Im Kino

Panoptikum menschlicher Niedertracht

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Fabian Tietke
17.08.2016. Die Filmindustrie funktioniert wie ein großes Bordell: Das ist die Prämisse von "Lowlife Love", Eiji Uchidas Abrechnung mit dem japanischen Indiekino-Business. Katsuya Tomita verliert in "Bangkok Nites", seinem dreistündigen Epos über Sexarbeit in Thailand, nie die Einzelschicksale aus dem Blick.

Wie soll man sich den Independent-Regisseur von heute vorstellen? Eiji Uchida, selbst Träger dieser Berufsbezeichnung, hat darauf eine ernüchternde Antwort: Sein Protagonist Tetsuo hat vor langer Zeit einen mäßig erfolgreichen Film mit dem Titel "Die Sau" gedreht. Mittlerweile führt er sich selbst wie eine auf. Mit Ende Dreißig lebt er immer noch bei seiner Mutter und profitiert von der Faszination, die das Filmbusiness auf Außenstehende hat. Dass der Regisseur eigentlich ein Taugenichts ist, hindert den naiven Nachwuchs nicht daran, in seiner Anwesenheit in Ehrfurcht zu verfallen. Tetsuo dankt es den ehrgeizigen, aber nicht unbedingt begabten Schauspielern, indem er ihnen mit fragwürdigen Workshops das Geld aus der Tasche zieht. Kiyohiko Shibukawa, dem man hierzulande vor allem wegen diverser Kollaborationen mit Takashi Miike kennt, spielt in "Lowlife Love" einen Mann ohne positive Eigenschaften. Mit nach unten hängenden Mundwinkeln und trägen Augen schlurft er freudlos durchs Leben und nutzt die Menschen in seiner Umgebung schamlos aus.

Man hört es oft, bekommt es aber selten so ausführlich vor Augen gehalten wie in "Lowlife Love": Das Filmbusiness ist eine schmierige Halbwelt, in der sich nur jene behaupten können, die Selbstachtung und moralische Zweifel weit hinter sich lassen. Bemerkenswert ist, dass sich Uchida zur Untermauerung dieses Statements nicht ein leichtes Opfer wie das Maintream-Kino ausgesucht hat, sondern lieber vor der eigenen Haustüre kehrt. Statt großen Studios und Produzenten in maßgeschneiderten Anzügen steht in seinem durch die Crowdfunding-Plattform Kickstarter mitfinanzierten Low-Budget-Film eine unter prekären Bedigungen lebende Indie-Szene im Fadenkreuz, in der sich Arbeitslose, Gangster und Pornodarstellerinen die Klinke in die Hand geben.

Uchida erzählt zunächst angemessen ziellos vom Slacker-Leben seiner Hauptfigur. "Lowlife Love" ist zwar als bösartige Satire angelegt, zeigt sich dabei aber weniger an grotesken Überzeichnungen und knackigen Pointen interessiert. Eher wirkt der Film durch seinen Fokus auf das Alltägliche wie ein ein japanischer Verwandter des amerikanischen Mumblecore-Kinos. In den oft auffällig lange und statische Einstellungen entfalten sich die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Figuren auf dramatisch nur bedingt verdichtete Weise. Uchidas Film ist am Besten, wenn er nichts Bestimmtes erzählen will, sondern sich der Textur eines Milieus widmet, das er offensichtlich kennt. Das zeigt sich vor allem in wiederkehrenden Szenen, die in einer benachbarten Kneipe angesiedelt sind. In dem verqualmten Izakaya offenbart sich hinter der scheinbar harmlos bierseligen Stimmung ein Panoptikum menschlicher Niedertracht. Ein bisschen abseits von der Gruppe sitzen der idealistische Drehbuchautor Ken (Oshinari Shugo) und die schüchterne Schauspielerin Minami (Okano Maya), in die sich Tetsuo später verlieben wird. Die beiden wirken an diesem Ort, an dem außer ihnen jeder bis in die kleinste Pore manipulativ ist, völlig verloren.


Tetuso nutzt derweil seine Bekannheit aus, um Mädchen ins Bett zu kriegen - und das auf eine fordernde Weise, bei der plumpe Anmache schnell zur versuchten Vergewaltigung wird. Die Beiläufigkeit, mit der solche Szenen umgesetzt werden, ist nicht immer leicht zu ertragen, entlarvt aber auch eine Industrie, die von Ausbeutung geprägt ist. Die Frauen, die in diesem patriarchalen System überleben müssen, tun einem nur so lange Leid, bis sich zeigt, in welchem Ausmaß sie selbst davon profitieren. An eine Rolle kommt man nicht durch ein Casting, sondern indem man sich an alte, mal mehr, mal weniger einflussreiche Männer ranschmeißt. Eine der Schauspielerinnen stürzt sich etwa auf abgehalfterte Regisseure und lässt in der Zwischenzeit ihren Freund recherchieren, ob die Opfer überhaupt noch im Geschäft sind und es sich lohnt, die Beine breit zu machen. In solchen Momenten führt der Film eine Indie-Szene vor, die sich viel darauf einbildet, abseits des Mainstreams zu arbeiten, tatsächlich aber einen durch und durch inhumanen Hardcore-Kapitalismus lebt. Jeder Einzelne wird nur nach seinem möglichen Nutzen bewertet - bei Männern ist das die Aussicht auf eine Karrierechance, bei Frauen die fuckability.

Dass die Filmindustrie wie ein großes Bordell funktioniert, ist dann auch die Hauptprämisse von "Lowlife Love", die dementsprechend umfangreich durchexerziert wird. Mitunter kann das ermüdend sein; vor allem weil Uchida zwar von etwas erzählt, das ihm vertraut ist, er sich aber selbst konsequent rauszunehmen scheint. Der Faszination der Hässlichkeit, die das dargestellte Milieu umgibt, kann man sich als Zuschauer trotzdem nur schwer entziehen. Während andere Filme Illusionen verkaufen, hat es sich dieser zur Aufgabe gemacht, sie zu zerstören. Dran glauben muss vor allem das romantisch verklärte Bild des Künstlers. Das andächtige Leuchten, das Figuren wie Ken und Minami zunächst noch in den Augen haben, als sie Tetsuo gegenüberstehen, treibt ihnen Uchida gründlich aus. Was vom vermeintlichen Glanz der Filmwelt bleibt, ist ein pathologisches Verhältnis zwischen erbärmlichen Aufschneidern und den blinden Opfern, die ihnen verfallen sind.

Michael Kienzl

Lowlife Love - Japan 2015 - Regie: Eiji Uchida - Darsteller: Kiyohiko Shibukawa, Maya Okano, Shugo Oshinari, Yoshihiko Hosoda, Denden, Kanjo Furutachi, Riko Matsui - Laufzeit: 110 Minuten.

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Thaniya Road ist ein Rotlichtbezirk im Zentrum von Bangkok, der einer japanischen exterritorialen Zone gleicht. Auf einem Straßenabschnitt von wenig mehr als 200 Metern reihen sich 200 Bordelle und Nachtclubs aneinander, die sexuelle Dienstleistungen exklusiv an japanische Freier vermitteln. Hier beginnt "Bangkok Nites", der neue Film von Katsuya Tomita, der letzte Woche auf dem Filmfestival von Locarno Premiere feierte. Tomitas Film kreist um die japanisch-thailändischen Beziehungen, die Hierarchien der Sexarbeit in Bangkok und die omnipräsenten Spuren der Vergangenheit in Thailand und Laos.

Ozawa (gespielt vom Regisseur selbst), ein ehemaliger Soldat der japanischen Armee und nun einer der Tausenden von japanischen Freiern in Bangkok, verliebt sich in Luck (Subenja Pongkorn), eine junge Sexarbeiterin. Luck ist die bei den Freiern beliebteste unter den Frauen, die täglich im rosafarbenen Empfangsraum auf einem stufenförmigen Podest um die Aufmerksamkeit der potentiellen Kunden buhlen. Nach einiger Zeit verlässt Luck Ozawa.

Jahre später treffen sich die beiden wieder. Ozawa lebt von Onlinespielen, bei denen um echtes Geld gespielt wird. Trotz seiner präkärer Lebensweise beginnt Luck sich wieder mit ihm zu treffen und nimmt ihn schließlich mit auf einen Ausflug zu ihrer Familie in den Norden Thailands. In vergänglichen Momenten des Glücks stellt Luck Ozawa ihrer Familie und ihren Freunden vor, während der Japaner eine Welt entdeckt, die er zuvor nicht kannte. Das ländliche Thailand erscheint ihm als Paradies - weit weg von seinem Leben in Japan und seiner Armut in Bangkok. Auf dem Land beginnt Ozawa Geister der Vergangenheit zu sehen, einen alten Mann und eine Gruppe von Geisterguerillas aus der Zeit des Vietnamkriegs.

Kurz nach der Rückkehr der beiden nach Bangkok schickt Ozawas ehemaliger Vorgesetzter in der japanischen Armee ihn nach Laos. Ozawa soll das Land und die Situation der jungen Frauen dort erkunden. Gemeinsam mit anderen japanischen Geschäftsleuten plant der ehemalige Vorgesetzte eine Art Altersheim für japanische Rentner inklusive einer jungen Thailänderin als einer Mischung aus Pflegekraft und Sexarbeiterin. Ozawa reist an die thailändisch-laotische Grenze und driftet immer weiter nach Norden. Er reist durch Vang Vieng, eine ehemalige CIA-Basis während des Vietnamkriegs und schließlich bis nach Dien Bien Phu, dem Ort der wichtigsten französischen Niederlage im Indochinakrieg. Ozawa durchquert Landschaften, die sichtbar die Narben des Krieges tragen.

Regisseur Tomita nutzt die Reisen der Protagonisten heraus aus Bangkok, um den Blick der Erzählung zu weiten - sowohl mit Blick auf den historischen Hintergrund als auch für die Umstände, unter denen sich Luck und Ozawa begegnet sind. Die klaren Rollen von Sexarbeiterin und Freier geraten auf der Reise zu Lucks Familie ins Wanken. In einem Interview im Presseheft zum Film erklärt Tomita zwar, dass solche Reisen zwischen Sexarbeiterinnen und Freiern durchaus üblich seien. Im Film betont Luck jedoch, dass sie noch nie einen anderen Mann als Ozawa mit zu ihrer Familie genommen hat.

In einer der eindrücklichsten Szenen nehmen Luck und ihre Freundinnen Ozawa mit zu einem Konzert in einer Bar. Nach einer Weile stimmt die Band auf der Bühne ein Lied an über eine junge Frau, die von ihren Eltern verkauft wurde und vom Wunsch eines jungen Mannes, sie zurückzukaufen und mit ihr zu leben. Schon während der ersten Zeilen stimmt das Publikum im Saal mit ein, singt Wort für Wort mit und ist erkennbar emotionalisiert.

Tomita hat dokumentarische Miniaturen wie diese mit der fiktionalen Erzählung um Luck und Ozawa verwoben. Zahlreiche Schauspieler zehren von ihren eigenen Erfahrungen, viele Nebendarsteller sind auch auf dem Soundtrack vertreten, der unter anderem ein Querschnitt durch die thailändische Musiklandschaft seit den 1960er Jahre ist. Die fiktionale Erzählung hilft, die quasidokumentarischen Porträts der Sexarbeit in Bangkok und der japanischen Gemeinschaft der Stadt zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Nach eigenem Bekunden hat es Tomita mehrere Jahre gekostet, das Vertrauen der Menschen in der Thaniya Road zu gewinnen, um den Film drehen zu können. In den beobachtenden, semidokumentarischen Szenen, die dort entstanden, ist erkennbar, wie sehr das Geschäft mit der Sexarbeit von ökonomischen Hierarchien strukturiert wird.

Seit einigen Jahrzehnten sind zahlungskräftige japanische Geschäftsleute an die Stelle der US-Soldaten getreten, die nach dem Rest and Recreation Vertrag von 1967 während des Vietnamkriegs in das Land kamen. Indem er diese Episode der Geschichte gleichermaßen als Ausgangspunkt für den Boom von Sexarbeit in Thailand und für den Aufstieg des Landes zeigt, entwirft Tomita ein Porträt der fortwährenden menschlichen Verwundungen der Gegenwart.

Nicht jeder Moment der über drei Stunden von "Bangkok Nites" ist bis ins letzte Detail gelungen. Dennoch gelingt es Tomita, eine historische und soziale Konstellation darzustellen und zugleich - durch die fiktionale Erzählung - bei dem Blick aufs große Ganze Einzelschicksale nicht aus den Augen zu verlieren. Die Stärke seines Films liegt in der sorgsamen und doch fragilen Balance der Elemente, die den Film in der Schwebe über den Kategorien des Dokumentarischen und des Fiktionalen, des Politischen und des Beobachtenden halten.

Fabian Tietke

Bangkok Nites - Japan, Thailand, Laos, France 2016 - Regie: Katsuya Tomita - Darsteller: Subenja Pongkorn, Katsuya Tomita, Sunun Phuwiset, Chutlpha Promplang, Tanyarat Kongphu, Sarinya Yongsawat, Hitoshi Ito - Laufzeit: 183 Minuten.

Außerdem diese Woche neu: "Alles was kommt" (OT: "L'avenir") von Mia Hansen-Love. Hier unser Text von der Berlinale 2016.