Bücherbrief

Existenzevidente Prosa

03.04.2009. Per Olov Enquist blickt in die Abgründe seines Lebens. Julia Schoch bringt eine DDR-Garnisonsstadt zum Leuchten. Junot Diaz schickt einen übergewichtigen Außenseiter ins Rennen. David Foster Wallace fühlt sich in einen Hummer ein. Fareed Zakaria betrachtet die Mikrophysik der globalen Machtpolitik... Dies alles und mehr in den Büchern des April.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2009, Ekkehard Knörers Krimikolumne Mord und Ratschlag, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.


Literatur

Per Olov Enquist
Ein anderes Leben
Carl Hanser Verlag, München 2009, 24,90 Euro



Mit seiner Autobiografie - geschrieben in der dritten Person - "Ein anderes Leben" hat Per Olov Enquist den Kritikern geradzu den Atem geraubt. So unerschrocken hat selten ein Autor in die eigenen Abgründe blickt - da sind sich alle einig. Und dies so kunstvoll erzählt! Für die taz hat sich Enquist mit diesem "grandiosen, schwarzen Lebensroman" als einer der ganz Großen der Gegenwart etabliert. Die FAZ preist die genaue Beobachtung und höchst kunstreiche Dramaturgie, und die SZ kann nur bewundern, mit welch "schriftstellerischer Größe" Enquist an den Schmerzpunkten rührt und wie unerschrocken er hier dem Teufel Alkohol in die Augen blickt.


Julia Schoch
Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Roman
Piper Verlag, München 2009, 14,95 Euro



Auf Julia Schochs Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" haben sich die Zeitungen mit Begeisterung gestürzt. Schoch erzählt die Geschichte zweier ostdeutscher Schwestern, von denen sich die eine, die im neuen Deutschland nicht hatte Fuß fassen können, in New York das Leben nimmt. In der taz bewunderte Jochen Schimmang, wie Schoch in ihrem "todtraurigen, überaus schönen Buch" die Tristesse einer DDR-Garnisonsstadt zum Leuchten bringt. Der FAZ gefiel der strenge Sound dieser "existenzevidenten" Prosa. Die SZ lobte in den höchsten Tönen, wie sich hier Geschichte in die Landschaft einschreibt. Und die Zeit fröstelte geradezu unter dem kühlen, distanzierten Blick der Autorin. Einspruch gab es nur von der FR, der die Figuren zu prototypisch angelegt waren.


Junot Diaz
Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, 19,95 Euro



Begeistert reagierten die Kritiker auf diesen Roman von Junot Diaz, der dafür 2008 dafür den Pulitzerpreis bekommen hat. Die Zeit preist das Buch, in dem sich der übergewichtige Außenseiter Oscar mit seiner Schwester auf die Suche nach ihren Wurzeln in der Dominikanischen Republik begibt, als "furiose" Mixtur aus Familienepos, Science-Fiction, Liebesgeschichte und Geschichte der Dominikanischen Republik. Die taz war hellauf begeistert, fühlte sich durch den schlagfertigen und rasanten Roman wie von einem karibischen Wirbelsturm gepackt und bescheinigte Diaz, eines der "unterhaltsamsten und herzzerreißendsten Bücher dieser Saison" geschrieben zu haben. Einen Eindruck von Diaz, der selbst aus der Karibik nach New Jersey ausgewandert ist, gibt ein sehr unterhaltsames Interview in der FR.


David Foster Wallace
Am Beispiel des Hummers
Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2009, 12 Euro



Im Jahr 2004 hatte David Foster Wallace für die Zeitschrift "Gourmet" das traditionelle Hummerfest von Maine besucht und statt einer Reportage diesen Essay geschrieben. Für die FAZ ist dies ein instruktiver Diskurs über die Frage, ob es in Ordnung ist, "aus reiner Freude am Genuss ein fühlendes Wesen in einen Topf mit kochendem Wasser zu werfen?" Für die taz ist der Text eher ein "bösartiger Essay" über Lüge und Bigotterie, in dem das Hummerfest dem Entertainment eines Nero würdig werde: "Fun ist ein Bad in kochendem Wasser." Die Zeit zeigt sich von der ironiefreien Empathie des Autors sehr berührt, der hier einen seiner letzten Texte vorgelegt hat, bevor er sich im September vorigen Jahres das Leben nahm.


Nikolaj Gogol
Tote Seelen
Roman
Artemis und Winkler Verlag, Düsseldorf 2009, 89 Euro



Als echter Gewinn wurde Vera Bischitzkys Neuübersetzung von Nikolaj Gogols Klassiker "Tote Seelen" von allen Seiten begrüßt. FAZ und NZZ loben die prächtige Edition (mit Radierungen von Chagall) sowie den sanften Charakter ihrer Übertragung. In der SZ staunt Heinz Schlaffer, wie gut sie Gogols sprachliche Polyphonie, seinen satirischen Blick und die Plastizität des Textes beibehält. Für die taz ist es die bisher eingängigste Übersetzung von Gogols wunderbarem Werk, dessen Anmerkungsapparat allein schon "ein spannendes Buch" ergebe. Vera Bischitzky gibt übrigens in einem Werkstattbericht Einblick in ihre Übersetzungsarbeit.


Sachbuch

Fareed Zakaria
Der Aufstieg der anderen
Das postamerikanische Zeitalter
Siedler Verlag, München 2009, 22,95 Euro



Schön kontrovers diskutiert werden immer die Thesen von Fareed Zakaria, dem Chefredakteur der Newsweek International, der zuletzt mit seiner Forderung Aufsehen erregte, sich mit dem Islamismus zu arrangieren, um den Terrorismus erfolgreicher zu bekämpfen. In seinem Buch "Der Aufstieg der anderen" beschreibt er das postamerikanische Zeitalter, in dem die USA vielleicht nicht schwächer werden, Brasilien, Russland, Indien und China aber stärker. Die taz findet zwar einige Prognose Zakarias durch die Finanzkrise überholt, seine Mikrophysik der globalen Machtpolitik behält in ihren Augen aber Gültigkeit. Die Welt bemängelte einige Prämissen, schätzte aber den Informationswert des Buches. Der Guardian hätte das Buch gern zur Pflichtlektüre erhoben: "Lesen Sie Zakaria, wenn Sie wissen wollen, was war, was ist und was sein wird." Die New York Times fand das Buch "unerbittlich intelligent".


György Dalos
Der Vorhang geht auf
Das Ende der Diktaturen in Osteuropa
C. H. Beck Verlag, München 2009, 19,90 Euro



Einhellig gelobt wurde György Dalos' Buch über das Ende der Diktaturen in Osteuropa. In sechs Kapiteln erzählt der ungarische Schriftsteller und Historiker, wie die kommunistischen Regime der Reihe nach entmachtet wurden - erst in Polen, dann in Ungarn, der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgarien und schließlich Rumänien. Die SZ lobt Dalos' ironischen Stil, seinen Blick für überraschende Details und seinen Sinn für politischen Witz. Die Zeit bewundert seine erzählerische Macht und seine kritischen Reflexionen. Und die taz wurde gern daran erinnern, dass in den osteuropäischen Ländern die Vorarbeit für den Mauerfall geleistet haben. Hier auch eine Leseprobe in unserer Rubrik Vorgeblättert.


Jürgen Osterhammel
Die Verwandlung der Welt
Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
C. H. Beck Verlag, München 2008, 49,90 Euro



1500 Seiten umfasst Jürgen Osterhammels Mammutwerk "Die Verwandlung der Welt" und die rezensierenden Historikerkollegen waren begeistert, etwa Jürgen Kocka in der Zeit oder Urs Hafner in der NZZ. Osterhammel erzählt seine Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht chronologisch, sondern malt ein um verschiedene Themen herum gruppiertes Porträt der Epoche. Überschriften sind zum Beispiel "Staat", "Netze" oder "Hierarchien". Intellektuell zündend findet Andreas Fahrmair in der FAZ, wie Osterhammel "pointillistische Beobachtungen" zu Analysen verdichtet. Brillant entworfen findet Detlev Claussen in der taz das Werk mit seinem systematischen Perspektivwechsel. Und in der FR glaubt Thomas Meyer gar, dass Osterhammel mit diesem Werk die Geschichtsschreibung verändern wird.


Karl-Heinz Ott
Tumult und Grazie
Über Georg Friedrich Händel
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008, 22 Euro



Von Karl-Heinz Otts Enthusiasmus für Händel haben sich die Kritiker einfach mitreißen lassen. Eine andere Wahl hatten sie auch nicht, denn einen roten Faden, an dem sie sich hätten festhalten können, konnten sie nicht finden. Aber gelernt haben sie sehr viel! "Stupende Kenntnis" attestiert die Zeit dem Autor, die FR sieht sich durch zahlreiche musikhistorische und kulturgeschichtliche Reflexionen bereichert. Und die SZ weiß nun endlich, was an Adornos Händel-Bild nicht stimmt. Für die FAZ ist es ein barockes Buch.


Hörbuch

Thomas Bernhard, Siegfried Unseld
Briefwechsel
3 CDs
DHV - Der Hörverlag, München 2009, 19,95 Euro



Als Ereignis und "Monument" bezeichnet die FAZ den Briefwechsel zwischen den beiden Titanen der nachkriegsdeutschen Literatur, Thomas Bernhard und Siegfried Unseld. Sie lobt vor allem die Sprecher Peter Simonischek (Bernhard) und Gert Voss (Unseld) in dieser vorab erhältlichen Hörbuchfassung (Die gedruckte Gesamtausgabe wird erst im Mai erscheinen). Auch die Zeit bejubelt das "fantastische Gefecht paradoxer Provokation", das sich Bernhard-Simonischek ("stets erhitzt, tiradierend, unverschämt") und Unseld-Voss (abfedernd und mit doppeltem Boden) liefern.