Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2007. In der NZZ warnt Imre Kertesz Europa eindringlich vor den Schlünden der Apokalypse und dem Verrat der Freiheit. Die SZ empfängt selig das päpstliche Sendschreiben summorum pontificum zur Wiederzulassung der lateinischen Messe. Die Welt rümpft die Nase über den Pöbel linker Ex-Nazis. In der Berliner Zeitung erklärt Kirill Petrenko die Tücken des russischen Rhythmus. In der FAZ beschreibt Hedi Slimane, wie die Form aus dem Chaos erwächst. Die FR analysiert die Durchgrübelung der Musik durch Tocotronic. Und die taz vermisst das Moment des Wandels bei Al Gores Live Earth.

NZZ, 07.07.2007

Auch die NZZ hat nun ihre Webseite modernisiert, allerdings sehr dezent. Allein die Beilage Literatur und Kunst haben wir nicht gefunden.

Glücklicherweise online zu lesen, ist das bewegende Interview, in dem Nobelpreisträger Imre Kertesz mit Jörg Plath noch einmal über die "Schlünde der Apokalypse" spricht, die sich in Europa aufgetan haben, wie er in einer Rede auf der Berliner Konferenz "Perspektive Europa" bemerkt hatte: "Ich möchte nicht politisch argumentieren. Politik ist wie Fußball: Jeder glaubt, etwas davon zu verstehen. Ich verstehe nichts von Politik. Aber ich glaube, die Schlünde haben sich nicht wieder geschlossen, auch in Jugoslawien nicht. Und sie können sich überall auftun. Diese Tage, in denen London wie unter Schock lebt, zeigen, wie verletzbar alles ist. Wie verletzbar die Zivilisation, wie verletzbar das tägliche Leben. Man muss sich der dramatischen Seite des Lebens bewusst sein. Jeden Tag, jeden Moment. Eigentlich ist Europa eine heitere, eine weise und auch eine starke Entität, seit den alten Griechen. Ich glaube, Europa vertritt etwas, was keine Zivilisation sonst vertritt: die Freiheit der Erkenntnis. Die Freiheit überhaupt. Sie darf nicht verraten werden."

Matthias Daum hat kaum mehr als Spott übrig für Al Gore heutiges "Live-Earth"-Spektakel. Für die Beilage Literatur und Kunst , die wir online leider nicht gefunden haben, besucht Andrea Köhler den Schriftsteller Richard Ford in Maine. Und Paul Andreas betrachtet die neue Museumsarchitektur in Japan.

Besprochen werden die Frida-Kahlo-Ausstellung in Mexiko-Stadt, das Festival dei Due Mondi im umbrischen Spoleto, und Bücher, darunter Jan Nerudas Reisebilder "Die Hunde von Konstantinopel", Carol Loeb Shloss' Biografie der Tänzerin und James-Joye-Tochter "Lucia Joyce" und Briefe von Virgina Woolf. (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 07.07.2007

Die ganze Aufmacher-Seite ist heute einem Rückfall gewidmet, nämlich dem Sendschreiben des Papstes, in dem dieser die auf Latein gehaltene Messe rehabilitiert. Abgedruckt wird das Schreiben selbst, in dem es unter anderem heißt: "Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein." Burkhard Müller, der an der Universität Latein unterrichtet, lobt salomonisch das Salomonische der Entscheidung: "Katholisch heißt: mit dem Blick aufs Ganze. Von diesem Ganzen stellt jedenfalls das Lateinische heute nur noch einen Teil dar; aber auch dieser Teil hat sein Recht. Wie groß und wie gelagert dieser Teil indessen zu sein hat, darin legt sich das päpstliche Schreiben nicht fest, das überlässt es der einvernehmlichen Praxis vor Ort. Das ist mehr Demokratie, als manche vom Vatikan erwartet hätten." Alexander Kissler freut sich über das Ende der "Diskriminierungen, denen sich die Anhänger der überlieferten Liturgie oft ausgesetzt sehen."

Weitere Artikel: Im Interview meint der pakistanische Publizist Ahmed Rashid über den Kampf um die Rote Moschee: "In Pakistan jedenfalls herrscht die feste Überzeugung, dass das ganze Spektakel nur eine Manipulation des Geheimdienstes ist." Andreas Zielcke bedauert, dass der Radsport wegen der Dopingskandale eine kaum mehr gutzumachende "Götterdämmerung" erlebt. Ein Urteil, demzufolge ein Meteorit dem Finder gehört und nicht dem Eigentümer des Stücks Erde, auf dem er landet, kommentiert Christine Dössel. Tobias Kniebe denkt anlässlich von "Live Earth" über das "Benefizrockertum" nach. Zum Tod der Sopranistin Regine Crespin schreibt Jörg Königsdorf.

Für die Literaturseite hat Jens-Christian Rabe den für die Kameras dieser Welt gesichtslosen, mit einem erfolgreichen Klagenfurt-Auftritt zu größerer Prominenz gelangten Popmusiker und Autor PeterLicht besucht. Rezensionen gibt es unter anderem zu Robert Alajamos Stadtporträt "Palermo sehen und sterben" und einem Band mit Gedichten des Australiers Les Murray. Petra Steinberger informiert außerdem über ein bisher nur in englischer Sprache erschienenes Buch, in dem der Vanity-Fair-Redakteur Cullen Murphy über den Vergleich zwischen Rom und den USA nachdenkt.

Besprochen werden Sydney Pollacks Film "Sketches of Frank Gehry", John Zorns römische Aufführung seiner "Masada"-Werke und die Neupräsentation der Sammlung Grässlin in St. Georgen.

Für den Aufmacher der SZ am Wochenende bereitet Marcus Jauer mit einem gefaketen Klaus-Wowereit-Tagebuch auf dessen angekündigte Autobiografie vor. Eva Karcher porträtiert den Designer Philippe Starck, der nun Kreativdirektor des ersten privaten Raumfahrtunternehmens "Virgin Galactic" ist. Katharina Koppenwallner schreibt über Kindermode-Labels. Auf der Historienseite geht es um den für die Außenpolitik des Kaiserreichs hoch bedeutsamen Geheimrat Friedrich von Holstein. Im Interview spricht Simpsons-Erfinder Matt Groening über Narren - und Thomas Pynchon, den er für dessen "Auftritt" in der Serie in New York traf: "Keiner hat mir geglaubt, denn niemand kennt Thomas Pynchon. Niemand außer mir."

Welt, 07.07.2007

In der Literarischen Welt zählt Tilmann Krause noch einmal die NSDAP-Verstrickungen anderer Schriftsteller des eher linken Spektrums wie Alfred Andersch oder Günter Eich auf. Die Gruppe 47 dechiffriert er ganz im Sinne Freuds ebenfalls über die Nazis. "Dass sie ihr eigenes Verstricktsein in Denken und Habitus des Nationalsozialismus nicht aufarbeiteten, zeigt sich vor allem bei vielen Mitgliedern der Gruppe 47: das Pöbelhafte ihrer Rituale, ihr Fremdeln vor den literarischen Emigranten, vor allem aber das Ausgrenzen von differenzierter organisierten Naturen, wie es im Umgang mit Paul Celan oder Hermann Lenz (um nur diese Namen zu nennen) zum Ausdruck kam, dieses Verharren in einer Art (Volks-) Gemeinschaftswahn zeugt davon, dass sie Freuds Gebot vom Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten nicht befolgt haben."

Weiteres: Voller Ehrfurcht besucht Wieland Freund den 92-jährigen Schriftsteller Patrick Leigh Fermor in seinem Haus in Griechenland. Im Feuilleton erklärt Hannes Stein, was Schauspielern an Scientology so gefällt. Wenn der Papst heute die lateinische Messe wieder freigibt, heißt Paul Badde das als Liberalisierung willkommen. Im Interview unterhält sich Schauspieler Robert Duvall mit Peter Beddies über Marlon Brando und das Filmgeschäft.

Besprochen wird eine Ausstellung mit "Seeestücken", also Bildern vom Meer des 20. und 21. Jahrhunderts, in der Hamburger Kunsthalle.

FR, 07.07.2007

Tobi Müller schreibt über das neue Tocotronic-Album "Kapitulation" sowie ein Konzert der Band in Zürich - und hat mit den Bandmitgliedern gesprochen, auch darüber, ob sie sich dem "Romantic conceptualism" zugehörig fühlen: "Romantik und Konzeptkunst schließen sich eigentlich aus, der Begriff hat also Sprengkraft. Schließen Tocotronic daran an? 'Nein, ich möchte die Dinge schon vom Intellekt her begreifen', sagt von Lowtzow und meint damit, dass der Hype des Romantischen gegen den Intellekt ausgespielt werde. Arne Zank: 'Es geht uns nie um das Herausstellen davon, wie bewegt wir sind von der eigenen Musik. Uns interessiert die Diskussion und Durchgrübelung der Stücke - bis zur Erschöpfung.'"

Weitere Artikel: Thomas Magenheim kommentiert den wahrscheinlichen Rückkauf der Bundesliga-Übertragungsrechte durch den Pay-TV-Sender Premiere. Peter Michalzik schreibt ein Times mager über das schöne Thema Ferien.

Besprochen werden das von 40.000 Fans besuchte Genesis-Konzert in Frankfurt , die Ausstellung "Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige" in Eisenach und Silke Scheuermanns Roman "Die Stunde zwischen Hund und Wolf".

TAZ, 07.07.2007

In den vorderen Teilen der Zeitung wird das "Live Earth"-Spektakel abgehandelt. Arno Frank ist ziemlich skeptisch: "Musiker tun, was sie immer tun - sie musizieren. Das Publikum tut, was es immer tat - es konsumiert. Die Sponsoren tun, was sie immer tun - sie profitieren. Alle tun, was sie immer tun - und daraus soll ein Wandel erwachsen?" Tobias Rapp hat nicht viel einzuwenden gegen die Veranstaltung, warnt aber: "Nur Politik kann Politik ändern. Und: Kultur ist manchmal auf der Seite des moralisch Guten und Richtigen. Oft aber auch nicht. Interessanter wird sie, wenn das nicht der Fall ist." Und Christoph Twickel findet, dass da manches durcheinander gerät: "In der Verbindung von PR und Klimaschutz verkehrt sich die Welt: Nicht wir fordern von den Konzernen Engagement, sie fordern es von uns."

Im Interview mit Christoph Schröder spricht der französische Autor Jean-Philippe Toussaint über sein Buch übers Endspiel der Fußball-WM 2006 und Zidanes Kopfstoß, den er als Verweigerung des Karriere-Happy-Ends deutet. Natascha Peleikis hat den französischen Widerstandskämpfer Andre Kirschen besucht, dem als Kommunist 1942 der Prozess gemacht wurde, der aber dem Todesurteil entging. Stefan Reinecke schreibt über die Berliner Ausstellung zur Wehrmachtsjustiz, die auch Kirschens Schicksal präsentiert. Dorothea Hahn informiert über Nicolas Sarkozy auf "Öffnung" bedachte Kulturpolitik, mit der er auch alte Forderungen der Linken aufgreift - wie etwa den kostenlosen Museumsbesuch. Bei seinem Spreebogen-Besuch, diese Woche zwischen acht und neun Uhr morgens, hat Dirk Knipphals die Bekanntschaft eines "Deeskalationsbeamten" gemacht. Auf der Meinungsseite erläutert Werner Arber, wie sich Evolutionstheorie und christlicher Glaube versöhnen lassen. Besprochen wird eine Compilation mit Sevdalinka-Musik (eine Art "balkanischer Blues").

In der zweiten taz berichtet Daniel Bax, dass das Berliner Aggro-Label und der afrodeutsche Rapper B-Tight mit seinem Album "Neger Neger" auch in der Szene selbst mächtig Ärger haben. Für einen "Frontalangriff auf alle, die die Früchte des Konzils hochhalten" hält Philipp Gessler die Wiederzulassung der Lateinischen Messe, die Papst Benedikt XVI heute in einem Sendschreiben verkündet. Und Edmund Stoiber schreibt mal wieder an seine Frau Muschi.

Im Dossier des taz mag porträtiert Vera Block die russische Mathematikerin Olga Holtz, die in Berlin mit einem Millionen-Stipendium über die Multiplikation von Matrizen nachdenkt. Leicht gekürzt abgedruckt ist die Dankesrede der taz-Autoren Jens König und Nadja Klinger, die sie zum Erhalt des Preises der Friedrich-Ebert-Stiftung für ihr Buch "Einfach abgehängt" hielten. Besprochen werden unter anderem Georg Fülberths Buch "Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945" und Dieter Kühns Roman "Geheimagent Marlowe". Und Tom.

Berliner Zeitung, 07.07.2007

Der Dirigent Kirill Petrenko, der die Komische Oper Berlin verlässt, erklärt Jan Brachmann im Interview, warum die Partitur bei russischen Opern nicht das Maß aller Dinge ist. "Man lernt, dass der gedruckte russische Rhythmus nicht so gesungen werden darf, wie er gedruckt ist. Es ist sogar falsch, diesen Rhythmus genauso zu singen, wie er notiert ist. Im Gegensatz etwa zu Richard Strauss oder zu Janacek, der ja genau den Rhythmus der Sprache komponiert hat. Bei Tschaikowsky, viel stärker noch bei Mussorgskij, muss man frei deklamieren. Dabei als Dirigent zu folgen, ist extrem schwer. Du hast in den Noten einen Viervierteltakt, doch der Sänger macht daraus einen Fünfachteltakt. Das klingt aber richtiger, weil das der russischen Sprachmelodie und dem russischen Sprachtonfall angepasst ist - nur hat es mit dem Gedruckten wenig zu tun. Das habe ich von Anatolij Kotscherga gelernt. Anfangs war es sehr schwer, ihn zu begleiten, weil er stets woanders war als ich. Ich rief immer: 'Was machst du da? Hör doch: Eins, zwei .'. Dann sagte er: 'Nein, ich kann nicht. Dieser Satz muss doch so sein'. Dann dehnte den einen Taktteil und verkürzte den anderen. Und es stimmte tatsächlich."

FAZ, 07.07.2007

Im Aufmacher knöpft sich Jürgen Kaube die "Parallelwelt des Geschwätzes" im Allgemeinen und Feridun Zaimoglu im Besonderen vor, der in einer Rede vor der Bundestagsfraktion der Grünen gegen "rechte Feministinnen, gewendete Altlinke, orthodoxe Klassenkämpfer, Kulturpapisten und Rechtskonservative" gepoltert hatte, die allesamt einen Kulturkrieg gegen das Fremde anzettelten. In der Randspalte kommentiert Andreas Platthaus das Karlsruher Urteil zu den Nebeneinkünften. Wenn Abgeordnete nicht offenlegen wollten, wem sie verpflichtet sind, überlegt Platthaus, sollten sie vielleicht auch Parteizugehörigkeit und Wahlkreis verschweigen . In seiner Geschmackskolumne testet Jürgen Dollase den neuen Chefkoch des Ousteau de Baumaniere, Sylvestre Wahid. Ulrich Olshausen berichtet von der JazzBaltica, bei der deutsche Trompeter einen großen Auftritt hatten. Auf der letzten Seite erklärt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe ihre Liebe zum Schweizer Örtchen Leuk mit den Bildern des Amateur-Fotografen Arnold Zwahlen. Jürgen Kesting schreibt zum Tod der Sopranistin Regine Crespin.

Besprochen werden die Schau des Künstlers mit Hang zum Makabren, Joe Coleman, in den Berliner Kunst-Werken, das neue Album "Kapitulation" von Tocotronic ("Sie tun nur so, als wäre 'aufgeben' immer noch besser als 'nach den bestehenden Regeln siegen', weil sie Moralisten sind wie alle inspirierten Kleinbürger", schreibt Dietmar Dath), Aufnahmen von Erkki-Sven Tüür und die nun auch auf RTL gezeigte HBO-Serie "Rom".

In Bilder und Zeiten rückt Dietmar Dath den vor hundert Jahren geborenen Science-Fiction-Autor Robert A. Heinlein neben Jules Verne und H.G. Wells. Imran Ayata porträtiert die Einwanderin, Adorno-Studentin und spätere IG-Metall-Aktivistin Ülkü Schneider-Gürkan. Jordan Mejias hat im AppleStore das iPhone getestet: "Klar, das Wunder ist nicht perfekt, aber es bleibt ein Wunder, ein kleines." Und im Gespräch mit Claudia Riedel verrät Modemacher Hedi Slimane das Geheimnis seines Genies: "Ich weiß eigentlich nie, warum ich etwas mache. Meine Arbeiten enden meisten sehr formal oder in Konzepten, aber sie entstehen im Chaos. Ich bin mmer offen für Zufälle. Zufälle sind impulsive Momente der Wahrheit, mit einer großen Ausstrahlungskraft. Sie zu erreichen ist allerdings schwer."

Besprochen werden Bücher, und zwar Oskar A.H. Schmitz' Tagebücher "Ein Dandy auf Reisen" und Emma Braslavskys Roman "Aus dem Sinn" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).