Im Kino

Gemeinsamer Nicht-Ort

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Patrick Holzapfel
22.01.2020. Gavroche heißt jetzt Issa: Ladj Ly liefert mit seinem vulkanischen Banlieue-Drama "Die Wütenden" die moderne Version von Victor Hugos großem Aufstandsroman "Les Misérables". Taika Waititis neuen Film "Jojo Rabbitt" muss man nicht unnötig problematisieren: wenn der Film eine Sache richtig gut macht, ist es seine eigene Blödheit hinter der frischen Brise gut gemachter Unterhaltung zu verstecken.
Jedes Schulkind in Frankreich kennt Montfermeil als Schauplatz von Victor Hugos Roman "Die Elenden". In dem Ort vor den Toren von Paris wuchs die kleine Crosette bei den verrohten Wirtsleuten Thénadier auf, bis der edelmütige Ex-Sträfling Jean Valjean sie zu sich holte. Von hier stammt natürlich auch der verlorene Sohn der Thénadiers, der Straßenjunge Gavroche, der später auf den Barrikaden von Paris sterben wird. Noch in seinen letzten Augenblicken verspottete Gavroche singend die Unterdrücker, die in der Aufsässigkeit des Volkes den schlechten Einfluss der Philosophen sehen. Als hätten die ihnen mit der Aufklärung nur Flausen in den Kopf gesetzt: "Ich lebe frei von ungefähr, doch schuld daran ist nur Voltaire. Ich schlafe in des Elends Stroh, doch Schuld daran ist nur Rousseau."



Heute gehört Montfermeil zusammen mit Clichy-sous-Bois zur Banlieue von Paris. Hier stehen die riesigen Sozialbauten von Les Bosquets, hier nahmen die Unruhen von 2005 ihren Ausgang. In Montfermeil tritt auch Stéphane in Ladj Lys Vorstadt-Drama "Die Wütenden" seinen ersten Tag bei der BAC an, der auf dieses Territorium spezialisierten Brigade Anti-Criminelle. Er hat sich hierher versetzen lassen, um näher bei seinem Sohn zu leben, für den seine Ex das Sorgerecht hat.

"Hat sich ja nicht viel verändert hier", bemerkt Stéphane trocken, während er mit seinen beiden Kollegen im Auto durch die Straßen kurvt. "Nur dass Gavroche jetzt Gaverrroche heißt", antwortet Chris und äfft dabei einen afrikanischen Akzent nach. Gwada lacht. Er ist in Montfermeil zu Hause und muss doch immer beweisen, dass er dazu gehört. Chris ist der Chef des Trios, ein gescheiter, aber aufbrausender Typ. Er steht im permanenten Kampf gegen die Brutalität der Welt. Aber er knöpft sich auch gern junge hübsche Mädchen vor, um ihnen seine Macht zu demonstrieren. Er wird als das rosa Schweinchen verhöhnt, hundert Prozent halouf. Er ist vielleicht kein Schwein, aber hundert Prozent ist er auch nicht mehr. Alexis Manenti, der auch das Drehbuch mitgeschrieben hat, spielt ihn mit faszinierender Fiesheit.



Es ist Sommer, und für den Tag sind fünfunddreißig Grad angekündigt. Auf dem Polizeirevier hoffen sie, dass die Temperaturen die erhitzten Gemüter erschlaffen lassen. Bei dreißig Grad wären alle draußen, um Mist zu bauen, bei vierzig würden die Frustrationen überkochen, aber fünfunddreißig seien perfekt, bemerkt die Divisionskommandantin, wie in einer Referenz an Spike Lees "Do the Right Thing", dem Urfilm der großstädtischen Revolte. Jeanne Balibar spielt in einem kurzen Auftritt diese so herrisch-kühle wie aufreizende Kommandantin, die es genau versteht, die aggressive Maskulinität der Truppe noch anzustacheln. Ansonsten spielen Frauen in dieser Welt keine Rolle.

Montfermeil ist eine Männerwelt: Hier ein Gefährder, der drei Jahre in Syrien war, da die Nigerianer, die die Prostitution kontrollieren, dort eine Gruppe Halbstarker mit Kohldampf, aber ohne Geld. Der Staat hat sich zurückgezogen, die Schulen sind im Sommer geschlossen, die Häuser wurden seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert, von einem Krankenhaus bekommt man auch nichts mit. Wer Rabatz macht, bekommt es mit den Bärtigen zu tun: "In der Religion ist gutes Benehmen wichtig, kleine Brüder!" Aber es gibt auch den "Bürgermeister". Ein jovialer, volkstümlicher Typ. "Le Maire" steht groß auf dem Fußballtrikot, das er trägt. Er regelt die Dinge, passt auf, schickt Putztrupps los, organisiert einen Eisstand für den Markt. Kein Mensch weiß, woher seine Autorität rührt, aber alle nehmen sie hin. Ist er der Obama von Montfermeil? Oder der moderne Jean Valjean?



Im französischen Original heißt der Film direkt "Les Misérables". Mit seiner Anlehnung an Hugo greift Ladj Ly hoch, doch allzu eng darf man sie sich nicht vorstellen. Er entleiht dem Roman den Titel, natürlich auch die Nobilität und einige entscheidende Motive: "Es gibt Unkraut so wenig wie es schlechte Menschen gibt, es gibt nur schlechte Gärtner." Gavroche heißt jetzt Issa, nicht "Gaverrroche". Und er wird nicht sterben. Die Frage ist, ob er töten wird.

Der junge Issa ist bei Ly die zentrale Figur. Er hat einen ganzen Sack voller Hühner gestohlen. Der Vater ist überfordert, er fleht die Polizei an, seinen Sohn dazubehalten. Aber die kann im 21. Jahrhundert über einen Hühnerdieb nur lachen. Doch Issa braucht die Hühner, weil er aus dem Zirkus ein Löwenbaby geklaut hat, und das finden die Zigeuner, die eben noch so einladend mit ihrem bunten Wagen durch die Straßen fuhren, überhaupt nicht lustig. Das BAC-Trio macht sich auf die Suche: Auf Instagram, weil die bescheuerten Kinder natürlich mit so einem Fang angeben müssen. Beim Bürgermeister, weil seine Kehrtrupps das Viertel im Blick haben. Beim Muslimbruder Salah, der nach seiner Zeit im Knast nun einen Imbiss führt und sich als geläuterter Mann seinen Mitmenschen verpflichtet fühlt. Bei den Drogenbossen, weil sie die meisten Muskeln besitzen. Sie finden den Löwen, sie finden Issa, und der Ärger geht los: Seine Kameraden versuchen ihn aus den Händen zu befreien, ein Schuss geht los, und ausgerechnet der scheue Buzz hat alles mit seiner Drohne gefilmt.

Wie die Flash Ball der BAC explodieren die mühsam unter Kontrolle gehaltenen Kräfte. Das Gleichgewicht des Schreckens, das zwischen Polizei, Jugendlichen, Banden und Muslimbrüdern herrscht, gerät außer Kontrolle. "Das Recht bin ich" wird Chris in einem verzweifelten Versuch rufen, die Oberhoheit oder wenigstens Legitimität zurückzugewinnen. Doch in Montfermeil ist auch die BAC nur eine Gang unter vielen.



"Die Wütenden" sind nicht erst der erste Film über die Banlieue. Jacques Audiard hat in "Dheepan" Willkür und Gewalt zu einem Western umgeschrieben, Céline Sciamma hat in "Bande de filles" von dem chancenlosen Leben junger Mädchen aus der Vorstadt erzählt, ohne dass sie oder die Zuschauer auch nur einen einzigen weißen Franzosen zu Gesicht bekämen. Und die unbegreiflicherweise hierzulande ignorierte Krimiserie "Engrenages" zeigte Leben und Verbrechen in der Banlieue so komplex, wie "The Wire" es mit Baltimore tat. Aber mit einer solchen Intensität, Energie und Dringlichkeit hat noch niemand gezeigt, wie sich Macht und Gewalt in den Vorstädten von Paris zementiert haben.

Der Druck im Film baut sich stetig auf, geradezu körperlich spürbar, und doch schockiert der Wille zur Vernichtung, der am Ende des Films geradezu vulkanisch ausbricht. Es wird nicht nur ein wilder Aufstand gegen die Polizei, sondern gegen alle, die sich Autorität anmaßen. Ist das der berühmte Zornesausbruch der Wahrheit? Seit der Film den Preis der Jury in Cannes erhielt, steht Frankreich unter Schock.

"Die "Wütenden" ist Ladj Lys erster Spielfilm, doch seit Jahren dreht er Dokumentarfilme über Montfermeil, im Verbund mit dem Kollektiv Kourtrajmé (ein Verlan-Begriff aus court métrage). Kaum wurden "Die Wütenden" für den Oscar nominiert, brachten zwei Magazine der extremen Rechte wieder eine alte Geschichte hoch, derzufolge Ladj Ly 2011 wegen Freiheitsberaubung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Ly hat seine Vergangenheit, keine Frage, aber weil Causeur und Valeurs actuelles ihm einen versuchten Mord andichteten, hat er gegen sie Anzeige wegen Verleumdung erstattet.



Doch vielleicht entgeht Ly, gerade weil er eine Vergangenheit hat, auch der Gefahr, aus einer Position der Unschuld zu sprechen. Ly interessiert sich nicht für Unschuld, sondern für Schuld. Wieviel davon können wir hinnehmen? Bei wem nehmen wir sie hin? Wenn Issa malträtiert, erschöpft und kraftlos nur noch nach Hause wanken kann, gibt ihm Christ noch eine Predigt mit auf den Weg: "An dem Ärger bist nur Du selbst schuld. Weil Du immer Mist baust." Auch das ist ein Motiv, mit dem er sich bei Hugo anlehnt: Der schlechte Arme erscheint immer ein bisschen abstoßender als der schlechte Reiche.

Thekla Danneberg

Ladj Ly: Die Wütenden. Mit Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, Issa Perica und Jeanne Balibar. Frankreich 2018. 102 Minuten.

***

Alles so süß: ein junger Bub, blond, rote Wangen und herzergreifend fanatisch voller Vaterliebe möchte dazugehören, aber kann nicht, weil er eigentlich ganz anders ist. Seine Mama, besorgt liebend, schützt ihn weniger vor sich selbst als vor möglichen Enttäuschungen. Sie hat zu kämpfen mit ihrer alleinerziehenden Rolle und den Bewegungen der Welt. Der Junge muss lernen, sich selbst zu entdecken, die Schnürsenkel zu binden, Schmetterlinge im Bauch zu spüren. Er muss verstehen, was gut und was böse ist. So weit die Formeln eines Coming-of-Age Films, wie sie der angesagte, das heißt hippe Filmemacher Taika Waititi bereits in einigen wenig bekannten Filmen in Neuseeland realisierte. Die Krux bei der Sache ist das Setting, denn "Jojo Rabbit" ist während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland angesiedelt und das, was der Junge so gerne wäre, ist ein Nazi.

Um dieser für das zeitgenössische Hollywood durchaus gewagten Pitching-Idee die Stahlhelmkrone aufzusetzen, hat Waititi dem Jungen, der auf den Namen Johannes hört, einen imaginären Freund herbeigeschrieben - und zwar Adolf Hitler, gespielt von Waititi selbst. Wen sonst sollte Johannes auch idealisieren? Hitler taucht von Zeit zu Zeit auf und gibt Johannes absurde Ratschläge. Er liegt im Bett des Jungen, verspeist ein Einhorn oder rennt mit ihm durch den Wald. Die sich daraus eröffnenden Möglichkeiten eines wirklich wilden, gefährlichen, problematischen Films verpuffen in den Mechanismen einer allzu perfekten Dramaturgie. Fehltritte gibt es nicht, ein seltsamer, weil kalkulierter Humanismus stülpt sich über jede Szene, das Setting und Hitler werden mehr und mehr zum reinen Gimmick für die universale Geschichte einer jugendlichen Öffnung hin zum eigenen Ich. Geholfen wird Johannes dabei vom jüdischen Mädchen Elsa, das von der Mutter im Haus versteckt wird. In leichten und dialektischen Dialogen lässt sie ihn erkennen, dass das Fremde nicht unbedingt das Unheimliche ist.

Szene aus "Jojo Rabbitt"


Manchmal findet der Film eine eigene, durchaus spannende Dialektik, in der sich das Komische und das Geschichtsmoralische verbinden. Etwa zu Beginn, als man den Beatles-Hit "Komm, gib mir deine Hand" in deutscher Version hört, während man eine Montagesequenz des Hitlergrußes sieht oder in der verbitterten Figur des Captain Klenzendorf (Sam Rockwell), der in sich den Sadismus und die Müdigkeit des dauernden Drills als körperlichen und sprachlichen Ausbruch vereint. Gekonnt führt der Film Antisemitismus und Fremdenhass ad absurdum. Aber jenseits eines amüsierenden Charmes und einer oberflächlichen Korrektheit lässt sich aus dieser auf dem Papier so gewagten Verknüpfung von clownesken Bewegungen und ernster Thematik nichts erkennen. Der Film berührt nur da, wo er zeit- und ortlos bleibt. Damit ist er trotz seiner frisch wirkenden Synopsis ein typischer Indikator für die globalisierten, entlokalisierten Welten des amerikanischen Mainstreams heute. Ein gemeinsamer Nicht-Ort, an dem alle einfachstes Englisch sprechen und niemand wirklich irgendwo herkommt, außer aus dem größten gemeinsamen Nenner emotionaler Bilderklischees.

Von Chaplin und Lubitsch bis zu Jerry Lewis und Sokurow hat die Repräsentation von Hitler mit komödiantischen Untertönen einige herausragende Filme hervorgebracht. Immer hat man dabei gespürt, dass die Filmemacher vor einem Problem standen. Bei Waititi ingegen wirkt Hitler wie eine Lösung. Ein Hitler, der nicht Hitler sein müsste, aber es eben ist, weil es dann lustiger ist? Diese Feststellung soll den Film nicht unnötig problematisieren, denn eigentlich geht es in "Jojo Rabbit" um gar nichts. Das zeigt sich spätestens, wenn am Ende in den Trümmern getanzt wird und sich das nicht mal falsch anfühlt. Denn wenn der Film eine Sache richtig gut macht, ist es seine eigene Blödheit hinter der frischen Brise gut gemachter Unterhaltung zu verstecken. Wer denkt, verliert hier.

Patrick Holzapfel

"Jojo Rabbit" (mehr in der IMDB) - Regie: Taika Waititi - Darsteller: Roman Griffin Davis, Thomasin McKenzie, Scarlett Johansson, Taika Waititi, Sam Rockwell - Laufzeit: 108 Minuten.