Heute in den Feuilletons

Konzentration. Reduktion. Meisterschaft

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2011. Wenn unsere Politiker glauben, dass es Sinn hätte, unser politisches System retten zu wollen, dann ist das utopisches Denken, meint John Gray in der SZ. Warum beschäftigt sich das deutsche Kino lieber mit Hitler und Baader als mit aktuellen Problemen wie etwa heutigen Rechtsradikalen?, fragt die taz. Die NZZ beklagt die Verzwergung der Gedächtniskirche. Und der Freitag fordert Open Science und ein Ende der Einsamkeit in der Forschung.

TAZ, 18.11.2011

Warum, fragt Bert Rebhandl, befasst sich das deutsche Mainstreamkino eigentlich so viel mit Nationalsozialismus und Linksterrorismus, also Hitler und Baader, nicht ab ermit Rechtsradikalismus? Seine Vermutung: "Erstens handelt es sich dabei um Themen, die vermeintlich schon zu Ende interpretiert sind, sodass es zu Filmen wie 'Der Untergang' oder 'Der Baader Meinhof Komplex' kommen konnte, die so tun, als wäre alles 'so gewesen'... Zweitens erlauben diese Themen eine wohlfeile Form von politischer 'Unkorrektheit' - man kann sich leicht über Hitler und im Grunde auch über Baader lustig machen, weil sie so lange ohnehin gebührend ernst genommen wurden. Einen ostdeutschen Rechtsradikalen hingegen so ins Bild zu rücken, dass Empathie nicht als Zustimmung missverstanden wird und Distanz nicht als Bloßstellung, erfordert ungleich subtilere Mittel und eine politische 'Korrektheit', die immer eine Gratwanderung sein wird."

Weiteres: Katrin Bettina Müller kann den Zorn über Vivien Steins hässlich Attacke gegen Heinz Berggruen gut verstehen: "Anfang November hielt eine Studie fest, dass etwa 20 Prozent der Deutschen einem latenten Antisemitismus anhängen, eine Woche später folgte die skandalöse Geschichte einer jahrelang mordenden Neonazi-Gang in Deutschland.Vor diesem Hintergrund ist das Erschrecken über den Versuch, den Kunsthändler und Sammler mit Wertungen zu belegen, die antijüdische Klischees bedienen können, besonders laut geworden."

Elias Kreuzmair untersucht die künsterische Weiterentwicklung von US-Laptop-Künstlern uns stellt neue Chillwave-Alben von Toro Y Moi, Neon Indian, Memory Tapes und Washed Out vor. Besprochen werden Krautrock-Alben von Like A Stuntman und Agitation Free.

Und Tom.

FR/Berliner, 18.11.2011

Vor einem Jahr hat die Autorin Jagoda Marinic noch für Meinungsfreiheit auch für Rechtsextreme plädiert. Die demokratische Mitte sei stark genug, um Ausländerfeindlichkeit mit Argumenten zu begegnen. Das sieht sie heute nicht mehr so: "Seit dieser Woche steht kein Mensch mit Migrationshinter- oder -vordergrund, ob er will oder nicht, so da wie vorher in diesem Land. Das liegt nicht nur an den offenen Fragen an den Verfassungsschutz, wie es manche nun gerne behaupten. Es liegt an dem erstarkten Bewusstsein, dass hier Menschen ausreichend Hass gegen Minderheiten züchten, um auf offener Straße zu töten."

Anlässlich der großen Retrospektive im Frankfurter MMK feiert Peter Michalzik "Wucht, Brillanz und Intelligenz" des Videokünstlers Douglas Gordon und seines Zinedine-Zidane-Films "Un portrait du 21e siecle". Robert Rotifer befragt Michael Stipe und Mike Mills zur Auflösung von R.E.M und Occupy Wall Street.

NZZ, 18.11.2011

Jürgen Tietz beschwört noch einmal die einstige Eleganz und Verruchtheit des Kurfürstendamms, der nach 125 Jahren wieder einmal eine Renaissance durchlebt - auch wenn Geld und Visionen fehlten: "Es dauerte ein Jahrzehnt, ehe es jetzt mit dem 118 Meter hohen Zoo-Fenster von Christoph Mäckler wirklich richtig hoch hinaus geht. Im kommenden Frühjahr eröffnet in dem Hochhaus, das an Walter Gropius' legendären Entwurf für die Chicago Tribune von 1922 erinnert, das Waldorf-Astoria-Hotel. Gleich nebenan entsteht ein weiteres 120 Meter hohes Haus, das die Verzwergung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche endgültig besiegelt. Gleichwohl ist sich die aus der Schweiz stammende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher gewiss: 'Die City West wird nicht zum Manhattan Berlins.'"

Weiteres: Joachim Güntner warnt davor, das durchaus überfällige Gedenken an den Hitler-Attentäter Georg Elser jetzt durch Überschwang zu entwerten. Jonathan Fischer stellt die libanesische Rapperin Malikah vor. Besprochen werden unter anderem Werner Düggelins Aufführung von Ionescos "Die Unterrichtsstunde" in Basel und das Album "Reverie" des amerikanischen Singer/Songwriters Joe Henry.

Welt, 18.11.2011

In Amerika ist ein Streit zwischen Obama und den Republikaner um Theodore Roosevelt entbrannt, schreibt Wolf Lepenies und erläutert: "1895 veröffentlichte Theodore Roosevelt in der New Yorker Zeitschrift The Forum einen Essay mit dem Titel 'American Ideals'... Auf seine 'amerikanischen Ideale' können sich heute die republikanischen Gegner Obamas ebenso berufen wie der Präsident. Roosevelts Zorn richtet sich gegen die 'gefährlichen Kriminellen der wohlhabenden Klasse'. An ihrer Spitze stand der rücksichtslose Börsenspekulant, der es zu Reichtum gebracht hatte. Er richtete durch seine ungebremste Gier einen viel größeren Schaden an als der 'durchschnittliche Mörder oder Bandit'."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr findet es gar nicht so übel, dass Klaus Wowereit weiter sein eigener Kultursenator bleibt. In seiner Feuilletonkolumne schreibt Marc Reichwein über die in den Zeitungen beliebten Modewörter "Reloaded" und "Revisited". Lucas Wiegelmann berichtet, dass die Stadt Bonn nun eventuell doch noch einen Konzertsaal bauen lassen will. Und Hanns-Georg Rodek liest ein Buch über die Frage, ob der Filmregisseur Herbert Selpin im Jahr 1942 ermordet wurde.

Im Forum verweisen Maxeiner und Miersch trotz Intervention des srilankesischen Botschafters ein zweites Mal auf einen Channel 4-Film über Massaker am Ende des Bürgerkriegs, für die die jetzige Regierung verantwortlich sein soll.

Besprochen werden ein Konzert James Blakes in Berlin (Kolja Reichert diagnostiziert auf "Konzentration. Reduktion. Meisterschaft.") und die neue Hängung im Frankfurter Städelmuseum.

Freitag, 18.11.2011

Der Wissenschaftsberater Ulrich Herb denkt darüber nach, wie Open Science aussehen kann - vor allem Promotionen könnten vom "Ende der Einsamkeit" erheblich profitieren, meint er: "Die Isolation und oft verlangte Verschwiegenheit gegenüber der scientific community sabotieren die offene Diskussion von Forschungsideen und -designs mit Kollegen und verhindern letztlich auch die Verbesserung der Resultate. Das Konzept offener Forschung bewegt sich dem Promotionsablauf gegenüber diametral. Für das Polymath 1-Projekt etwa wurde via Blog für die gesamte Community und Welt das Density Hales-Jewett-Theorem zur Bearbeitung freigegeben. Ergebnis: Innerhalb weniger Wochen hatten mehr als 40 Wissenschaftler das komplexe mathematische Theorem bewiesen."

FAZ, 18.11.2011

Die Demokratiebegeisterung unter anderem Frank Schirrmachers und Jürgen Habermas' nach der kurzzeitigen Volksentscheid-Ankündigung in Griechenland kommentiert der Rechtswissenschaftler Ernst-Joachmim Mestmäcker recht trocken: "Es mag erhebend sein, den demokratischen Souverän zur Hilfe zu rufen, aber es handelt sich in Wahrheit um das demokratisch eingekleidete Eingeständnis eines politischen Versagens, das durch den Volksentscheid nur bestätigt werden kann. Das Volk soll dadurch nachträglich für eine Entwicklung in die Pflicht genommen werden, auf die es keinen entscheidenden Einfluss hatte."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay wirft einen Blick auf Spanien kurz vor der Wahl am Wochenende, wo die gegenwärtige Krise sich gerade im Kulturbereich drastisch niedergeschlagen hat. In seiner "Links"-Kolumne wundert sich Raphael Gross doch sehr über das Ernst-Jünger-Stipendium des Landes Baden-Würtemberg. Edo Reents unterzieht Angela Merkel einer Sprachkritik. Michael Radunski berichtet von Verständnisproblemen zwischen westlichen und chinesischen Literaturwissenschaftlern anhand der Frage, ob der Literaturnobelpreisträger Gao Xingjian Chinese oder Franzose sei. Patrick Bahners hat den Nachruf auf den Historiker Rudolf Vierhaus verfasst.

Besprochen werden die britische Filmkomödie "Submarine", die Ausstellung "Bauen mit Holz" im Architekturmuseum München, Werner Düggelins Inszenierung von Ionescos "La Lecon" am Theater Basel und Bücher, darunter ein Bildband mit Fotografien von Peter Handkes Wohnstube (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.11.2011

Gerade weil sie die Systemfrage stellt, eigne der Occupy-Bewegung Realitätssinn, mahnt John Gray in einem aus dem Guardian übersetzten, finsteren Artikel (hier im Original), und dies im übrigen ganz im Gegensatz zu den internationalen Politikern. Gerade ihr Denken sei utopisch und besthe darin, "die Tatsache zu leugnen, dass wir es hier mit einer Systemkrise zu tun haben. Indem sie versuchen, ein System aufrechtzuerhalten, das unter einer chronischen Dysfunktionalität leidet, erhöhen unsere Staatsoberhäupter nur die Wahrscheinlichkeit, dass es am Ende zu einem verhängnisvollen Zusammenbruch kommt."

Weitere Artikel: Jan Füchtjohann und Jens-Christian Rabe fragen, fragen, was aus dem Kunstwerk im Zeitalter seiner totalen Archivierbarkeit durch Internet geworden ist. Harald Eggebrecht beklagt die "kantenlose Harmlosigkeit" im Geigenspiel des einstmals virtuosen Wunderkindes David Garrett. Catrin Lorch schaut sich im nach langer Umbaupause wiedereröffneten Städel Museum in Frankfurt um. Jeanne Rubner lässt sich im Gespräch mit der oppositionellen Tunesierin Sihem Bensedrine beschwichtigen, dass der Wahlerfolg der Islamisten in Tunesien so tragisch nicht sein kann (in Europa gewinnen schließlich auch gelegentlich konservative Parteien). Gustav Seibt wappnet sich schon jetzt für das bevorstehende 300. Geburtstagsjahr von Friedrich dem Großen, indem er gleich mehrere Kilogramm Biografien und Sachbücher wälzt. Jürgen Schlumbohm betrauert den verstorbenen Historiker Rudolf Vierhaus.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von "Das große Welttheater" am Theater Freiburg und der Dokumentarfilm "Die große Passion" über die Passionsspiele in Oberammergau.