9punkt - Die Debattenrundschau
Die Ortsteile Britz, Rudow, Buckow
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2019. Auch Deutschland hat jetzt seinen Karikaturenstreit: Die Emma-Zeichnerin Franziska Becker soll zum Ärger ihrer Gegnerinnen die Hedwig-Dohm-Urkunde erhalten. Alice Schwarzer fragt auf Emma, was an der Kritik reaktionärer Religionen rassistisch sein soll. Nach dem Geständnis des Rechstextremisten Stephan Ernst herrscht Erleichterung, die SZ will jetzt nur noch die Anschlagsserie von Berlin-Neukölln aufgeklärt sehen. FAZ und SZ erkunden, was von Anonymas Tagebüchern bleibt, die einst mit Schilderung des Berliner Kriegsalltag Furore machte. Und die Berliner Zeitungen melden: Das Schloss wird erst mit dem Flughafen eröffnet.
Efeu - Die Kulturrundschau
vom
27.06.2019
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Medien
Der Journalistinnenbund will der Emma-Karikaturistin Franziska Becker die Hedwig-Dohm-Urkunde verleihen, das passt einigen Aktivistinnen nicht, die bei Beckers Zeichnungen Rassismus am Werk sehen. In der Emma ärgert sich Alice Schwarzer über die Diffamierung: "28 Jahre nach ihrem ersten Anti-Islamismus(nicht Islam!)-Cartoon wird Becker nun plötzlich wegen ihrer über Jahrzehnte veröffentlichten Karikaturen über die reaktionären Islam-Auslegungen der 'Islamfeindlichkeit' und des 'Rassismus' bezichtigt. Eine deutsche Bloggerin türkischer Herkunft hat den Protest initiiert - und so mancher folgt ihr. Darunter auch bekannte Namen. So twittert der Journalist Jakob Augstein: 'Für mich sieht das so aus, als könne es auch in der Jungen Freiheit stehen' (für Nichteingeweihte: ein rechtsextremes Blatt). Und Augstein jr. setzt nochmal nach: 'Karikaturen sind dann gut, wenn sie die Großen klein machen - nicht, wenn sie auf die treten, die ohnehin unten sind', schreibt er. 'Darum waren auch die antimuslimischen Charlie-Hebdo-Karikaturen schlecht. Es geht um die Machtfrage.' Es stimmt. Satire sollte immer nach oben zielen, nie nach unten treten. Für Augstein scheinen MuslimInnen immer unten zu sein. Was bedenklich ist, um nicht zu sagen 'rassistisch'. Mal ganz davon abgesehen, dass er mit der Qualifizierung der Charlie-Hebdo-Karikaturen als 'schlecht' das Massaker entschuldigt, wenn nicht sogar rechtfertigt."Die EMMA-Cartoonistin Franziska Becker erhält am Samstag die Hedwig-Dohm-Urkunde. Eine Diffamationskampagne - "Islamfeindlich!", "Rassistin!" - versucht, das zu verhindern. Mit Erfolg? Alice Schwarzer über den "ersten deutschen #Karikaturenstreit". https://t.co/kShcNi1kC3 pic.twitter.com/j7Sgdtbptb
- EMMA (@EMMA_Magazin) June 26, 2019
Gestern hatte sich etwa Hilal Sezgin in der taz über Becker echauffiert: "Immer wieder hat Becker die plattesten Figuren gezeichnet: muslimische Polizistinnen, die mit einer Axt herumlaufen; Richterinnen, die fürs Gebet ständig den Prozess unterbrechen; verhüllte Frauen, die sklavisch ihren Männern folgen. Durch ständige Wiederholung auf Covern von Nachrichtenmagazinen und in Karikaturen wie solchen von Becker hat sich die Chiffre 'Kopftuch' festgebrannt. Jeder x-beliebige Hinz und Kunz, der daheim nicht mal weiß, wie der Herd angeht, fühlt sich heutzutage bemüßigt, von oben herab muslimische Frauen in Sachen Patriarchat zu bemitleiden."
ZeitOnline meldet die Reporter, die mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet wurden. Prämiert wurde auch Daniel Schulz für seine taz-Geschichte über eine rechtsradikale Jugend im Osten "Wir waren wie Brüder geehrt".
Europa
Der 45-jährige Kasseler Rechtsextreme Stephan Ernst hat den Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke gestanden, berichten unter anderem Konrad Litschko und Christoph Schmidt-Linau in der taz: "Stephan Ernst hatte bisher zu den Vorwürfen geschwiegen. Zuletzt soll er laut Spiegel noch Arbeitskollegen um ein Alibi für die Tatnacht gebeten haben - seine Ehefrau hatte Ermittlern gesagt, sie wisse nicht, wo Ernst in der Tatnacht war. Am Dienstag aber, so heißt es in Sicherheitskreisen, bat er plötzlich um ein Gespräch mit der Polizei - und gestand dort die Tat. Er habe Lübcke wegen dessen Äußerung auf einer Bürgerversammlung 2015 getötet, soll Ernst gesagt habe. Und er habe allein gehandelt." ZeitOnline meldet jetzt sogar zwei weitere Festnahmen.
Die SZ berichtet auch von einer Anschlagsserie in Berlin-Neukölln, die sich seit 2010 gegen linke Politiker richtet. 16 Autos gingen in Flammen auf, Morddrohungen wurden an Häuserwände gesprüht. "Es gibt zwei Hauptverdächtige, zwei bekannte Neonazis, 'lange und schmutzig vorbestraft', wie ein Berliner Strafverfolger sagt." Genutzt hat das wenig: "Der Berliner Verfassungsschutz hat Neukölln inzwischen genau kartografiert, der Geheimdienst hat im März eine interne Lageanalyse speziell für den Stadtteil erstellt. Danach ist das Viertel zweigeteilt. Im Norden Neuköllns zwischen Shisha, Schawarma, Hipster-Cafés ist die linke Szene zuhause, viele prokurdische, propalästinensische Aktivisten, manche von ihnen auch Angehörige linksradikaler Bewegungen. Im Süden dominieren die Rechten. Die Ortsteile Britz, Rudow, Buckow betrachtet der Verfassungsschutz politisch als eigenes Biotop: kleinbürgerlich, weiß."
Die SZ berichtet auch von einer Anschlagsserie in Berlin-Neukölln, die sich seit 2010 gegen linke Politiker richtet. 16 Autos gingen in Flammen auf, Morddrohungen wurden an Häuserwände gesprüht. "Es gibt zwei Hauptverdächtige, zwei bekannte Neonazis, 'lange und schmutzig vorbestraft', wie ein Berliner Strafverfolger sagt." Genutzt hat das wenig: "Der Berliner Verfassungsschutz hat Neukölln inzwischen genau kartografiert, der Geheimdienst hat im März eine interne Lageanalyse speziell für den Stadtteil erstellt. Danach ist das Viertel zweigeteilt. Im Norden Neuköllns zwischen Shisha, Schawarma, Hipster-Cafés ist die linke Szene zuhause, viele prokurdische, propalästinensische Aktivisten, manche von ihnen auch Angehörige linksradikaler Bewegungen. Im Süden dominieren die Rechten. Die Ortsteile Britz, Rudow, Buckow betrachtet der Verfassungsschutz politisch als eigenes Biotop: kleinbürgerlich, weiß."
Geschichte
2003 machte Anonymas Tagebuch "Eine Frau in Berlin" Furore, in dem eine Berliner Journalistin von der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee und vor allem von den Vergewaltigungen berichteten, denen Frauen ausgesetzt war. Die Historikerin Yuliya von Saal am Münchner Institut für Zeitgeschichte hat nun das Buch mit den Originalaufzeichnungen verglichen, und wie Maximilian Senfft in der SZ informiert, sind sie literarisch so stark bearbeitet, dass sie größtenteils nicht als authentisch gelten können: "Die reflexiven Passagen mit einem starken feministischen Akzent und Kritik an der Nazi-Männlichkeit hat Marta Hillers laut der Studie von Yuliya von Saal erst später für die Buchfassung ausgearbeitet. Einige Erlebnisse wurden durch fiktive Elemente verdichtet. 'An diesen Stellen weichen Tagebuch und Buchfassung massiv voneinander ab, so zum Beispiel, wenn aus einem Zahnarztbesuch ein angstbesetzter Besuch beim Gynäkologen wird, um eine ungewollte Schwangerschaft auszuschließen.' Wer also ein authentisches Zeitdokument aus den Trümmern Berlins lesen will, muss zu Marta Hillers' handschriftlichen Aufzeichnungen greifen, nicht zum literarisierten Tagebuch der 'Anonyma'."
In der FAZ erinnert Patrick Bahners daran, dass die Authentizität der Tagebücher schon früh angezweifelt wurde: SZ-Journalist Jens Bisky hatte Marta Hillers als Verfasserin und den Schriftsteller Kurt Marek als Mitautor enthüllt, der unter dem Pseudonym C.W. Ceram den Bestseller "Götter, Gräber und Gelehrte". Für Bahners steht jetzt nicht nur Walter Kempowski blamiert da, der als Gutachter für den Eichborn Verlag, die Echtheit bestätitgt hatte, sondern auch eine andere Idee: "Am Ende des Krieges stehe 'auch die Niederlage der Männer als Geschlecht', mit der 'männerbeherrschten Naziwelt' stürze 'der Mythos ,Mann'': Warum wollte man unbedingt glauben, dass die Namenlose ihre Erfahrung schon auf diese allgemeine Formel gebracht hatte, als sie noch in der Gewalt der sowjetischen Männer war? Von der Niederschrift einer Selbsttherapie sprach eine Rezension - mit der Pointe, dass die Therapie gleichzeitig mit der Verletzung gewesen sein soll. So beglaubigte das Buch von 1959 im Jahre 2003 eine Phantasie von der heilenden, ermächtigenden Kraft weiblichen Schreibens." (mehr zu den Blamagen hier, hier, hier und hier)
"Ich finde, dass es für unsere Gesellschaft gefährlich ist, wenn durch Mutmaßungen moralische Vorbilder demontiert werden", sagt Stauffenberg-Enkelin Sophie von Bechtolsheim im NZZ-Interview mit Marc Felix Serrao im Bezug auf Thomas Karlaufs Biografie ihres Großvaters (Unser Resümee). Als Held möchte sie ihren Großvater, dem sie nun ebenfalls eine Biografie widmet, dennoch nicht missverstanden wissen: "Man muss wissen, dass mein Großvater andere Menschen gerne aus der Reserve gelockt hat. Meine Großmutter hat dafür den Begriff Advocatus Diaboli benutzt. Für Historiker macht es das nicht einfach. Wenn Sie einzelne Sätze aus dem Kontext herauslösen oder Ironie nicht kenntlich machen, kann mein Großvater plötzlich wie ein Hardliner erscheinen. Auch dieser George-Sprech, den er ab und zu zeigt, dieses schwärmerische Pathos, dieser glühende Patriotismus wirken heute sehr fremd."
In der FAZ erinnert Patrick Bahners daran, dass die Authentizität der Tagebücher schon früh angezweifelt wurde: SZ-Journalist Jens Bisky hatte Marta Hillers als Verfasserin und den Schriftsteller Kurt Marek als Mitautor enthüllt, der unter dem Pseudonym C.W. Ceram den Bestseller "Götter, Gräber und Gelehrte". Für Bahners steht jetzt nicht nur Walter Kempowski blamiert da, der als Gutachter für den Eichborn Verlag, die Echtheit bestätitgt hatte, sondern auch eine andere Idee: "Am Ende des Krieges stehe 'auch die Niederlage der Männer als Geschlecht', mit der 'männerbeherrschten Naziwelt' stürze 'der Mythos ,Mann'': Warum wollte man unbedingt glauben, dass die Namenlose ihre Erfahrung schon auf diese allgemeine Formel gebracht hatte, als sie noch in der Gewalt der sowjetischen Männer war? Von der Niederschrift einer Selbsttherapie sprach eine Rezension - mit der Pointe, dass die Therapie gleichzeitig mit der Verletzung gewesen sein soll. So beglaubigte das Buch von 1959 im Jahre 2003 eine Phantasie von der heilenden, ermächtigenden Kraft weiblichen Schreibens." (mehr zu den Blamagen hier, hier, hier und hier)
"Ich finde, dass es für unsere Gesellschaft gefährlich ist, wenn durch Mutmaßungen moralische Vorbilder demontiert werden", sagt Stauffenberg-Enkelin Sophie von Bechtolsheim im NZZ-Interview mit Marc Felix Serrao im Bezug auf Thomas Karlaufs Biografie ihres Großvaters (Unser Resümee). Als Held möchte sie ihren Großvater, dem sie nun ebenfalls eine Biografie widmet, dennoch nicht missverstanden wissen: "Man muss wissen, dass mein Großvater andere Menschen gerne aus der Reserve gelockt hat. Meine Großmutter hat dafür den Begriff Advocatus Diaboli benutzt. Für Historiker macht es das nicht einfach. Wenn Sie einzelne Sätze aus dem Kontext herauslösen oder Ironie nicht kenntlich machen, kann mein Großvater plötzlich wie ein Hardliner erscheinen. Auch dieser George-Sprech, den er ab und zu zeigt, dieses schwärmerische Pathos, dieser glühende Patriotismus wirken heute sehr fremd."
Gesellschaft
In der NZZ warnt Jörg Scheller vor der zunehmenden "Säuberung" öffentlicher Diskurse durch Rechts- und Linksidentitäre, die sich zudem als "progressiv" missverstehen: "Unrecht und Gewalt beginnen schleichend, mit der verbalen Herabwürdigung von Einzelnen als Angehörigen von Gruppen. Erst eine ideologische Absolution erlaubt es, Menschen in einem zweiten Schritt nichtverbal, und erst noch mit gutem Gewissen, zu bekämpfen. (...) Der Begriff 'progressiv' ist äußerst dehnbar. So verstanden sich auch die Nationalsozialisten als fortschrittlich und verunglimpften ihre Feinde als 'Reaktionäre' - ein Totschlagargument im wörtlichen Sinne. Wenn das Ziel dringlich ist, wenn das angestrebte 'Gute' als unhinterfragbar gilt, heiligt der Zweck die Mittel, werden Kollateralschäden in Kauf genommen."
Kulturpolitik
In der Berliner Zeitung meldet Ulrich Paul, dass die Eröffnung des Berliner Schlosses jetzt doch ganz vom November 2019 auf September 2020 verschoben wird: "Ursachen für die verschobene Eröffnung sind nach Angaben der Stiftung Mängel und Verzögerungen bei einzelnen Gewerken - vor allem der Klima- und Lüftungstechnik. Verantwortlich macht die Stiftung 'die stark angespannte Baukonjunktur', die zu Engpässen bei den personellen Kapazitäten der Baufirmen geführt habe. Im Klartext: Es fehlen die Handwerker."
Die Politik machte sich rar bei der Bekanntgabe der Verschiebung, weder Kulturstaatsministerin Monika Grütters noch BBR-Präsidentin Petra Wessler waren anwesend, notiert Bernhard Schulz im Tagesspiegel. Ihm fällt noch etwas auf: Grütters nannte per Pressemitteilung die Verschiebung "sehr enttäuschend" und schrieb weiter: "Sie erwarte 'von den Verantwortlichen des Bundesamtes (für Bauwesen und Raumordnung, d. Red.), aber auch von der politischen Spitze des zuständigen Bundesinnenministeriums, dass das Humboldt-Forum von nun an die Priorität genießt, die der herausragenden Bedeutung dieses Projekts auch gerecht wird.' 'Von nun an' ist eine ziemliche Ohrfeige für das BBR und mittelbar auch für Parteifreund Seehofer, in dessen Verantwortungsbereich das Amt fällt. Bislang also nicht?"
Die Politik machte sich rar bei der Bekanntgabe der Verschiebung, weder Kulturstaatsministerin Monika Grütters noch BBR-Präsidentin Petra Wessler waren anwesend, notiert Bernhard Schulz im Tagesspiegel. Ihm fällt noch etwas auf: Grütters nannte per Pressemitteilung die Verschiebung "sehr enttäuschend" und schrieb weiter: "Sie erwarte 'von den Verantwortlichen des Bundesamtes (für Bauwesen und Raumordnung, d. Red.), aber auch von der politischen Spitze des zuständigen Bundesinnenministeriums, dass das Humboldt-Forum von nun an die Priorität genießt, die der herausragenden Bedeutung dieses Projekts auch gerecht wird.' 'Von nun an' ist eine ziemliche Ohrfeige für das BBR und mittelbar auch für Parteifreund Seehofer, in dessen Verantwortungsbereich das Amt fällt. Bislang also nicht?"
Internet
In der FAZ bringt der Netzpolitikberater Stefan Herwig in der Debatte um Anonymität im Netz eine neue Variante ins Spiel: Er fordert eine verpflichtende Pseudonymisierung, ähnlich wie im Straßenverkehr, wo man als Fußgänger und Radfahrer anonym unterwegs sein kann, aber als Autofahrer mit Kennzeichen: "Im Netz jedoch laufen die Funktionen von öffentlichen und privaten Räumen komplett durcheinander: Wir haben keine funktionierende Privatsphäre im Netz und keinen Datenschutz, zugleich ist die Rechtsstaatlichkeit schwer durchzusetzen. Im Netz ist die latente Störung der öffentlichen Ordnung fast der Normalfall."
Politik
Um den Erfolg der Grünen zu verstehen, die zwischen linken und rechten, wirtschaftsliberalen und konservativen Positionen switchen, bemüht Adam Soboczynski im Aufmacher des Zeit-Feuilletons den Soziologen Armin Nassehi, der in verschiedenen Medien (taz, Kursbuch, Stern, Spiegel, FAZ etc.) antritt, den Widersprüchen einen "Überbau" im Sinne Niklas Luhmann'scher Systemtheorie zu verpassen: "Wir lebten, erklärt er, in einer komplexen Gesellschaft, in der sich die Differenz zwischen links und rechts überholt habe. Die alten Volksparteien seien passé, weil die Interessen und Milieus, die sich vormals säuberlich auf die Union und die SPD verteilten, auseinandergefallen seien. Es gehe heute darum, 'Denkungsarten unterschiedlicher Systeme' miteinander zu verkoppeln, um Lösungen für Probleme zu finden - und genau dafür stünden die Grünen als Avantgarde: 'Mein Vorschlag lautet: Denkt über Bündnisse von Akteuren unterschiedlicher Systemlogiken nach.'"
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