Im Kino

Echtwind und Echtwasser

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
21.05.2008. In Giuseppe Tornatores eifrig Hitchcock zitierendem Thriller "Die Unbekannte" lässt sich viel über Schaulust und Doppelmoral lernen. Steve Hudsons Melodram über Menschenschmuggel, "True North", hat im Kontrast dazu nicht viel mehr als eine Menge Wasser und filmische Unbedarftheit zu bieten.

Der erste Blick dieses Films ist ein voyeuristischer: auf halb nackte Frauen, die gemustert werden von einem Auge hinter einer Wand. Dieses Auge ist mit im Bild, als wollte der Film signalisieren: Ich identifiziere mich nicht mit diesem voyeuristischen Blick, ich analysiere ihn. Darin liegt eine Komplikation, aber auch eine Scheinheiligkeit. Denn der Film mustert diese Frauen mit einem Blick, der sich von dem des Voyeurs kaum unterscheidet, er mustert vor allem die eine, Irena (Kseniya Rappoport), die sich dann vollständig entkleidet, er wählt sie zur Hauptfigur der Geschichte, die er dann, als ihre Geschichte, erzählt - ohne, allen Sympathiebehauptungen zum Trotz, je seinen quasi-voyeuristischen Blick von ihr zu wenden.

Sie ist Ukrainerin, sie wurde jahrelang von einem italienischen Prügler, Vergewaltiger und Mädchenhändler (Michele Placido) gefangen gehalten und aufs Übelste misshandelt. Das erzählt der Film aber nicht einfach so, sondern Giuseppe Tornatore macht einen Thriller daraus, der sich und dem Betrachter diese Vorgeschichte in Flashback-Szenen nach und nach erst erschließt. Als das Geheimnnis, das die Figur zu mysteriösem Verhalten in der Gegenwart treibt, werden diese Bilder, in denen man Irena immer nur schreien, sich winden, geprügelt und missbraucht werden sieht, zum Gegenstand unseres Begehrens: Was ist geschehen? Welches Ereignis begründet ihr Handeln?

In der Gegenwart schleicht Irena sich als Haushälterin ein in eine bestens situierte Kleinfamilie: Vater, Mutter, Kind. Nicht auf Geld, wie man zunächst denkt, sondern auf das Kind, Tea (Clara Dossena), hat Irena es abgesehen. Es ist schwach, es holt sich immerzu Beulen, weil es sich nicht abfangen kann, wenn es fällt. Irena trainiert mit ihm, erwirbt sich Teas Vertrauen, argwöhnisch beobachtet von der Mutter. Dann aber wird Irena von ihrer Vergangenheit eingeholt und muss am Ende erleben, dass alles, was sie die ganze Zeit tat, auf falschen Voraussetzungen beruhte.


"Die Unbekannte" ist ein moralisch hochproblematischer und darum, so unsympathisch er ist, als Untersuchungsobjekt ein faszinierender Film. Die von Tornatore in die Verdeckung seines Voyeurismus gesteckte Energie ist beinahe so exzessiv wie die Gewalt, die nicht nicht zu zeigen ihm unübersehbar gefällt. Der Film lebt die Lust an der Misshandlung, ohne sich das natürlich einzugestehen, immer wieder aus - nicht zuletzt in einer brutalen Prügelszene. Er behandelt sein Material mit Messers Schneide, unterstützt auch durch einen Soundtrack von Ennio Morricone, der wie Tornatores Regie selbst an Überdeutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Anders als es Moralisten wie Michael Haneke oder Ulrich Seidl tun, gewährt er dem Zuschauer aber nie eine halbwegs gesicherte ethische und emotionale Distanz. In seinen - oft gelungenen - Spannungseffekten und der - oft überzeugenden - manierierten Mise-en-Scene bewegt er sich vielmehr stets in der Nähe zu den Gialli-Reißern der Siebziger Jahre und ihrer ausgestellten Lust an der verbotenen Lust.

Allerdings hütet er sich, im Gegensatz zu diesen, diese Lust wirklich auszustellen. Hinterrücks holt er sich die Erlaubnis, zu zeigen, was er zeigt, über die Dignität seines behaupteten Anliegens. Diese eiskalte Doppelmoral - Lust am Effekt, vorgeschützter moralischer Impetus - reflektiert er (anders als etwa Hitchcock oder auf seine Weise Brian De Palma) nicht, aber er führt sie vor. Und er macht sie, was noch einmal etwas anderes ist, für den Zuschauer am eigenen Körper spürbar: Man möchte, in derselben Bewegung und Regung, hin- und wegsehen zugleich. Man ist gepackt und angewidert, man empfindet eine Lust des Zusehens, von der man weiß, dass sie sich nicht gehört.

Verwerflich aber ist das Genießen der verbotenen Schaulust nicht so sehr - und anders als die offizielle Kinomoral sich das denkt - in den ganz ungeschützten und handwerklich ihre Mittel stets vorzeigenden Gialli der siebziger Jahre. Wirklich unangenehm, weil verlogen, wird es erst in Werken wie "Die Unbekannte", wenn ein Könner wie Tornatore in den Schaulust-Apparat des Kinos zum Schein einen sicheren Boden einzieht, als gute Absicht, die die krassen Mittel dann heiligt. In Italien haben ihm die zuständigen Stellen das abgenommen: Sein Film wurde mit Preisen überschüttet, er wurde als italienischer Beitrag für den Auslands-Oscar eingereicht (und kam unter die letzten neun). Ein spannender Gegenstand für symptomatische Lektüren psychosozialer Verhältnisse.

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Die Lage für den schottischen Fischfänger "Providence" ist düster, wenn nicht aussichtslos. Die Fische bleiben aus, die Rechnungen bleiben offen - und so bleibt dem Maat Sean (Martin Compton) nichts anderes übrig, als beim Landaufenthalt auf dem europäischen Festland einen Mann aufzusuchen, der Schmuggelware für die Fahrt zu den britischen Inseln organisiert. Sean denkt an Zigaretten, der deutsche Hintermann (gespielt von Hark Bohm) aber nicht. Er hat Menschenmaterial aus China, das illegal nach Großbritannien einreisen will.

Sean nimmt die Chinesen heimlich an Bord, sagt seinem Vater (Gary Lewis), dem Kapitän des Bootes, aber nicht Bescheid. Eingeweiht wird nur der raubeinige Fischer Riley, der sich bei Huren herumtreibt, der ein grobe Sprache spricht, der auf dem Schiff Pornos schaut und dem Peter Mullan das verleiht, was man unter uns Rampensäuen so Leben nennt: Es rüttelt ihn, es schüttelt ihn, er lacht und weint und trinkt und fischt zum Stein- und Beinerweichen. Womit klar sein sollte: Dieser Riley ist im Grunde seines Herzens doch ein feiner Kerl. Nämliches gilt womöglich auch für den vierten Mann im Boot, den intellektuell anders begabten und schrecklich verklemmten Smutje (Steven Robertson).

Auch er bekommt im Kammerspiel eine wichtige Rolle. Ihm nämlich ist die Entdeckung der blinden Passagierin Su Li (Angel Li) vorbehalten. Das kleine Mädchen gehört zum Schmuggelgut, ist aber, ohne dass die Bootsmänner das merkten, ausgebüxt, als ihre Leidensgenossen unter Deck verbracht wurden. Nun versteckt sie sich hier, nascht von den Vorräten da und als der Smutje ihr dann auf die Schliche kommt, muss sie sich ausziehen und ein Bad nehmen und man denkt, dass das Drehbuch, das unter Einsatz eines angelaufenen Spiegels mit versteckten pädophilen Neigungen des Kochs spielt, nicht ganz bei Trost ist.


Dabei meint "True North" es nur gut. Der Film, das Regie- und Drehbuchdebüt des "Verbotene Liebe"-Darstellers Steve Hudson, macht mächtig Wind, Wasser, Wellen - und vor allem Tragödie. Den Chinesen unter Deck geht es zusehends schlechter. Einer wird schwer krank und dann stirbt er . Sean muss seinem Vater das Geheimnis beichten und der zieht seine Konsequenzen. In erster Linie ist "True North" einfach unbedarft, ein filmisches Malen nach Zahlen, ein Melodram aus dem Drehbuch-Workshop. Der Film will nur: betroffen machen, ein wichtiges Thema (Menschenschmuggel) spannend vorführen, eine düstere Geschichte erzählen, die zu Herzen geht. Die ästhetischen Mittel, die Giuseppe Tornatore zur Verfügung stehen, besitzt er - im Guten wie im Bösen - bei weitem nicht. Er will hinaus auf nichts als Echtwasser, Echtwind und Echttrauerspiel. Dabei hat er im Grunde nur eins: im Kino echt nichts verloren.

Die Unbekannte. Italien 2006 - Originaltitel: La sconosciuta - Regie: Giuseppe Tornatore - Darsteller: Xenia Rappoport, Michele Placido, Claudia Gerini, Margherita Buy, Pierfrancesco Favino, Piera Degli Esposti, Clara Dossena.

True North. Großbritannien / Deutschland / Irland 2006 - Regie: Steve Hudson - Darsteller: Peter Mullan, Martin Compston, Gary Lewis, Angel Li, Steven Robertson, Hark Bohm, Pat Kiernan, Shi Ming, Ren Hao, Wang Li Jun, Anna Breuer