Im Kino

Hinschauen ist besser als wegschauen

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
09.09.2022. Ein Anwalt in New York, eine Lehrerin in Paris, ein Paar in Tokyo: Bei den Filmfestspielen in Venedig wurden traditionelle, private Geschichten erzählt, in denen der Krieg allenfalls von ferne grummelte. Dem einzelnen Regisseur ist es unbenommen, so zu erzählen, aber darf ein Festival so kuratieren? Immerhin: zwei Dokumentarfilme aus der Ukraine entrissen das Publikum seiner Wohnzimmerhaftigkeit. Eine andere Frage: erlebt das Kino wirklich eine Renaissance?
Der Krieg ist hier nur der ferne Widerhall des Geschützdonners vom Festland, er ist der Widerschein der Explosionen am Horizont. Auf der wildumtosten Insel Inisherin vor der irischen Atlantikküste sind die Weltläufte noch nicht angekommen. Man lebt hier friedlich und freundlich auf vormoderne Weise vor sich hin. Pittoreske Häuschen im warmen Licht, täglich ein Pint im Pub, Bilder, die vielleicht selbst der irischen Tourismuswerbung zu klischeehaft wären. Aber dann geschieht etwas Unerhörtes in Inisherin, und das Unerhörte hat nichts mit dem Krieg zu tun, jedenfalls nichts Unmittelbares. Der Krieg ist überdies auch nicht der aktuelle Krieg, denn die Geschichte auf der erfundenen Insel-Idylle spielt vor beinahe hundert Jahren, als in ganz Irland der Bürgerkrieg tobte. In fast ganz Irland. Auf Inisherin nicht.

Wie aus der Tourismuswerbung, aber der Schein trügt: Szene aus  "The Banshees of Inisherin".


"The Banshees of Inisherin" ist der neue Film von Martin McDonagh, der am Mittwoch auf dem 79. Filmfestival von Venedig Weltpremiere feierte, stargepickt unter anderem mit Colin Farrell und Brendan Gleeson. McDonagh hat mit seinem letzten Film "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" vor fünf Jahren zwei Oscars gewonnen und ist mit jenem Film in vieler Hinsicht der Antwort auf die Frage nähergekommen, was eigentlich in der US-Provinz passiert ist, dass Donald Trump und die Seinen so stark geworden sind. Jetzt aber liefert er uns diese ferne Geschichte von der abgelegenen Insel, die die Welt nichts anzugehen scheint. Eine Geschichte, die vordergründig nur eine harmlose schwarze Komödie über ein paar provinzielle Dösköppe ist, nichts als L'art pout l'art.

Der Film ist bei näherer Betrachtung mehr als das, soviel sei vorweggenommen. Und einen Tag vor der Preisverleihung ist er einer der Favoriten auf den Goldenen Löwen des Festivals. Dennoch muss man feststellen, dass es das ganze Festival so ähnlich macht wie McDonagh in seinem Film: Es hält den Krieg auf Abstand, es wirft den Blick auf die Weltläufte meist nur aus der Ferne. Sicher, Ukraine-Präsident Wolodomir Selenski sprach per Video auf der Eröffnungsgala und außer Konkurrenz liefen zwei bemerkenswerte Dokumentationen aus der Ukraine. Aber in den Filmen im Hauptprogramm interessiert sich dieses Festival für persönliche Beziehungen, vor allem für die Dramen zwischen Väter und Söhnen, Müttern und Töchtern. Es geht somit viel um das, was man bis vor kurzem noch verächtlich "First world problems" genannt hat. Aber seit der Krieg im Februar in mancher Weise auch in die first world einbezogen hat, muss man sagen, dass der Blick eigentlich noch enger ist. Dazu trägt auch bei, dass die Filme im Wettbewerb dieses Festivals aus Westeuropa und Amerika kommen, einer aus Japan, einer aus Argentinien, wie vor fünfzig Jahren (Ausnahme in dieser verstörenden Verengung sind zwei durchaus wichtige iranische Filme, die es nach Venedig geschafft haben). Und dann geht es in diesen nach alter Lesart westlichen Filmen dann um Probleme einer idyllischen Welt, die es eigentlich schon in Zerfall begriffen ist. So ähnlich wie bei McDonaghs Insel.

Da muss man schon die Frage aufwerfen: Darf man das? Darf man in einer solchen Lage konstruierte Dramen von erfundenen Eilanden erzählen als lebten wir in Shakespearses Zeiten? Kann man sich da noch zurückgelehnt anschauen, wie zum Beispiel ein reicher Anwalt in New York sein Familienleben nicht in Griff bekommt, eine gesettelte Lehrerin in Paris mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch nicht klarkommt oder ein Paar in Tokio seine Ehe zu retten versucht und dergleichen mehr? Wahrscheinlich darf und kann man das schon mal tun, auch wenn es manchmal doch aufs Gewissen schlägt. Wahrscheinlich kann und darf man es, weil wir ja nicht aufhören können, die universellen Fragen menschlicher Beziehungen zu verhandeln, nur weil ein Land unter Führung eines Terroristen Voraussetzungen für menschliche Beziehungen zu zerstören sucht. Dem einzelnen Film kann man schlecht vorwerfen, dass er sich in diesen Zeiten nicht ganz Diktatur oder Krieg widmet. Den Festivalkuratoren allerdings muss man die Frage schon stellen, warum sie die Welt nicht stärker in Blick genommen haben in einem Moment, in dem es die Welt brauchen könnte, dass mal wer hinsieht.

An "The Banshees of Inisherin" kann man allerdings sehen, wie eine vordergründig harmlose Geschichte ganz tief gehen kann. In dem Inselfilm geht es darum, dass der alte Inselbewohner Colm dem etwas Jüngeren Padraic die Freundschaft aufkündigt. Er macht das, weil er sich künftig seinem Musikgefiddel und der Unsterblichkeit widmen will, anstatt jeden Nachmittag mit Padraic in den Pub zu latschen. Wir sehen hier gewissermaßen die Verfilmung von dem berühmten Satz des französischen Mathematikers Blaise Pascal, demzufolge das ganze Unglück der Menschen daher rührt, "dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen". Oder eben friedlich neben Padraic im Pub auf der Insel Inisherin vor ihrem Glas Guinness hockenbleiben. Dass sich Colm stattdessem dem Gefiddel widmen will, ist nämlich seinem plötzlichen Wunsch zu verdanken, dass etwas von ihm überdauere. Padraic dachte, es reiche, einfach nur nett zu sein. "Kennst Du den Namen von irgendwem, der im 17. Jahrhundert nett war?", schleudert Colm ihm entgegen. Mozart hingegen, der im 17. Jahrhundert Musik geschaffen habe, kenne jeder, ganz unabhängig davon, ob er nett war. Dass Padraic nicht mal von Mozart gehört hat und Colm sich mit diesem hundert Jahre vertut, ist Teil des Humors dieses Films. Vom Festland kommen Musikscholare und zeichnen Colms Noten auf, Padraics Schwester hingegen verschwindet auf das Festland, weil nur da ihr Interesse für Bücher eine Perspektive findet. Man könnte sagen, die Moderne schleicht sich doch noch untergründig auf die Insel. Und Padraic? Er folgert, dass er nicht mehr nett sein kann. Und dann wird er, unter Qualen zwar, böse, terroristisch gar. Und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Dass das Ganze funktioniert, liegt daran, wie genau die Welt dieser Insel gebaut ist, wie zwingend die Geschichte sich abspult, und wie lustvolle Schauspielerei und liebevolle Dekoration ineinandergreifen mit einer geradezu Oldschool-Kameraarbeit: Endlich wieder opulente Bilder auf einer breiten Leinwand, Bilder die für das Kino gemacht sind, endlich wieder ein richtiger Kinofilm, der intelligent ist und populär werden kann, der leichtfüßig und komplex ist! Nach derlei lecken sich Festivals und Jurys die Finger und Oscar-Akademiemitglieder auch.

Ist das schon die Renaissance des richtigen Kinos? Das ist ja das andere große Thema auf dem Festival: Die Frage, ob das Kino sich noch gegen das Streaming-Erzählen behaupten kann. Einerseits scheint die Frage schon beantwortet in Zeiten, in denen Amazon fast eine halbe Milliarde Dollar für eine Serie aus dem "Herr der Ringe"-Kosmos ausgegeben hat. Seit Corona haben Studios für den Bildschirm produziert und nicht mehr für die Leinwand. Das sah (und sieht) man vielen Produktionen auch an. Gerade das Festival in Venedig hat Streaming-Produktionen von Netflix, Amazon und Co. in den vergangenen Jahren geradezu umarmt und tut das auch dieses Jahr wieder. Aber es ist dennoch jetzt zu beobachten, dass Kino für das Kino noch nicht ganz tot sind. Dass manches doch noch wiederkommt, eine Reihe von Filmen zelebrieren das in der Manier von "The Banshees of Inisherin"

Ähnlich streamingumarmend wie Venedig sind auch die Oscars geworden, und Venedig war auch in diesem Jahr wieder das große Schaulaufen für den wichtigsten Hollywood-Filmpreise. Als einer der Kandidaten wird schon in Venedig Brendan Fraser für "The Whale" gehandelt, dem neuen Film von Darren Aronofsky. Brendan Fraser, Star der Neunziger ("Die Mumie", "Die Mumie kehrt zurück") kehrt hier selber zurück, jetzt als schwer übergewichtiger Literaturdozent, der auf seine von ihm lange vernachlässigte Tochter trifft, bevor er stirbt. Die Konstruktion des Films ist zwar eindeutig Leichtbau, auf effektvolle Dialoge ausgerichtet und dem voyeuristischen Grusel, einem 200-Kilo-Mann bei der Selbstzerstörung zuzusehen. Aber leider führt ja Freakshow manchmal zum Preis- und Publikumserfolg.

Brendan Fraser in "The Whale"



Von ähnlich zweifelhafter Qualität ist das Marilyn-Monroe-Biopic "Blonde" von Andrew Dominik, koproduziert unter anderem von Brad Pitt für Netflix und ein eher schlechtes Beispiel, wohin die Netflixisierung führt: Der Film gibt vor sich (auf Grundlage von Joyce Carol Oates' Roman "Blond") der Introspektion der Hollywood-Schauspielerin zu widmen. In Wahrheit aber wirkt er bei allem, was Innensicht sein soll, heillos spekulativ, weidet sich an der Selbstzerstörung anstatt sie zu erklären. So tut er seiner Figur noch einmal all das an, wovor er sie zu schützen vorgibt. Das Ganze tut Dominik dann auch noch, indem er geschlagene Zweidreiviertelstunden lang ein unheilvolles Getöse abfeiert, ästhetisch, dramaturgisch, musikalisch. Dass zwischen alldem die geborene Kubanerin Ana de Armas durchaus Monroe-artige Präsenz zu produzieren vermag (und sich dabei vielleicht in Oscar-Diskussionen bringt), hilft in den moralischen und narrativen Trümmerfeld nicht weiter.  

Da sehen wir es aber bereits, das Thema dieses Festivals: Väter, Mütter und von ihnen alleingelassene Kinder. Das berührt sowohl das Übergewichtsdrama "The Whale" als auch der Monroe-Film, der die Ex-Waisenhausbewohnerin Norma Jean einseitig als ein Mädchen schildert, das bei der lebenslangen Suche nach ihrem abwesenden Vater scheitert. Das Thema von Vater und Sohn hingegen zelebriert "The Son", der neue (amerikanische) Film des französischen Theaterautors und Filmemachers Florian Zeller, der mit seinem Erstling, dem Demenzdrama "The Father" mit Anthony Hopkins und Olivia Colman vor zwei Jahren bei den Oscars reüssiert hat. Nun also nach "The Father" "The Son" ("The Mother" soll als nächstes folgen). Dieses Mal sind Hugh Jackmann, Laura Dern und Vanessa Kirby die Stars. Der Vater ist ein erfolgreicher Anwalt in New York, der bei seinem Teenagersohn alles viel besser machen will als der eigene Vater und doch scheitert. Es ist ein emotional außerordentlich dichter Film über einen depressiven Teenager und eine First-World-Problems-Boomergeneration, die sich so in ihrer alten Idee von Erfolg und Glück verfangen hat, dass sie es gar nicht sehen kann, wenn ihre Nachkommen gänzlich andere Bedürfnisse haben. Und doch ist die Geschichte etwas zu glatt artifiziell und theaterhaft (tatsächlich adaptiert Zeller hier sein eigenes Bühnenstück), um einen Preis wirklich verdient zu haben.

Einen Mutterfilm zeigt dagegen die französische Regisseurin Rebecca Zlotowski, die sich in die überhaupt sehr starke (sowohl zahlenmäßig als auch qualitative) Präsenz französischer Filme auf dem Festival einreiht. In "Les Enfants des Autres" spielt Virginie Efira eine vierzigjährige Lehrerin, die zwar gar nicht Mutter ist, aber es gerne würde und sich auch schon um die viereinhalbjährige Tochter ihres Freundes Ali kümmert. Zlotowski setzt beherzt Mittel der romantischen Komödie ein. Trotzdem kommt der Film ohne Klischees oder Effekte oder dialogische Zuspitzungen und Kurzschlüsse aus, die bei dem Thema einer mittelalten Frau, bei der die Uhr tickt, doch so naheliegen. Und in dieser Hinsicht liefert die Französin den wohltuenden Gegenpart zu einem Film wie "The Son", der mit emotionalem Donnerhall vorgeht. Für einen Hauptpreis ist "Les Enfant des Autres" vielleicht zu routiniert, aber Virginie Efira als Hauptdarstellerin hätte für ihr klug moduliertes Spiel schon einen Darstellerpreis verdient.

Und damit, bevor auch wir ihn hier fast vergessen, zum Krieg. Der belorussisch-russisch-ukrainische Regisseur Sergej Losnitza hat sich schon 2018 mit dem Krieg im Donbass und den Grausamkeiten der russischen Armee und der von ihr gestützten Pseudorepubliken beschäftigt. 2014 hat er in einem panoramaartigen Dokumentarfilm die Proteste auf dem Maidan in Kiew verarbeitet, die zur Annexion der Krim und damit zum Beginn der Aggressionen Russlands gegen sein Nachbarland führten. Jetzt zeigte er in Venedig außer Konkurrenz "The Kiev Trials" und anders als man vermuten könnte, geht es in den im Titel angesprochenen Prozessen nicht um den aktuellen Krieg gegen die Ukraine, sondern um den letzten.

Mit der Hinrichtung der Täter endet die Geschichte nicht. Bild aus "The Kiev rials".



Losnitza hat die Filmaufnahmen der Prozesse gegen die Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs verarbeitet und damit unglaublich aktuelle und sehenswerte Zeitdokumente ans Licht geholt. Man sieht die Offiziere der Wehrmacht präzise schildern, wie sie zum Beispiel Dörfer ausrotteten, weil man ihnen gesagt hat, diese seien "von Partisanen durchseucht", wie sich einer von ihnen ausdrückt. Man blickt auf die Unbekümmertheit, auf die Banalität und Wohnzimmerhaftigkeit der deutschen Täter, wie sie sich hier in den militärischen Ton flüchten, dort in die Ausflucht, dass man das Ausmaß des von ihnen geschaffenen Grauens nicht habe überblicken können. Es folgen Zeugenaussagen aus dem Vernichtungskrieg, wir blicken auch auf das zerstörte Kiew und sehen, wie die Täter gehängt werden vor einer Kulisse aus Tausenden Zuschauern und Stalin-Porträts. Und wir wissen schon, dass das Grauen nicht zu Ende ist, obgleich im Film der Chefankläger sein Schlusswort beendet, indem er die Hoffnung äußert, der Prozess möge dazu beigetragen haben, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.

Und dann sieht man im Kino die Grauen von heute. Der Dokumentarfilm "Freedom on Fire: Ukraines Fight for Freedom" von Evgeny Afineevsky zeichnet mithilfe privater Videos und dem Material unabhängiger Journalisten nach, was der Krieg der russischen Föderation gegen die Ukraine anrichtet. Die tagesaktuellen Bilder, etwa aus Mariupol oder Butscha werden ihrer Aktualität entrissen und man folgt einem beklemmenden, von der Opferperspektive geprägten Blick auf die Geschehnisse. Natürlich kann solch ein Film nicht nur kühl-journalistisch sein und natürlich ist bei diesem Krieg Parteinahme fast unvermeidlich. Einer der Protagonisten in "Freedom on Fire" ist ein in Kiew lebender Russe, der sich der ukrainischen Selbstverteidigung anschließt. Er sagt, in diesem Fall gebe es nun einmal erkennbar schwarz und weiß, damit sei man gefordert, zu entscheiden, wo man steht. Für alle Berichterstatter - und eben auch Filmemacher - in der Ukraine, stellt sich dennoch die Frage, wie weit diese Parteinahme gehen kann. Afineevsky verwendet auch Material aus dem ukrainischen Außen- und Verteidigungsministerium und weist das klar aus. Er flicht in seinem Film einen arg verkürzten Überblick über die ukrainische Geschichte ein. Welche Grenze muss man ziehen, um mitfühlender Beobachter zu bleiben, ohne zu riskieren, dass man wie ein Propagandist klingt? Auch diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Was man hingegen hier klar feststellen kann: hinschauen ist besser als wegschauen. Sonst geht es in der Ferne weiter.


Lutz Meier
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