Im Kino

Todeslotterie

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
27.07.2017. Shell-shocked: einige Gedanken zu Christopher Nolans Kriegsfilm "Dunkirk" und dem Problem der Erfahrung im Kinosaal. Und zu den wenigen verborgenen Schönheiten in John R. Leonettis unbeholfenem Horrorfilm "Wish Upon".

Der Kriegsfilm konfrontiert das Kino, so scheint es, besonders vehement mit dem Problem der Erfahrung. Mit den Bedingungen der und Grenzen von Erfahrung, aber auch mit den eventuellen Risiken und Nebenwirkungen, mit der moralischen Dimension der Kinoerfahrung. Wenn zum Beispiel immer wieder darauf hingewiesen wird, dass es keine "echten" Anti-Kriegsfilme geben kann, dann deshalb, weil man davon ausgeht, dass die Darstellung von Schlachtengetümmel und Bombeneinschlägen automatisch einen Erfahrungsüberschuss produziert, der Krieg allem Schrecken zum Trotz zumindest ein klein wenig sexy erscheinen lässt.

Sam Fuller meinte einmal, dass ein ordentlicher Kriegsfilm eigentlich Gewehrsalven aufs Publikum abfeuern müsste. Prinzipiell ist das so, als würde man sagen, dass ein Filmkuss keinen Sinn ergibt, wenn einem nicht gleichzeitig tatsächlich eine Zunge in den Mund gesteckt wird. Trotzdem kann man den Mainstream des Kriegsfilmgenres seither als einen Versuch beschreiben, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen, insbesondere in den letzten Jahrzehnten: "Saving Private Ryan", "Black Hawk Dawn", zuletzt Michael Bays "13 Hours". Und jetzt Christopher Nolans "Dunkirk". Immerzu fliegt einem alles um die Ohren, ohne Atempause.

Für "Dunkirk" rüstet das Kino noch einmal zusätzlich auf. Man könnte auch sagen: Es wird sich seiner selbst bewusst, es entdeckt - in der Hoffnung, die Kriegserfahrung ein weiteres Mal intensivieren zu können - seine eigene Materialität, es wächst über seine eigenen Grenzen hinaus und es multipliziert sich. Man kann den Krieg diesmal digital oder analog erfahren, im schmalen Normalformat, oder auf der fast quadratischen Imax-Riesenleinwand. Ich hatte das Glück, den Film in der vermutlich definitiven Version sehen zu können: Imax 70mm. In dieser Fassung ist das Bild nicht nur unglaublich detailreich und scharf, in den Kampfszenen (die mindestens zwei Drittel der Laufzeit ausmachen) wird es auch nach oben und unten erweitert. Wenn man da in einer der ersten Reihen sitzt, ist tatsächlich fast im ganzen Gesichtsfeld Krieg. Und die Bässe des Soundsystems wummern einem, wenn Hans Zimmer richtig loslegt, fast den Sitz unter dem Arsch weg.

Es stellt sich die Frage, was für eine Form von Erfahrung überhaupt möglich ist in einem solchen Setting. Jede Erfahrung, die ich mache, ist hoffnungslos überdeterminiert, von gleich mehreren Seiten. Die Leinwand, die vibrierenden Sitze, die Kinoarchitektur, der Vorabhype im Internet, alles das schreit mich an: Du wirst, sollst, musst eine einmalige Erfahrung machen. Die Erfahrung, die ich dann tatsächlich mache (oder eben nicht), steht von Anfang an unter dem Verdacht, dass sie (im positiven oder negativen) ein Reflex auf dieses Anschreien ist. Wenn es funktioniert, wenn ich mich mitreißen lasse, dann kann das auch einfach nur Autosuggestion sein, Genuss auf Befehl; wenn es nicht funktioniert, handelt es sich vielleicht bloß um eine schnöde, trotzige, mindestens genauso unsympathische Verweigerungshaltung.

Natürlich hat Erfahrung immer Kontexte. Ich kann keinem Film jungfräulich begegnen. Aber andererseits hat das Kino eben auch die wunderbare Fähigkeit, mich bis zu einem gewissen Grad aus diesen Kontexten heraus zu reißen, weil es mich in einen dunklen Saal sperrt, auf dem Kinosessel fixiert und nicht mehr von mir verlangt als ein bisschen Aufmerksamkeit und Neugier. "Dunkirk" stellt mich vor ein Problem, aus dem es keinen Ausweg gibt, das aber vielleicht schon für sich selbst eine interessante Erfahrungsdimension darstellt: Zum einen will ich das Drumherum ausblenden, will so tun, als sei das nur ein Film, nur ein Filmerlebnis unter vielen anderen (stimmt ja auch); zum anderen aber will ich den Film natürlich trotzdem, soviel Techniknerd bin ich dann doch, in der idealen, maximal aufgedonnerten Fassung sehen (70mm Imax!).

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Der eigentliche Clou von "Dunkirk" könnte dann darin liegen, dass die Erfahrung, die der Film (mitsamt seiner Kontexte) derart vehement an mich heranträgt, im Kern negativ bestimmt ist: Es geht den britischen Soldaten, die im zweiten Weltkrieg in der nordfranzösischen Stadt Dunkerque von deutschen Truppen eingekesselt sind, in erster Linie nicht darum, etwas Spezifisches zu tun, einen bestimmten Ort zu erreichen, sondern nur darum, etwas Spezifisches zu vermeiden und den Ort, an dem sie bereits sind, zu verlassen. Der ganze Film ist ein Rückzugsgefecht, wobei schon "Gefecht" fast in die Irre führt, weil es eine Reziprozität der Kampfhandlungen impliziert. Tatsächlich ist es aber so, dass die eine Seite schießt und die andere wegrennt.

Die Grundform der Erfahrung, die "Dunkirk" mich machen lässt, ist Hilflosigkeit und Entmächtigung: Kriegsflugzeuge, die aus dem Nichts auftauchen und Bomben über eng gedrängt stehenden Soldaten abwerfen, eine Todeslotterie in Reinform; Gewehrsalven, die einen Schiffsbauch durchlöchern, in dem sich einige wenige Überlebende versteckt haben - durch die Einschusslöcher fallen Lichtstrahlen, die nicht Hoffnung in die Dunkelheit bringen, sondern vom kommenden Tod künden.

Der Film bleibt dabei nicht stehen. Es geht nicht um ein simples, hilfloses Wegrennen, sondern um eine Evakuierung, also um ein zumindest theoretisch geplantes Wegrennen. Genauer: Um ein Operationalisieren des Wegrennens. Deshalb folgt der Film auch nicht, wie die allermeisten Kriegsfilme vor ihm, dem Leidensweg eines einzelnen Soldaten, oder dem langsamen Auseinanderbrechen einer Gruppe von Soldaten. Der Film ist nicht vom Soldat, sondern vom Krieg her gedacht, vom Krieg als einem Netzwerk der Handlungen und Wahrnehmungssplitter, die sich eher zufällig an einzelne Körper heften. "Dunkirk" ist ein Film mit vielen Subjektivitäten, aber ohne ein einziges Individuum.

Es gelingt dem Film dabei, die Erfahrung von Entmächtigung doch wieder in Handlung zu übersetzen - ohne, dass sie deswegen durchgestrichen würde. Die pausenlosen, zielstrebigen Handlungen der vielen und die absolute Ohnmacht des Einzelnen: Das gehört zwingend zusammen, im Krieg und auch in Nolans Film.

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Das bleibt zugegebenermaßen alles reichlich abstrakt. Allzu nahe gekommen bin ich meiner eigenen Erfahrung nicht in diesem Text, trotz meiner grundsätzlichen Faszination für das, was Nolan da versucht (denn zumindest dafür muss man den Regisseur einfach bewundern, was auch immer man sonst von "Dunkirk" halten mag: dass er sich die Freiheit herausnimmt, für 180 Millionen Dollar einen reinen Konzeptfilm zu drehen); vielleicht weist mich das nur darauf hin, dass ich mich der Erfahrung dieses Films bald noch einmal aussetzen muss. Oder es ist lediglich ein Hinweis darauf, dass lieber andere Leute über "Dunkirk" schreiben sollten. In Ekkehard Knörers Text zum Film entdecke ich sehr viel, was ich, wenn ich es lese, auch gesehen und gehört zu haben glaube.

Nur bei einem Halbsatz bin ich nicht ganz dabei: "Es gibt keinen Feldherrenblick aufs Geschehen (...)", schreibt Ekkehard. Ich bin mir da nicht so sicher. Klar, es gibt keinen Feldherrenblick in dem Sinn, dass mir jemand eine Übersicht übers Schlachtfeld anbietet. Aber schon die Tatsache, dass Nolan die komplexe, dreigliedrige Struktur seines Films entlang der drei Truppengattungen moderner Heere - Infanterie, Marine, Luftwaffe - organisiert, verweist darauf, dass die wie stets ausgesprochen kalkuliert-planerische Regie Nolans eine natürliche Affinität zum Feldherrlichen hat. "Dunkirk" ist der Kriegsfilm eines Technokraten. Der aber wunderbarerweise gleichzeitig, und auf derartige Paradoxien stoße ich beim Nachdenken über den Film an allen Ecken und Enden, ein umwerfendes Gespür für Gesichter hat.

Dunkirk - USA 2017 - Regie: Christopher Nolan - Darsteller: Fionn Whitehead, Damien Bonnard, Aneurin Barnard, Barry Keoghan, Mark Rylance, Tom Hardy, Jack Lowlen, Kenneth Branagh - Laufzeit: 106 Minuten.

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Es gibt, davon bin ich fest überzeugt, in jedem Film Schönheiten zu entdecken. In "Wish Upon", dem vielleicht unbeholfensten und dämlichsten Film, den ich dieses Jahr gesehen habe, wäre da zum Beispiel eine Szene, in der die Hauptfigur Clare (Joey King) auf dem Flur der Highschool, die sie besucht, mit ihrer blonden, zickigen Nemesis aneinander gerät. Nachdem Clare, die selbst in der schulinternen Hackordnung auf einer der untersten Stufen steht, sich eine Ohrfeige eingefangen hat, schlägt sie zurück - in einer reflexhaften Geste, die wirkt, als sei sie von ihrer Handlung selbst überrascht; und in ihrem Gesicht zeichnet sich für einen Moment ein genüssliches Lächeln ab, das auf eine bislang unterdrückte sadistische Triebkraft verweist, die für einen kurzen Moment ein Ventil gefunden hat.

Für einen kurzen Moment bricht in dem Film ein gleichzeitig psychologischer und affektiver Abgrund auf, der in ihm eigentlich gar nicht angelegt ist. Wahrscheinlich nicht zufällig findet dieser innere Widerstand seinen Ausdruck im Schauspiel - absurderweise gelingen gerade weitgehend einfallslosen Filmen, die sich kein bisschen für ihre Figuren interessieren, immer wieder derartige Zufallstreffer: Da der Film mit seinen Akteuren eh nichts anzufangen weiß, lässt er ihnen Freiräume, die sie in durchdachteren Filmen gar nicht hätten.

Im Ganzen ist "Wish Upon" allerdings schon ein herausragend einfallsloser Film. Und gleichzeitig, fast noch schlimmer, ein Film, der seine Einfallslosigkeit zu verbergen versucht hinter einem Geschwurbel an Pseudoeinfällen: Das Drehbuch ist ein wüstes Amalgam aus kaum halbverdaute Versatzstücke anderer, oft kaum weniger einfallsloser Horrorfilme, mäandernden Nebenhandlungen, die im Nirgendwo versanden, Nebenfiguren aus der Ethno-Klischee-Rumpelkammer, einer hoffnungslos konfusen Hintergrundmytologie... aber bei all dem ist "Wish Upon", abgesehen von seiner zugegebenermaßen angemessen beknackten Schlusspointe, noch nicht einmal ordentlich deliranter Unfug.


Die Grundform ist strikt mechanistisch: Alles dreht sich um eine mysteriöse Box asiatischen (genauere kulturelle oder geografische Spezifizierungen muss man da wirklich nicht vornehmen) Ursprungs, die sich gleichzeitig als Wunschlampe, als Spieluhr und als Höllenmaschine erweist. Ihrem Besitzer erfüllt sie noch die abseitigsten Begehren - aber bald darauf öffnet sie sich, spielt eine generisch unheimliche Klimpermelodie ab und setzt ein ebenso generisches Horrorfilm-set-piece in Gang: Die Wunscherfüllung zieht einen Blutzoll nach sich.

Die Box bindet alles Begehren und setzt gleichzeitig die Bilder in Gang - in der Theorie ist das eine sogar halbwegs clevere Konstruktion, in der Praxis leider reichlich zäh. Was daran liegt, dass die Regie noch weitaus ungeschickter zu Werke geht als das Drehbuch; vor allem ist John R. Leonetti nicht in der Lage, zwischen wüsten Geisterbahneffekten, popmusikunterlegten Montagesequenzen, social media inserts und schematischem Familienmelodrama auch nur für fünf Minuten eine halbwegs konsistente Tonlage durchzuhalten. Ein Film, so hässlich und unsortiert wie ein Facebookfeed (mit abgeschaltetem Adblocker).

Noch am besten funktioniert das Alles als High-School-Groteske. Die Geplänkel zwischen In- und Outsidern vor und in den Klassenzimmern sind zwar keineswegs gut beobachtet, aber immerhin mit einem gewissen Willen zur ornamentalen Übertreibung ausgestaltet. Wenn Clare zu Filmbeginn in Besitz der Box gerät, wünscht sie erst einmal der zickigen Blondine die Krätze an den Hals. Auf die folgende Demütigung der High-School-Queen verwendet der Film deutlich mehr Energie als auf die lieblos abgehandelten Kill-Szenen, die in regelmäßigen Abständen über den Film hereinbrechen. Wenig später kommt Clare auf die Idee, ihre neuerworbene Macht dafür zu benutzen, den bislang aus der Ferne bewunderten, hervorragend tumben Ober-Jock Paul (Mitchell Slaggert) an sich zu binden. In der völlig absurden Teenie-Romanze, die sich im Anschluss entspinnt, erreicht der Film gelegentlich doch jene deliranten Höhen, die er sich ansonsten leider versagt.

Man hat den Eindruck, dass beide Seiten den Versuch unternehmen, auf Teufel komm raus ein Liebesskript auszuagieren, das ihnen innerlich zutiefst fremd bleibt. Und das zumindest Paul kognitiv hoffnungslos überfordert. "I was thinking of something dope to say before I kissed you", meint er einmal zu Clare, nachdem die ihn mit ihrem Liebeszauber behext hat. Um nach einer kurzen Pause belämmert hinzuzufügen: "Well, that wasn't it." Wie gesagt: Es gibt in jedem Film Schönheiten zu entdecken. Noch der wohlwollendste Betrachter wird sich allerdings wünschen, dass ihm der Film bei seiner Suche etwas weiter entgegen kommt, als "Wish Upon" das tut.

Lukas Foerster

Wish Upon - USA 2017 - Regie: John R. Leonetti - Darsteller: Joey King, Ryan Phillippe, Ki Hong Lee, Mitchell Slaggert, Shannon Purser, Sydney Park - Laufzeit: 90 Minuten