Im Kino

Adoleszenter Schöpferenthusiasmus

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Nikolaus Perneczky
08.12.2015. Ein Chaos, nach dem man die Uhr stellen kann, entwirft Noah Baumbach in seiner klug metafiktionalen Komödie "Mistress America". Jacques Audiard versucht in seinem mit der goldenen Palme ausgezeichnetes Flüchtlingsdrama "Dheepan" eine sozialrealistische Aneignung des Genrefilms.


Tracy Fishko (Lola Kirke) kommt fürs Literaturstudium nach New York, aus New Jersey. (Ich stelle mir vor: wie wenn man von Niederösterreich nach Wien kommt, oder aus Brandenburg nach Berlin.) Dass sie schreiben will, macht alles nur noch dringlicher, aber auch ohne dieses spezielle Begehren wäre die Sache ausgemacht: Tracy muss sich in der neuen Stadt, in der Rolle der frischgebackenen Studentin und angehenden Schriftstellerin erst noch erfinden. Das Material indes, das die ersten Collegeerfahrungen hergeben, ist dürftig. Tracy hat Ankomm- und Akklimatisierungsprobleme, im Proseminar zu Euripides' Antigone schläft sie ein. Unterwegs zu einer dorm party, zu der sie niemand eingeladen hat, macht sie auf dem Absatz kehrt, einen Schnitt später sitzt sie im Burgerladen und stochert einsam in Lebensmittelresten. (Solche beschleunigenden Schnitte gibt es auffallend viele in der ersten Dreiviertelstunde von "Mistress America", die sich oft wie eine einzige, von Suicides "Dream Baby Dream" unterspülte Montagesequenz anfühlt.)

Dann die rettende Idee, sie ruft ihre Halbschwester in spe Brooke (Greta Gerwig) an, von der sie schon so viel gehört hat: eine eingefleischte New Yorkerin, die selbstbestimmt und - mit einem von vielen sprachlichen Manierismen, die Noah Baumbach sich bei Whit Stillman abgehört haben mag - voller "moxie" (lt. Merriam-Webster: Aktivität, Mut, Entschlossenheit) mitten im romantischen Großstadtleben steht. So jedenfalls schildert Tracy ihre ersten Eindrücke nach einer gemeinsam durchzechten Nacht (und dann noch einer). Schon nach der ersten ungelenken Begegnung mit Brooke ist klar, dass Tracys haltlose Begeisterung anteilig Wunschdenken ist. Dennoch wirkt die Zeit, die sie mit Brooke verbringt, aufregend anregend auf Tracys literarische Ambitionen: Brooke lebt ein Leben, über das zu schreiben sich lohnt.

Um Geld zu beschaffen für einen geplatzten Immobiliendeal zieht es Brooke ins suburbane Luxusdomizil ihrer ehemaligen Freundin und nunmehrigen "Nemesis" Mamie-Claire, die Brookes "T-shirt idea", ihre zwei Katzen und ihren gestopften Ex Dylan "gestohlen" haben soll. Im Schlepptau nicht nur die Chronistin Tracy, sondern auch deren College-Freund Tony, der als einziger ein Auto besitzt und dessen eifersüchtige Freundin Nicolette - sie war im erwähnten Proseminar als diejenige Diskutantin aufgefallen, die am wenigsten Verständnis für Antigones widerrechtliches Handeln aufzubringen vermochte: "She thinks she's above the law but she's not! Like a celebrity in a car crash or something." In Mamie-Claires Residenz, einem modernistischen Bau, der über schier ununterbrochene Glasfassaden mit der winterlichen Waldlandschaft draußen kommuniziert, warten weitere Mitspieler: ein schlecht gelaunter Nachbar, von dem wir, außer dass er Kinderarzt ist und leicht zu hinken scheint, fast nichts erfahren, geleitet Brooke und Anhang zur Tür. Im Wohnzimmer ein offensichtlich eingeschliffener Lektürekreis bestehend ausschließlich aus Hochschwangeren, diese Woche zu lesen: William Faulkners "The Hamlet" und "a junky Derrida biography" ("Holy shit, these pregnant women are super smart!"), während im Bildhintergrund - absichtsvoll marginalisiert - die vermutlich hispanische Haushaltshilfe hin und her huscht.



In diesem Setting kommt "Mistress America" so richtig auf Touren, lässt Baumbach die Rohmer-Spontanismen hinter sich und entführt uns in Richtung der artifiziellen Bühnenwelten, in denen der späte Resnais sich eingerichtet hatte. Die sprachlichen Manierismen und Verhaltensauffälligkeiten, die eigentlich alle Figuren auszeichnen, emanzipieren sich von ihrer narrativen Indienstnahme, tendieren zum reinen Spiel, das Soziale löst sich auf in Bewegungen und Gesten, vielleicht dem Tanz näher als dem Theater; nahe auch dem klassischen Hollywoodkino, vor allem in der mise-en-scène: in der Präzision, mit der Baumbach bewegliche Körper auf begrenztem Raum erst in Stellung und dann planvoll aus dem Gleichgewicht bringt; im virtuosen, haargenau getakteten und geblockten Durcheinander dieser Zufallsgemeinschaft - ein Chaos, nach dem man die Uhr stellen kann.

"Brooke Cardinas", "Mamie-Claire", "Dylan" gehören schon ihren wohlerzogenen Namen nach zu einer anderen Welt als "Tracy Fishko"; sie sind handelnde Akteure ihres eigenen Lebens - oder kommen Tracy zunächst so vor. Nicht weil Tracy, jung und unerfahren, blind wäre für die tatsächlich komplexeren Wirklichkeiten, die zu diesen Namen gehören - die Abgründe sind von Anbeginn offensichtlich, müssen nicht erst im Rahmen einer Bildungs- bzw. Desillusionierungsgeschichte entdeckt werden - sondern aus übereifriger Liebe zur Fiktion(alisierung). Deren Eigenlogik, einmal angestoßen, muss Tracy folgen, um sich an die andere große Fiktion heranzuschreiben, die ihr Leben bestimmt: Schriftstellerin zu werden. Hier streift "Mistress America" ans literarische Genre des confessional, an zeitgenössische romans à clef, die ihre realweltlichen Referenten (Lena Dunhams kleine Schwester, Karl Ove Knausgårds Ehefrauen) nicht oder nur eingeschränkt verschlüsseln, und die in dieser programmatischen Rücksichtslosigkeit umso deutlicher auf die ethischen Verbindlichkeiten zurückverweisen, die mit allem Schreiben einhergehen.



Schön auf alle Fälle, dass Baumbach keine Antwort weiß auf die Frage, wieviel Wirklichkeit man unter welchen Bedingungen belehnen darf oder soll. Gemeinsam mit Tracy ereifert sich der Film erst für eine idealisierende und dann, in logischer Entwicklung, für eine enttäuschte Sicht auf Greta Gerwigs große Möchtegernschwester. Der Umschwung vom einen Modus zum anderen erfolgt völlig unvermittelt, bleibt unvollständig und anfällig für Rückfälle. Das liegt daran, dass er seinen Grund nicht in irgendeiner realen Erkenntnis oder Erfahrung hat, sondern allein aus der Art Geschichte erforderlich wird, an der Tracy schreibt - an der sie schreibt, um zur Schreibenden zu werden, aber auch um sich mit dem fertigen Text für die prestigeträchtige Mobius Literature Society zu empfehlen. Tracys Fabulierwut und jene des Films verstellen nicht den Blick, sondern schärfen ihn; dass hier jemand zugreift auf - eingreift in - die Wirklichkeit in bestimmter, eben formender Absicht, davon hat "Mistress America" ein geschärftes Bewusstsein, das all seinen adoleszenten Schöpferenthusiasmus begleitet.

Dass Brooke am Ende weg muss aus New York, wird dort kaum jemand auffallen. Für angehende Schriftsteller wie Tracy Fishko (und vielleicht für arrivierte Filmemacher wie Noah Baumbach, wobei: ihm bleibt ja Greta Gerwig), deren Arbeit von ihren und ihresgleichen Energien zehrt, ist es allerdings ein wirkliches Problem. Tracy: "It's going to be hard for me not to look at New York and think of you somewhere in it." Die soziologischen Untertöne, die am Ende des Films doch noch einmal lauter werden, weisen in Richtung einer Kritik am gegenwärtigen New York, der stetig schrumpfenden Möglichkeiten, die es Menschen wie Brooke noch bietet. Andererseits: Sollen wir verplanten, nicht erwachsen werden wollenden Mittdreißiger uns wirklich wiedererkennen im romantischen Schlussakkord von Tracys Kurzgeschichte, der Brooke stellvertretend für ihre Generation als "last cowboy" besingt, "all romance and failure"? In noch einer Hinsicht erneuert Baumbauch sein zuletzt ein bisschen im Leerlauf drehendes Werk: die Greenbergs und Frances Has, die den früheren Filmen ihren Stempel aufdrückten, treten nicht mehr als sie selbst auf, sondern als Projektionsfiguren für eine nachfolgende Generation, mitsamt der Missverständnisse und Verfehlungen, die bei diesem Vorgang notwendig sich einstellen.

Im Metanarrativ wirft Baumbach die Frage auf, in welchen erzählerischen Formen und Formaten sich Lebensläufe wie Brookes überhaupt sinnfällig binden lassen - ohne ihnen Unrecht oder Gewalt anzutun. Tracys Kurzgeschichte, die denselben Titel trägt wie der Film - ein Titel, den sie Brooke gestohlen hat (wie zuvor Mamie-Claire Brookes Katzen und Boyfriend) - wird ihr den sehnlich gehegten Wunsch, in die studentische Literature Society aufgenommen zu werden, endlich erfüllen. Aber sie will schon gar nicht mehr dazugehören.

Nikolaus Perneczky

Mistress America - USA 2015 - Regie: Noah Baumbach - Darsteller: Lola Kirke, Greta Gerwig, Heather Claire, Matthew Shear, Adrea Teasdale, Jasmine Cephas Jones - Laufzeit: 84 Minuten.

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Es gibt einen verlockenden, futuristischen und äußerst fragwürdigen Gedanken von Guillaume Appolinaire, der bemerkte, dass ein abstürzendes Flugzeug gleich einer Sternschnuppe sei. Wenn man sich die Aussagen von Jacques Audiard dieser Tage durchliest oder seine Flüchtlings-Fantasie "Dheepan" anschaut, dann beschleicht einen ein ähnlich mulmiges Gefühl. Der Unterschied scheint lediglich zu sein, dass es bei Audiard nichts gibt, was man mit der Schönheit einer Sternschnuppe vergleichen könnte.

Stattdessen bewegt sich der Franzose, der für den Film in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, auf gewohntem Gebiet. "Dheepan" ist eine sozialrealistische Aneignung amerikanischer Genres, in diesem Fall einer Mixtur des Westerns, des Gangsterfilms und des Post-Vietnam Films. Im Zentrum der Handlung steht eine Familie, die gar keine ist. Ein Vater, eine Mutter und eine Tochter, die sich als Familie ausgeben müssen, damit sie das Kriegsgebiet in Sri Lanka verlassen können und um ihre Chancen in einem Asylverfahren zu steigern. Sie fliehen nach Frankreich. Der Protagonist Dheepan (Antonythasan Jesuthasan) ist ein Krieger mit psychologischen Narben, in ihm brodelt die Gewalt. Angekommen in Frankreich entwickelt Audiard mehrere Konfliktlinien: Zum einen die Lüge dieser Familie, die zu sich finden muss. Zum anderen die Banlieu, in der Dheepan beginnt, als Hausmeister zu arbeiten und wo Yalini (Kalieaswari Srinivasan), die er als seine Ehefrau ausgibt, eine Stelle als Haushälterin annimmt. Sie arbeitet im Haus eines Bandenchefs, der mitten in einem tödlichen Drogenkrieg steckt. Nach und nach beginnt sich Dheepan gegen die Ungerechtigkeiten im Wohnblock zu wehren, von denen natürlich auch Yalini betroffen ist. Eine Symphonie der sozialen Ungerechtigkeit und Angst, zuerst mit Themen überfrachtet und dann in eine Genrekonstruktionen gepresst, sodass letztlich nichts erzählt und keine Perspektive geöffnet wird.

Man kann nicht leugnen, dass Audiard den Genreenzählungen, die er wählt, inszenatorisch gewachsen ist. Wie schon in "Un prophète" oder "De battre mon coeur s'est arrêté" erzeugt er Dynamik und Spannung, die nahe geht. Aufstieg und Fall, die Blickstrukturen aufgelöst durch labyrinthische Treppenhäuser, Gestalten auf Dächern und neugieriges Spähen durch Fenster. Eine Welt, die sich durch das offenbart, was man sehen kann, und die durch das vernichtet wird, was man nicht sehen kann. So hält der Filmemacher wenig subtil den Augenblick des nahenden Todes in einer Nahaufnahme auf einer Pupille fest, die diesen Tod kommen sieht. Es entsteht eine Unsicherheit und Spannung, die in den besten Momenten - die sich zwischen Yalini und dem jungen Gangster Brahim (Vincent Rottiers) abspielen - eine enorme Präsenz entfaltet. Allerdings leidet die Sinnlichkeit früherer Audiard-Filme am Wechsel von Kameramann Stéphane Fontaine zur Newcomerin Éponine Momenceau. Alles wirkt sauberer und weniger aus dem Leben gegriffen. Dennoch bleibt es faszinierend, den grandios gecasteten Darstellern, bei denen es sich zum Teil um Laien handelt, in diesen Strudel der Gewalt zu folgen, aus dem sie eigentlich geflüchtet sind.



Die handwerklich ansprechend umgesetzten Genreklischees treffen allerdings auf einen politisch akuten Sozialrealismus: Die Figuren müssen mit den Lebensumständen, der Fremde des Banlieus und mit ihrem eigenen Identitätsverlust kämpfen. Die Bilder stehen im beständigen Wettrennen mit der politischen Realität, die nicht nur Frankreich in diesen Monaten zu schaffen macht. Es ist nicht zwangsläufig ein Problem, wenn Filmemacher durch Genreerzählungen etwas über die soziale Realität aussagen wollen, ganz im Gegenteil, aber die Vermischung der narrativen Muster, die keineswegs abstrakte, sondern ziemlich direkte Ausschlachtung von Themen, Bildern und Gewalt, hat etwas abstoßendes an sich.

Nun mag man entgegnen, dass Audiard keinen Film über Flüchtlinge als Krieger gemacht hat, die früher oder später einen Amoklauf starten, um für ein gerechtes Frankreich zu kämpfen. Sondern nur einen über einen konkreten Fall und über ein Individuum. Außerdem kann er sich polemischer Zuspitzungen enthalten, weil Sri Lanka derzeit nicht weltweit im Fokus steht und Religion im Film keine größere Rolle spielt. Audiard macht in erster Linie einen Film und keine Politik. Man kann den Film durchaus von dieser Seite betrachten, dann aber muss man sich fragen, ob der soziale Realismus, die sentimentalen Szenen in der Schule, bei der Arbeit oder beim Asylamt im Genrekontext glaubwürdig sind. In solchen dramatischen Szenen gelingt es Audiard kaum, ein echtes Gefühl zu erzeugen. Ganz zu Schweigen vom Paradies England, das am Ende des Films ohne eine Spur von Ironie oder subversiver Frechheit erreicht wird. Die Fiktion, die ein neues Licht auf die Realität werfen könnte, wird ständig mit Realismus vergiftet, sodass sie als Fiktion wie als Spiegel der Realität einer Lüge gleichkommt.

Patrick Holzapfel

Dheepan - Frankreich 2015 - Regie: Jacques Audiard - Darsteller: Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincent Rottiers, Marc Zinga - Laufzeit: 109 Minuten.