Bücherbrief

Höchst gefährliche Fiktion

10.12.2012. Eine arbeitslose Verkäuferin, Außenseiter auf dem Land, Brückenbauer in Kalifornien und ein empfindsamer Henker - das sind nur einige der Helden in den besten Büchern des Monats Dezember.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Büchern der Saison vom Herbst 2012 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2012, in den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert und der Krimikolumne "Mord und Ratschlag".


Literatur

Anna Weidenholzer
Der Winter tut den Fischen gut
Roman
Residenz Verlag 2012, 250 Seiten, 21,90 Euro



"Der Winter tut den Fischen gut" scheint die präzise literarische Konstruktion der Erfahrung von Arbeitslosigkeit und ihrer "derart zäh vergehenden Zeit" zu sein. Die 1984 in Linz geborene Anna Weidenholzer hat für dieses Porträt einer in die Depression abdriftenden arbeitslosen Boutiqueverkäuferin durchaus recherchiert, erzählt Klaus Zeyringer in einer eindringlichen Kritik im Standard - sie hat zum Beispiel klassische Sozialstudien zum Thema rezipiert. Vor allem aber hat sie eine literarische Konstruktion für das Thema gefunden, indem sie von hinten erzählt, von Kapitel 54 zu Kapitel 1, schon beginnend also mit der Aussichtslosigkeit. Auch Daniela Strigl lobt in der FAZ die raffinierte Anlage des Romans, die ihm Spannung gibt. Sie findet ihn auch abgründig, komisch sogar.

Daniel Mezger
Land spielen
Roman
Salis Verlag 2012, 318 Seiten, 24,90 Euro



"Im kleinen Haus, zuhinterst im Tal und weg vom Dorf" - da will die Familie ihren Problemen entfliehen und nähert sich doch nur deren Kern. Das Romandebüt des Schweizer Schauspielers (Showreel) und Theaterautors Daniel Mezger wurde bisher zweimal besprochen - und beide Kritiken loben die handwerkliche Meisterschaft, mit der das Thema durchgeführt wird, bis hin an die Grenze der Gnadenlosigkeit, so Roman Bucheli in der NZZ. Das Dorf bringt nicht die Idylle, sondern den Konflikt und das Drama und ein beängstigendes Erleben der eigenen Fremdheit und der Fremdheit der andern - schreibt auch Beate Tröger in der FAZ. Sie findet Mezgers Dialoge zum Teil theatralisch, aber im positiven Sinne. Sie lobt Mezgers Dekonstruktion des Traums vom Land als technisch perfekt, durchaus unterhaltsam und formal mutig.

Maylis de Kerangal
Die Brücke von Coca
Roman
Suhrkamp Verlag 2012, 287 Seiten, 19,95 Euro



Dieser Roman um ein riesiges fiktives Brückenbauprojekt in Kalifornien liest sich als Sinnbild technokratischer Überheblichkeit und stößt auf positive Resonanz in FAZ und SZ. Die französische Autorin Maylis de Kerangal legt ein ganzes Panorama unterschiedlichster Figuren an, von chinesischen Wanderarbeitern, über protestierende Umweltkämpfer, bis hin zu korrupten Stadtherren und skrupellosen Ingenieuren, die ihrem Roman einen eher an amerikanische Literatur erinnernden Drive gibt, versichern sowohl Niklas Bender in der FAZ als auch Hans-Peter Kunisch in der SZ. Aber trotz der ganz großen Perspektive geht es um etwas Intimes, fügt Kunisch hinzu, um Gegenwart nämlich und wie sie sich in die Köpfe und Körper der Menschen einschreibt.

David Albahari
Der Bruder
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2012, 169 Seiten, 19,95 Euro



Startpunkt und Zentrum der von Albahari inszenierten Tragödie ist eine von Männern dominierte Belgrader Dorfkneipe, mithin "ein Ort, von dem Kriege ausgehen", so Sonja Vogel in der taz - und damit ist schon vieles über den neuen Roman von Albahari gesagt. Denn die Bruder-Konstellation, die Fremdheit, Vertrautheit und das Drama lassen sich natürlich auf den ehemaligen juguslawischen Bruderkrieg projizieren und gewinnen durch diesen Hintergrund ihre Schlagkarft. Aber dieser Konnex hat offenbar nichts Mechenisches. Sowohl die große historische, als auch die kleine private Persketive scheinen in diesem Roman zu funktionieren. Denn literarisch funktioniert der Roman als Kammerspiel und - so Jörg Plath im Deutschlandradio - als eine Reflexion über Literatur, die zugleich ein Überlebenselixier ist und eine höchst gefährliche Fiktion.

German Kratochwil
Scherbengericht
Roman
Picus Verlag 2012, 312 Seiten, 22,90 Euro



Ein Romandebüt im stolzen Alter von 74 Jahren - das ist nicht nur ungewöhnlich, sondern mag auch den einen oder anderen skeptisch stimmen. Beispielsweise Dirk Knipphals, der in der taz gesteht, das Buch ohne hohe Erwartungen zur Hand genommen zu haben. Doch der als Kind von Österreich nach Argentinien ausgewanderte Sozialwissenschaftler Germán Kratochwil schafft es, alle Bedenken zu zerstreuen. Die Geschichte um eine Familienfeier von Immigranten in Patagonien ist gleichzeitig abgründig-grotesk und "heiter und vital", merkt Wolfgang Schneider in der FAZ an und lobt die pointierten Formulierungen und die "Beschreibungskunst". Carlos Widmann hebt in der SZ die Vielstimmigkeit des Romans und das "absolute Gehör" des Autors hervor, während Jan Koneffke in der NZZ die witzigen und hintersinnigen Schilderungen und Figurenbeschreibungen betont. Und auch Dirk Knipphals stellt fest: "Germán Kratochwil ist ein verdammt guter Erzähler."


Lyrik

Ales Steger
Buch der Körper
Gedichte
Schöffling und Co. Verlag 2012, 152 Seiten, 19,95 Euro



Im Laufe der letzten 15 Jahre avancierte Aleš Šteger zum bedeutendsten slowenischen Dichter seiner Generation. Daneben arbeitet er als Lektor und übersetzt aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, unter anderem Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann. Variabel in Form und Umfang, versuchen die Gedichte in seinem neuen, in die Teile "Das", "Dort" und "Dann" gegliederten Band "Buch der Körper", den Ort zu erfassen, an dem sich Körper und Sprache berühren, schreibt Jan Volker Röhnert in der FAZ. Er beschreibt die Gedichte als einfallsreich und vielstimmig und hebt insbesondere die kongeniale Übertragung durch Matthias Göritz hervor: Was Wahlverwandtschaft unter Dichtern heißt, nämlich das Eigene des Anderen in Gedichte der eigenen Sprache umsetzen zu können - hier kann der Leser es erfahren.

Michael Buselmeier
Dante deutsch
Gedichte
Das Wunderhorn Verlag 2012, 96 Seiten, 17,80 Euro



Der Heidelberger Dichter und Schriftsteller Michael Buselmeier, der mit dem Theaterroman "Wunsiedel" im vorigen Jahr überraschend auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises landete, nimmt es in seinem neuen Gedichtband mit einem Klassiker auf. "Dante Deutsch" heißt das Buch, das den offensiven Bezug zum italienischen Vorbild nicht zu scheuen braucht, wie Gerhard Stadelmaier in der FAZ bewundernd feststellt. Wobei, wie Stadelmaier weiter ausführt, die "Commedia" durchaus nicht den einzigen Bezugspunkt darstellt: Schuberts Impromptus, Heines Ironie, Rilkes Topografie oder die "Schreckensstürme" des Expressionismus spielen in Buselmeiers lyrischem Kosmos ebenso eine Rolle wie aktuelle politische Probleme in Afrika. Einen "funkelnden Weltbogen" habe Buselmeier geschaffen, schwärmt Stadelmaier hingerissen und bezeichnet den Dichter als "Wunder an lyrischer Ausnahme-Präzision".


Sachbuch

Hazel Rosenstrauch
Karl Huß, der empfindsame Henker
Eine böhmische Miniatur
Matthes und Seitz 2012, 175 Seiten, 19,90 Euro



Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch hat bereits öfter ihr Augenmerk auf den Epochenumbruch um 1800 geworfen, in biografischen Essays zu Karl August Varnhagen oder Caroline und Wilhelm von Humboldt. Nun erkundet sie den Wandel von Lebensformen und sozialer Schichtung am Beispiel des Scharfrichters von Eger, Karl Huß. Huß, bereits als Sohn eines Henkers geboren, versuchte Zeit seines Lebens, der sozialen Ächtung zu entkommen und errang schließlich als Sammler von Mineralien, Naturheiler und Poet so viel Ansehen, dass Metternich ihn zum Kustos seiner fürstlichen Sammlungen machte. In der FAZ besprach Katharina Teutsch Rosenstrauchs Buch sehr beeindruckt. Im Deutschlandradio Kultur lobte Edelgard Abenstein die Autorin in höchsten Tönen: "Sie ist belesen wie eine philosophisch denkende Historikerin und schreibt wie eine Feuilletonistin, elegant, urteilsstark, zuweilen angenehm lässig."


Helmut Böttiger
Die Gruppe 47
Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) 2012, 480 Seiten, 24,99 Euro



Helmut Böttiger hat nicht all die Rätsel und Fragen geklärt, die um die so geschichtsmächtige wie umstrittene Gruppe 47 kreisen. Doch die Rezensenten sind sich einig, dass er mit seinem Buch über die Werke und Taten der Schriftstellervereinigung, die zugleich intellektuelles Zentrum der Bundesrepublik und Herz des Literaturbetriebs in den 50er und 60er Jahren war, dem Phänomen ein ganzes Stück näher gekommen ist. In der NZZ lobt Rainer Moritz die anschauliche Darstellung, die ihn Wahrheit und Wunschdenken in bezug auf die Gruppe nun besser unterscheiden lässt. Ebenso positiv äußern sich Jochen Hieber in der FAZ und Stephan Speicher in der SZ, die auch die zeitgeschichtliche Einordnung der moralischen und literarischen Debatten unterstreichen. In der Zeit moniert Alexander Cammann zwar die unkritische Bewunderung, die Böttiger gegenüber seinen Protagonisten an den Tag legt, findet aber sehr erhellend, wie Böttiger den Erfolg der Gruppe mit ihrem virtuosen Umgang mit den Medien erklärt.


Robert J. Shiller
Märkte für Menschen
So schaffen wir ein besseres Finanzsystem
Campus Verlag 2012, 376 Seiten, 34,99 Euro



Der in Yale lehrende Ökonom Robert Shiller ist weder Apologet der Wall Street noch ein Propagandist ungehemmter Deregulierung. Dass er nach der großen Krise mehr Finanzkapitalismus fordert und nicht weniger, hat die Rezensenten aufhorchen lassen. Shiller will die Finanzmärkte allerdings demokratisieren und Versicherungen zu Instrumenten machen, mit denen sich die Allgemeinheit gegen Risiken jeder Art absichern kann, zum Beispiel auch gegen den Wertverlust von Häusern. In der SZ erkennt der kundige Nikolaus Piper, dass Shiller nicht nur ein Buch über Finanztechnik vorgelegt hat, sondern eine Moralphilosophie: "Shiller wirbt dafür, dass, bei allem berechtigten Zorn auf die Wall Street, Märkte aller Art als eine entscheidende Voraussetzung für Zivilisation erkannt werden." In der Zeit empfiehlt Lisa Herzog das Buch trotz mancher recht finanztechnischer Passage für seinen fundierten Überblick und die vielen bedenkenswerten Vorschläge.

Josef Foschepoth
Überwachtes Deutschland
Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik
Vandenhoeck und Ruprecht Verlag 2012, 378 Seiten, 34,99 Euro



Dass die DDR ein Überwachungsstaat war, ist inzwischen alllgemein bekannt. Dass aber auch die BRD im Kalten Krieg millionenfach aus dem kommunistischen Ausland kommende Briefe abgefangen, Pakete geöffnet und Telefonate abgehört hat, war hingegen nicht bekannt - bis es der Freiburger Zeithistoriker Josef Foschepoth in seiner Studie "Überwachtes Deutschland" in seinem ganzen Ausmaß darstellte. Fassungslos reibt sich Rainer Blasius in der FAZ die Augen, und in der SZ zweifelt Franziska Augstein angesichts Adenauers Willfährigkeit an der Souveränität des deutschen Staates. Foschepoth kratzt am "Hochglanz-Lack" der Bundesrepublik und findet eine Menge rostige Stellen, erklärt Philipp Schnee im Deutschlandfunk. Der SWR strahlte eine knapp 20minütige Reportage zum Buch aus.