Im Kino

Erfahrung in Blindheit

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Michael Kienzl
03.06.2020. Zwischen Rotem Fluss, Parfümfluss und Mekong fragt sich Trinh T. Minh-ha in ihrem Filmessay "Forgetting Vietnam": Wo bleibt die Erinnerung, wenn alles im Fluss ist?  Unbeständigkeit ist das Leitmotiv in Adam Randalls trickreichem Horrorfilm "I See You".


Vietnam hat seinen eigenen Schöpfungsmythos: Der Legende zufolge wurden die Hundert Viet geboren als Kinder des Drachenkönigs und einer Fee, der Bergtochter An Co, die eine Handvoll Erde schluckte und danach zu schwer war, um wieder in den Himmel aufzusteigen. Ihre Tränen bildeten die Myriaden von Flüssen, die sich durch das Land ziehen und mit ihren Fluten überschwemmen. Alles in Vietnam ist Berg oder Wasser, aufsteigender Drache oder stürzender Drache. Die großen Städte Hanoi, Hue und Ho-Chi-Minh-Stadt sind eigentlich Wasserwelten, schwankende Mobiles am Roten Fluss, am Parfümfluss und am Mekong. Alles ist Fluss: Die Stadt, das Land, die Erinnerung.

In ihrem lyrischen Essayfilm "Forgetting Vietnam" beschwört die amerikanische Filmemacherin Trinh Minh-ha visuell überbordend das Land der tausend Quellen: In der Halong-Bucht schaukeln malerisch die Ausflugsboote, in den Deltas der großen Ströme drängen sich die Dschunken unzähliger Fischer und Händlerinnen. Der Fluss ist nicht nur die Lebensader der Städte, sondern auch ihre schwankende Bühne, auf der es ein fragiles Gleichgewicht zu halten gilt. Wie im Wasserpuppentheater. Auf den überfluteten Feldern arbeiten die Reispflückerinnen wie seit Urzeiten, der Wasserbüffel steht unbewegt als männliches, machtvolles Symbol für Tapferkeit und Wohlstand. Vor dem sanft ruhenden Buddha fegen die Mönche den Hof. Es sind betörende Bilder, die Trinh an einem vorbeirauschen lässt wie die Boote auf dem Mekong, zu den Klängen traditioneller Musik oder moderner Schlager, ohne Worte.

Stattdessen blendet sie fortlaufen Fragen und Gedankensplitter ein, Sprichwörter oder Gedichtzeilen vietnamesischer Autoren. Bewegung und Vergessen sind die Motive, um die herum Trinh ihre Assoziationen gruppiert. Wenn alles im Fluss ist, fragt Trinh, wo bleibt dann die Erinnerung? Wie erinnert sich das Land? An seine Geschichte, seine Toten, die Erfahrung des Kriegs? Der Vietnamkrieg ist zum weltweiten Synonym geworden für gescheiterte imperiale Ambitionen, doch die vietnamesische Erfahrung selbst bleibt ausgeblendet aus dem Gedächtnis der Welt. Obewohl doch eigentlich der Sieger die Geschichte schreiben soll. Auch im Land selbst zeigen sich die Spuren von Trauer und Leid nicht unmittelbar. Kann sich die Erde erinnern? Trägt sie die Narben und die Risse und das Gift in sich?



Trinhs Film ist eine Meditation über die Erinnerung und das Vergessen, das Überleben und Träumen vierzig Jahre nach dem Ende des Vietnamkriegs. Körnige Video-Aufnahmen von 1995 fügen sich in hochaufgelöste Bilder von 2012. Porträts der Getöteten und Verschwundenen legen sich über den Strom der Bilder. In Textkaskaden fließen Überlegungen und Reflexionen durch den Film, die in der Geschwindigkeit und aufgrund abrupter Richtungswechsel kaum zu erfassen sind, zumindest nicht für europäische Betrachter. Vom Günstlingssozialismus geht es zur weiblichen Ökonomie des fliegenden Handels, von der Vergnügungsindustrie des ehemaligen Saigon zur Erneuerung des religiösen Lebens. Streng mahnen Schilder in der Pagode: "Ohne Spenden werden Gebete nicht erhört werden!"

Trinh reiht in ihrer kunstvoller Montage Bilder und Gedanken in einem fantastischen Rhythmus aneinander, der Film ist Meditation und Requiem zugleich, Klagegesang und Wasserspiel. So recht will sich das nicht zu einem geschlossenen Ganzen fügen. Trinhs Blick bleibt bei aller Genauigkeit ein Blick von außen. Die in Berkeley lehrende Theoretikerin reist erkennbar als Besucherin durch das Land. Sie beobachtet im Tempel die Anbetung der Ahnen, sucht die Stätten verheerender Schlachten auf und erfährt, wie Schulkinder noch immer zu Höchstleistungen ermuntert werden: "Lerne, indem du Onkel Hos Tugenden folgst." Er hypnotisiert und überfordert. Eine Erfahrung in Blindheit.

Das Berliner Arsenal Kino zeigt den Film in seinem Streaming-Angebot im Rahmen des digitalen Latitude-Festival, mit dem das Goethe-Institut die gerade gleißend auflodernde Diskussion um Identität, postkoloniale Strukturen und widerstreitende Erinnerungskulturen aufgreift. Das von Karina Grifftith kuratierte Filmprogramm versammelt unter dem Titel "Camera Memory for Human Forgetfulness" Arbeiten von FilmemacherInnen aus dem Süden, die sich zu einem Gegengesang fügen sollen: Handgemalte Filmporträts großer Aktivistinnen, ein queer indigenes Roadmovie oder das intime Lamento "Mother I'm Suffocating, This is my Last Film About You", mit dem der in Berlin lebende Filmemacher Lemohang Jeremiah Mosese so pittoresk wie verzweifelt Abschied von Lesotho nimmt, seinem verarmten, homophoben und religiös aufgeputschten Heimatland.

Thekla Dannenberg

Forgetting Vietnam - USA/Vietnam 2015 - Regie: Trinh T. Minh-ha - 90 Minuten.

"Forgetting Vietnam" und die anderen Fime des Latitude-Programms im Online-Angebot des Arsenal. Mehr Informationen beim Goetheinstitut. Am 5. Juni diskutieren die Filmemacherinnen Émilie B. Guerétte (Montreal), Sabrina Fidalgo (Brasilien), Graciela Guarani (Brasilien) und Peggy Nkunga Ndona (Kongo/Kannada) über "Feministische und dekoloniale Allianzen im Kino". Von 17.15 Uhr bis 18 Uhr. Mehr dazu hier.

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Während die Pfannkuchen in der Pfanne brutzeln, hält Ehefrau und Mutter Jackie Harper (Helen Hunt) für einen kurzen Moment inne. Ihr ohnehin schon fast maskenhaft glattes Gesicht friert noch mehr ein, als würde ein beängstigender Gedanke sie lähmen. Die Kamera nähert sich ihr zwar, aber es bleibt unklar, was Jackie gerade beschäftigt. Das Paradox, das sich hier offenbart, ist bezeichnend für Adam Randalls "I See You" und lässt sich am besten mit dem Verb des Titels beschreiben. Wenn man im Englischen "I see" sagt, erklärt man nicht nur, dass man etwas sieht, sondern signalisiert auch Verständnis. In Randalls Film wird diese Doppeldeutigkeit gewissermaßen zum paradoxen Grundprinzip: Nur weil wir als Zuschauer etwas beobachten, heißt das noch lange nicht, dass wir es auch richtig einordnen.

Wir befinden uns in einer heilen Kleinstadtwelt, in der die Häuser akkurat nebeneinander gebaut wurden und Kinder wie in einer nostalgischen 60er-Jahre-Fantasie ungeduldig am Eiswagen anstehen. Lediglich der dröhnende Soundtrack legt eine vorläufig unbekannte Bedrohung nahe. Zunächst ist da ein Familiendrama: Weil Jackie eine Affäre hatte, wird sie von ihrem Mann Greg (John Tenney) und ihrem Sohn Connor (Judah Harper) mit eisiger Verachtung gestraft. Außerdem muss Polizist Greg den Fall eines spurlos verschwundenen Jungen lösen, der Erinnerungen an eine Missbrauchsserie aus der Vergangenheit wachruft. Und dann passieren auch noch seltsame Dinge im Haus der Harpers: Das Silberbesteck verschwindet, der Fernseher schaltet sich von alleine ein und die Kamera fährt durch die Räume des großbürgerlichen, unheilvoll beleuchteten Hauses als wäre sie ein ungebetener Gast.



Spätestens wenn Randall nach der Hälfte des Films die Perspektive wechselt und sich der "Präsenz" widmet, die sich bei den Harpers eingenistet hat, laufen diese drei Bedrohungsszenarien langsam zusammen. Doch auch weiterhin gilt, dass jede Beobachtung nur ein Wirklichkeitsausschnitt ist, der sich erst richtig interpretieren lässt, wenn man den Kontext kennt. Gleich zu Beginn sehen wir etwa den verschwundenen Jungen, wie er im Wald von einer scheinbar unsichtbaren Macht durch die Luft gewirbelt wird. Erst später entdeckt die Polizei den zwischen Bäumen gespannten Faden, der ihn zu Fall gebracht hat.

Auf den ersten Blick wirkt "I See You" wie eine Spiegelung von Ari Asters Sundance-Hit "Hereditary": Während sich der Quell des familiären Übels bei Aster letztlich im Übersinnlichen findet, löst Randall dagegen alles, das wie nicht von dieser Welt wirkt, mit rationalen, wenn auch mitunter wild konstruierten Erklärungen auf. "I See You" setzt derart exzessiv auf falsche Fährten, dass er wie ein Meta-Horrorfilm wirkt, der erst bei einem Publikum zur Vollendung kommt, das mit den verschiedenen Spielarten des Genres vertraut ist. Reihenweise triggert er Aha-Effekte, mal mit einem unbewohnten Dachzimmer, in dem sich seltsame Dinge abspielen (Haunted House), mal mit einem Pärchen, das sich selbst filmt (Found Footage), später dann auch mit einem Eindringling, der sein Gesicht hinter einer Affenmaske versteckt (Home Invasion) und den Taten eines perversen Killers (Serienmörderfilm).

Letztlich verschreibt sich Randall keiner dieser Kategorien, sondern macht die Unbeständigkeit zum Leitmotiv. Figuren begreift er als ewiges Vexierspiel, seinen Plot als Slalomfahrt um das Offensichtliche. So mechanisch wie die gleichmäßigen, blechernen Schlaggeräusche auf dem Soundtrack (William Arcane) und die abgehakt rhythmisierte Montage (Jeff Castelluccio) funktioniert der ganze Film, in dem sich jede Gewissheit konsequent als trügerisch erweist. Man kann "I See You" deshalb vorwerfen, dass er ganz von seiner Überraschungsdramaturgie her gedacht ist, aber über seine 100 Minuten bleibt der Film spannend und einfallsreich genug, dass man bei dieser Trickserei gerne zusieht.

Michael Kienzl

I See You - USA 2019 - Regie: Adam Randall - Darsteller: Helen Hunt, Jon Tenney, Judah Lewis, Owen Teague, Libe Barer - Laufzeit: 98 Minuten.