Im Kino

Geist in der Katze

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Patrick Holzapfel
02.09.2021. In Azazel Jacobs' "French Exit" spielt Michelle Pfeiffer eine Witwe, die mit ihrem Sohn nach Paris fährt, um ihr restliches Geld auf den Kopf zu hauen. Denn wer will schon reich sterben?  Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer und Isabelle Tollenaere haben für ihre Doku "Viktoria" ein Jahr lang einen jungen Mann begleitet, der in einer Geisterstadt in der Mojave Wüste lebt.


Alternde Schauspielerinnen haben es bekanntlich schwer in Hollywood, wo man Zuschauer gern mit erlogener Unsterblichkeit konfrontiert. Ein Schlupfloch bietet die amerikanische Liebe für Comebackgeschichten, also Darbietungen eigentlich längst vergessener Darstellerinnen und Darsteller, die meist in menschenverachtende Oscarkampagnen münden, um ein letztes Mal die Überwindung der Vergänglichkeit zu zelebrieren.

Michelle Pfeiffer reiht sich in der Patrick DeWitt-Adaption "French Exit" mit ihrer süffisanten Interpretation der am Abgrund wankenden High-Society-Witwe Frances Price in die Namensliste derer ein, die vom Kino noch einmal mit neuen Augen entdeckt werden. Wirklich weg war Pfeiffer nie, auch wenn sie sich längere Auszeiten für ihre Familie nahm. Aber in einer solch fulminanten Mischung aus der für sie typischen Entrücktheit und einem selbstbestimmten, alles wegwerfenden Trotz hat man die ehemalige Catwoman noch nie gesehen.

Alles in diesem Film von Ken Jacobs Sohn (der Apfel ist weit vom Stamm gefallen), Azazel Jacobs ist auf Pfeiffer ausgerichtet. Ihre Frances lebt seit 12 Jahren als alleinerziehende Mutter eines Sohnes vom Geld ihres verstorbenen Mannes im kalten Manhattan der Salonlöwen, zusammen mit einer mysteriösen schwarzen Katze. Das viele Geld hat sie längst aufgefressen, als sie kurz vor der Pleite steht und sich entscheidet, zusammen mit Sohn Malcom (gespielt von Lukas Hedges, der wie alle andere Darsteller größtenteils als Spielball für Pfeiffer besetzt ist) und der Katze nach Paris zu reisen, um das letzte Geld ihres Ehemanns aus dem Fenster zu werfen.



Sie wolle sterben, sagt sie, bevor das Geld aus ist. Was folgt, ist ein zwischen absurdem Irrsinn, übersinnlicher Katharsis und anarchistischer Lebensverneinung fließender Film. Man denkt ein wenig an Aki Kaurismäki oder Jim Jarmusch, weil die Gefühle ständig in den Räumen hängen bleiben, aber so ganz kann "French Exit" seine konventionellen Indiemarotten nie abschütteln. Das amerikanische Kino bleibt bevölkert von Figuren, die ihren Frieden finden müssen. Als sich irgendwann herausstellt, dass der verstorbene Ehemann als Geist in der Katze fortlebt, nimmt Frances samt ihrer kuriosen und wachsenden Entourage (mit dabei auch der Privatdetektiv Isaach De Bankolé) in Paris Kontakt über ein Medium auf.

Allerhand halbgare Szenen im von sich selbst gelangweilten orange-blauen Teint des digitalen Kinos, die den Mutter-Sohn- sowie den Witwe-Ehemann-Konflikt erzählen, verdecken nicht die wahren Glanzlichter des Films, die immer dann aufleuchten, wenn Pfeiffer aus der Rolle fällt. So besprüht sie eine künstliche Blume in einem Café mit Parfüm und zündet sie an, als ein Kellner sie und ihren Sohn ignoriert. Sie kann ein abstoßendes Lachen nicht unterdrücken, als ihr eine Frau erzählt, wie ihr Mann gestorben ist. Später versucht sie einem Mann im Park einen riesigen Batzen Geld zu geben und als dieser ablehnt, zeigt sich in Pfeiffer mit einem Mal die Einsamkeit der Reichen.

Die wahrscheinlich aufrichtige Suche und Trauerbewältigung der verzweifelten Figur würde ohne das nuancierte Schauspiel kühl lassen. Pfeiffer legt das satirische Potential dieser lächerlichen Glamourwelt offen, überzeichnet genau so stark, dass man noch einen Funken Menschlichkeit entdecken kann, aber sich nur mehr wundert über dieses Leben, so fern jedweder Wirklichkeit. Die Balance zwischen Farce und Drama hält der Film nicht immer, aber im geglätteten, traumverlorenen Antlitz der Pfeiffer verfängt sich manchmal eine Wahrheit, die man nicht einfach übergehen kann.

Patrick Holzapfel

French Exit - USA 2020 - Regie: Azazel Jacobs - Darsteller: Michelle Pfeiffer, Lucas Hedges, Tracy Letts, Valerie Mahaffey, Susan Coyne - Laufzeit: 113 Minuten.

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California City. Der Name macht ziemlich was her, und verspricht damit gleichermaßen zu wenig und zu viel. Denn einerseits verbirgt sich dahinter die nie wirklich realisierte Idee einer Stadt: in der Wüste, nicht allzu weit entfernt von Los Angeles, erstreckt sich um einen kleinen, dünn besiedelten Ortskern ein weitläufiges Netz Tausender unfertiger und verödeter Straßen, die in den 1950ern und -60ern geplant und provisorisch angelegt, aber nie bebaut wurden. Andererseits ist California City eben dadurch nicht einfach eine weitere Stadt, sondern ein ziemlich einmaliger Ort, in dem die Natur, der er mühsam abgerungen werden sollte, längst wieder das Regiment übernommen zu haben scheint. Statt Menschen oder motorisiertem Verkehr begegnet man hier heute eher kleineren Tieren oder Wüstenläufern. Anstatt auf Häuser blickt man auf die Weite der Landschaft und die umliegenden Hügel.

Die belgischen Filmemacherinnen Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer und Isabelle Tollenaere haben California City 2016 und 2017 besucht, um einen seiner Bewohner, Lashay T. Warren, ein knappes Jahr lang in seinem Alltag zu begleiten: Auf seinem langen Fußweg zur Schule, an der er seinen High-School-Abschluss nachholt. Bei der Arbeit mit seinen Kolleg*innen, die meisten Afroamerikaner wie er, die in einem kleinen Trupp die leeren Straßen von Unkraut befreien und die verwitterten Straßenschilder neu beschriften. In der Hitze des Sommers sieht er seinen Kindern beim erfrischenden Wasserspiel zu, in seiner Wohnung vertreibt er sich seine Freizeit mit einem Freund am Laptop, draußen in der Wüste mit einer Mundharmonika.

So entsteht in kompakten 70 Minuten ein kleines Panorama eines Lebens, dessen Inhalt und Rhythmus ganz und gar von seinem gespenstischen Schauplatz vorgegeben scheint. Es mutet spröde, langsam und ereignisarm an, aber ist dabei geprägt von der Schönheit der Natur: das Wasser, das aus einer gebrochenen Leitung aus dem Boden schießt, zaubert einen Regenbogen an den blauen Himmel, eine Arbeitspause gibt Warren Zeit für ein Wettrennen mit einer kleinen Schildkröte.



Wie genau es den relativ jungen Mann von Los Angeles an den Ort in der Wüste verschlagen hat, erfahren wir nicht. Eingestreute Hinweise künden von einer von Armut und Gewalt geprägten Biografie, die aber letztlich genauso fragmentarisch bleibt wie California City selbst. Die Perspektive, die der Film einnimmt, ist die seines Protagonisten. Einen Kommentar, der über diese hinausgehen würde, gibt es ebenso wenig wie Filmmusik. Stattdessen werden zwischendurch Fotos und kleine Clips, die er mit seinem Handy aufgenommen hat, eingeblendet. Selbst bei der virtuellen räumlichen Orientierung via Google Earth führt er die Maus. Dabei ergibt sich eine der faszinierendsten Szenen des Films: Warren sitzt mit einem Freund am Computer und zeigt ihm und dem Publikum auf dem Bildschirm Kalifornien und die Welt. Bereitet es ihm zunächst sichtlichen Spaß, den Planeten digital um seine eigene Achse wirbeln zu lassen, führt ihn dieser Höhenflug letztlich doch wieder dorthin zurück, wo er herkam: an die Straßenecken von Compton, die für ihn behaftet sind mit Erinnerungen an tote Freunde oder daran, wie er zum ersten Mal angeschossen wurde.

Ein gutes Beispiel dafür, wie es die drei Filmemacherinnen verstehen, sich radikal auf das Kleine, Individuelle zu konzentrieren, ohne dabei das größere Ganze aus den Augen zu verlieren. Im Unterricht an der Schule, die Warren besucht, geht es um die Pioniere, die einst den Westen der USA erschlossen. Ohne die Perspektive seines Protagonisten zu verlassen, gibt der Film seiner Geschichte dadurch einen größeren historischen Rahmen. An einer Stelle bemerkt Warren, dass sich die Wüste wohl kaum verändert hat, seit sie zum ersten Mal von Europäern besiedelt wurde.

Damit ist das Thema des Films umrissen: es geht um die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins und Wirkens, die ein Ort wie California City besonders zu betonen scheint, indem er sie mit der verhältnismäßigen Ewigkeit der Natur kontrastiert. Die Wüste war lange vor Warren da, und sie wird lange nach ihm bleiben. Ihm aber ist die Möglichkeit gegeben, sich zu "verewigen", indem er seine Spuren hinterlässt, sich in sie einschreibt - und zwar in der letzten Szene buchstäblich. Dass das in seinem Fall nicht auf eine gewaltsame Landnahme hinausläuft, macht das utopische Moment des Films aus. So ist der neue Name, den er der Stadt, "seiner" Stadt, in der er Zuflucht vor seinem alten Leben fand, weder zu hoch gegriffen, noch ironisch zu verstehen. Er nennt sie: Victoria.

Nicolai Bühnemann

Victoria - Belgien 2020 - Regie: Sofie Benoot, Liesbeth De Ceulaer, Isabelle Tollenaere - Laufzeit: 71 Minuten.