen: Einmal sieht man, wie einer der Männer im Bildhintergrund eine Schaufel mit Effet in die Ecke schleudert. Ein andermal meint eine Frau zu einem Kollegen in scherzhaft genervtem Tonfall, sie würde ihn umbringen, wenn er eine Flüssigkeit, mit der er gerade hantiert, über ihrem Schreibtisch verschütten sollte. Es sind nicht ganz, aber fast die einzigen Sätze, die im Film gesprochen werden (und sie ist die einzige Frau, die in ihm auftaucht).

Ansonsten gibt es keine Werkstattimpressionen, keine ethnografischen Miniaturen, keine tote Zeit. Nur die konzentrierte Arbeit an der postheroischen Kunst. Und diese Arbeit ist nicht nur im besten Sinne routiniert (die Handgriffe sind tradiert und eingeübt, aber nicht zu Automatismen verkommen), sondern auch bis ins Kleinste funktional; wie zum Beispiel in jener Szene, in der einer der Arbeiter sich mithilfe eines Stabs ein Seil angelt, das sich oben auf dem Regal, außerhalb der Reichweite seiner Arme befindet. Clericis gewissermaßen konstruktivistische Montage - tatsächlich ist der Film verhältnismäßig schnell geschnitten, weil der Regisseur für jede einzelne Geste nach der idealen, ihr zugehörigen Kameraposition sucht - verdichtet den Arbeitsprozess, indem sie ihn vom Ergebnis her denkt. Das wäre ein weiterer Einspruch, den ich gegen Manzu (nicht aber gegen diesen wunderbaren Film) anmelden würde: Die Gesten, die "Scultura" einfängt, stehen nicht für sich selbst, sondern im Dienst des entstehenden Hundes.

Lukas Foerster

Scultura - Hand. Werk. Kunst. - Italien 2015 - Originaltitel: Il gesto delle mani - Regie: Francesco Clerici - Laufzeit: 80 Minuten.

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Eine Reise nach Berlin spielt eine Schlüsselrolle im Werk und im Leben des dänischen Filmemachers Nils Malmros, dem das Berliner Kino Arsenal im Oktober 2015 eine nahezu vollständige Retrospektive widmet. Im Februar 1984 ist Malmros' Film "Skønheden og udyret" ("Die Schöne und das Biest") im Wettbewerb der Berlinale zu sehen, Malmros und seine damals 17-jährige Hauptdarstellerin Line Arlien-Søborg werden zur deutschen Premiere eingeladen. Wenige Tage zuvor, am 13. Februar 1984, ereignete sich die große persönliche Tragödie in Malmros' Leben: Seine psychisch kranke Frau Marianne tötete die neun Monate alte Tochter Anne mit einem Küchenmesser. In "Skønheden og udyret", einem Film, der auf ziemlich dunkle Weise einem verbotenen Begehren nachspürt geht es wenig kodiert um die auch erotische Faszination, die seine junge Schauspielerin auf den verheirateten Regisseur ausübt. Eifersucht und Verlustangst trugen dazu bei, die manisch-depressive und nach der Absetzung ihrer Antidepressiva überaus labile Marianne weiter in die Depression und schließlich in die Katastrophe zu treiben.

Dreißig Jahre später hat Malmros, der in beinahe all seinen Filmen in jener poetisierenden Weise, die zuletzt auch der norwegische Autor Karl Ove Knausgård in seinem monumentalen Romanzyklus "Min Kamp" aufgriff, aus seinem eigenen Leben erzählt, dieser dunklen Leerstelle in seinem Werk einen Film gewidmet - seinen letzten, wie er ankündigt. "Sorg og glæde" ("Trauer und Freude") beginnt mit der Heimkehr des Regisseurs Johannes nach einer Vortragsreise nach Fünen in ein dunkles und leeres Haus. Seine Schwiegereltern erwarten ihn im Wohnzimmer und teilen ihm mit, dass seine Frau Signe ihre gemeinsame Tochter getötet hat. Im weiteren Verlauf des Films begleiten wir Johannes durch die auf das Ungeheure folgenden Monate, die von anscheinend grenzenloser Solidarität mit der kranken Ehefrau geprägt sind. Nicht nur Johannes steht, anstatt ihr die Tat vorzuwerfen, bedingungslos an ihrer Seite und bewirkt schließlich, dass sie nach 18 Monaten psychiatrischer Behandlung als geheilt entlassen wird. Auch die Eltern der Schulklasse, die Signe als Lehrerin unterrichtete, unterzeichnen vollzählig eine Petition, um ihr die Rückkehr in den Beruf nach ihrer Genesung zu ermöglichen. Ereignisse, die man in einem fiktiven Plot zwingend als unglaubwürdig abtun würde, die aber tatsächlich genau so passiert sind. Marianne Tromholt arbeitete bis zu ihrer Pensionierung vor wenigen Jahren weiter als Lehrerin und ist bis heute mit Malmros verheiratet.

Malmros selbst sagte in einer Diskussion nach einer Vorführung, seine Frau und er hätten angesichts des Umgangs mit den Ereignissen großes Glück gehabt, in einem "einigermaßen anständigen Land" zu leben. Die Presse habe zurückhaltend und ohne die Identitäten der Beteiligten preiszugeben über das tragische Geschehen berichtet, Ärzte und Justiz haben ebenso rational und ohne einen Gedanken an Schuld oder Vergeltung zu verwenden agiert wie er selbst. In der Tat ist "Sorg og glæde" ein reflektierender, reflektierter, rationalisierender Film, der sich jede Sentimentalität oder reißerische Zuspitzung verkneift. Von religiösen Konzepten wie Schuld oder Vergebung will er nichts wissen, es geht ihm von vornherein nicht darum, weil er die Annahme als unumstößlich setzt, dass es angesichts der psychischen Krankheit und des daraus folgenden Kontrollverlusts nichts zu vergeben gibt. "Sorg og glæde" ist ein Paradebeispiel eines durch und durch humanistischen Films.



Natürlich befreit einen das nicht von der Last der Fremdheit, mit der man sich konfrontiert sieht, wenn man den Film anschaut. Oder eher: die man durchlebt, denn seine Kraft ist auch eine körperliche. Vielleicht fühlt man sich nicht nur mit der unausweichlichen Wucht der Faktizität des Dargestellten, sondern auch mit einer gewissen Widersprüchlichkeit in sich selbst konfrontiert. Denn natürlich ist die Form des Umgangs mit der Tat und der Täterin, die Johannes/Malmros gefunden hat, die einzig moralische Antwort auf die Tragödie. Aber in gewisser Hinsicht scheint sie auch übermenschlich. So trifft die eigene Überzeugung, als halbwegs zivilisiertes Individuum die archaische Logik des "Auge um Auge" als rechtliches Prinzip überwunden zu haben, auf den persönlichen Zweifel daran, ob es einem selbst möglich gewesen wäre, auf eine solche Tat ebenfalls mit Liebe anstatt mit Hass zu reagieren. Die Grenzen der persönlichen Fähigkeit zur Rationalisierung angesichts des Grauens treten zutage und offenbaren, dass man die zur Errichtung einer wahrhaft humanistischen Gesellschaft zwingend notwendige Fähigkeit zur Abstraktion des Nichtrationalen, Wildgefühlten keineswegs erreicht, sondern sie vielmehr in die Hände einer selbst wiederum abstrakten Institution, dem Rechtsstaat, gelegt und somit aus dem eigenen emotionalen Anspruchshaushalt gewissermaßen outgesourced hat.

Man kennt das aus dem öffentlichen Diskurs um Recht und Gerechtigkeit. Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen das individuelle oder gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden nicht mit dem Rationalismus der Rechtsprechung zusammen zu bringen ist, immer wieder beruft sich eben das, was wir unser Gespür für "Gerechtigkeit" nennen, auf das Verlangen nach Vergeltung, nach einem Ausgleich, der nahezu niemals zu haben ist, weil eben alles immer komplizierter ist, als es das zweidimensionale Schema von Aktion und Reaktion, Verbrechen und Strafe, Tat und Vergeltung darzustellen vermag. Sicher, wir vertrauen darauf, dass die Rechtsprechung in ihrem Rationalismus unsere eigenen Irrationalitäten kontrolliert, und dadurch können wir uns leisten, unser eigenes Denken nicht mit unseren ethischen Überzeugungen zur Deckung zu bringen - jedenfalls nicht dort, wo es uns so viel Schmerz und Auseinandersetzung abverlangt wie es das hier täte.

Womöglich konfrontiert uns Nils Malmros in "Sorg og glæde", im Gestus des bedingungslos und doch bis in die letzte Konsequenz hinein rational Liebenden, mit einer schmerzhaft klaffenden Lücke in uns selbst, in unserem Verständnis von den ethischen Grundwerten, nach denen wir zu leben meinen, und mit dem weit über das Filmende hinaus unlösbaren Rätsel, vor das uns die Geste des grenzenlosen Schenkens angesichts des grausamstdenkbaren persönlichen Verlustes nach wie vor stellt.

Jochen Werner

Sorg og glæde - Dänemark 2013 - Regie: Nils Malmros - Darsteller: Jakob Cedergren, Helle Fagralid, Ida Dwinger, Kristian Halken, Nicolas Bro, Helle Hertz - Laufzeit: 107 Minuten.

Die Retrospektive der Filme von Nils Malmros wird noch bis zum 30. Oktober 2015 im Kino Arsenal fortgesetzt. Am Abschlussabend sind "Skønheden og udyret" und "Sorg og glæde" nacheinander zu sehen.