Im Kino

Maximal abgründig

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
05.10.2022. In Ulrich Seidls "Rimini" porträtiert Michael Thomas einen alternden Sänger, der an der winterlichen Adriaküste seine Altersgenossen mit Schlagern und Sex versorgt. Doch keine Angst: Jede Grenzüberschreitung, die hier stattfindet, geschieht in den Köpfen der Zuschauer.


Die Küstenstadt Rimini an der italienischen Adria hat zumindest im deutschsprachigen Raum einen besonderen Nimbus. "Komm mit zur blauen Adria" hießen Schlagerfilme in den 60er-Jahren, und noch in den 80ern versprachen sich westdeutsche Filmverleiher von Titeln wie "Die flotten Teens von Rimini" einen Hauch von Glücksversprechen. Von Sommer, Sonne, Luxus, Lieben und Liebeleien, und immer auch ein bisschen vom Entfliehen aus der klaustrophobischen Enge des heimischen Deutschtums. Der alternde und ziemlich abgewrackte Schlagersänger Richie Bravo schleicht in Ulrich Seidls neuem Film allerdings durch ein völlig anderes Rimini. Die Urlaubssaison scheint bereits vor Jahrzehnten zu Ende gegangen, und doch finden sich noch immer ein paar Reisebusladungen Touristen, meist jenseits des Rentenalters, ein, die in tristen Bettenburgen und Kurhäusern überwintern und sich von Richie, der im nassen Pelzmantel immer dieselben nebligen Strandpromenaden entlang streift, von allerlei Amore vorsingen lassen.

Es ist ein apokalyptisches, leeres Rimini, das der große österreichische Regisseur zum Schauplatz seines Films und zur verwüsteten Seelenlandschaft für Richie Bravo macht. Da war einmal eine Art Glanz, etwas, was man in bestimmten Teilen des deutsch-österreichischen Daseins für Glamour halten mag. Und dieser Glanz mag zwar immer schon Fake gewesen sein, aber er existiert, wenngleich ein wenig untot, solange es Menschen gibt, die an ihn glauben. Der großartige Hauptdarsteller Michael Thomas legt diesen Richie Bravo als eine Art Wiedergänger von Mickey Rourke in Darren Aronofskys "The Wrestler" an, im Glitzeranzug und mit offenem Hemd. Auch die Vater-Tochter-Geschichte erinnert an diese lose Vorlage, beginnt allerdings, nicht ganz seidluntypisch, zunächst maximal abgründig, wenn nämlich der wie stets betrunkene Bravo seine 18jährige, entfremdete Tochter nicht erkennt und an der Hotelbar angräbt.

Überhaupt nimmt das Sexleben des schmierigen Sängers einen beträchtlichen Teil der zweistündigen Laufzeit von "Rimini" ein, inszeniert doch Seidl diesen immer wieder in mitunter volltrunkenen Stelldicheins mit betagten Groupies, oft auch gegen Bezahlung für seine sexuellen Dienstleistungen. Schlagerstern und Sexarbeiter, der Ruhm vergangener Tage ist längst abgeblättert, aber Sänger und Fans versichern sich wechselseitig, in Momenten trübster Gesangsdarbietung wie im verzweifelten Abgreifen ihrer welkenden Körper, dass sie trotz allem weiterhin am Leben sind. Bis zum letzten Song, bis zum letzten Fick, bis zum letzten Schnaps.



"Rimini" ist ein emotional atemberaubend brutaler Film, und er schont weder Richie Bravo noch Michael Thomas oder den Rest des Casts, und schon gar nicht uns, auf der anderen Seite der Leinwand. Das dürfte nicht überraschen, ist man auch nur ansatzweise mit dem Werk von Ulrich Seidl vertraut, der zunächst als Dokumentarist, dann als Spielfilmregisseur und von Anfang an in allen Misch- und Zwischenformen den Blick unbehaglich nah auf all das gerichtet hat, was sich die allermeisten Menschen lieber nicht so genau anschauen. Das ist hier nicht anders, und doch erschöpft sich der Film nie in dem, was er krass und transgressiv unter dem Teppich hervor auf die Kinoleinwand zerrt. Stattdessen ist er auch von einer merkwürdigen Zärtlichkeit erfüllt, einer Art Hoffnung wider besseres Wissen, wenn man so will. Die Kommunikation zwischen Vater und Tochter erschöpft sich in einer Folge ökonomischer Transaktionen und bleibt ansonsten, von einigen verzweifelten und völlig unzureichenden Ausspracheversuchen Richies abgesehen, weitestgehend aus. Und doch finden sich Vater und Tochter und eine eher beliebige Truppe Geflüchteter am Ende in einer seltsamen, kaum tragfähigen Utopie wieder. Vielleicht nur eine weitere der schönen, allzu offensichtlichen Lügen, ohne die es sich im Schlagerbusiness nicht überwintern lässt.

"Rimini" hieß ursprünglich einmal "Böse Spiele" und war eine Hälfte einer Brüdergeschichte, aus der nun zwei Filme entstanden. Am Anfang sieht man Georg Friedrich in einer eröffnenden Sequenz als Bruder Ewald, um dessen Ringen mit dem eigenen pädophilen Begehren es im Folgefilm "Sparta", unter anderem, gehen wird. Um diesen hat sich inzwischen ein veritabler Skandal entsponnen: Infolge eines Spiegel-Artikels, in dem anonymisierte Mitglieder des Filmteams und Eltern von Kinderdarstellern Seidl missbräuchliche Arbeitsweisen beim rumänischen Dreh vorgeworfen haben, lud das Toronto International Film Festival, wo "Sparta" seine Weltpremiere feiern sollte, den Film kurzerhand aus. Allesamt Vorwürfe, die Seidl selbst vehement abstreitet. Zu sehen war "Sparta" nun gleichwohl, in San Sebastian sowie kürzlich beim Filmfest Hamburg, und erste Kritiken deuten an, dass die größten Grenzüberschreitungen, wie so oft bei Seidl, eher in den Köpfen der Zuschauer*innen stattfinden.

Bis ein deutscher Kinostart einem größeren Publikum die Möglichkeit eröffnet, sich ein eigenes (Gesamt-)Bild von Seidls Diptychon zu machen, dürfte wohl noch etwas Zeit vergehen, in der sich die tatsächlichen Sachverhalte beim Dreh hoffentlich ebenfalls aufklären lassen. Bis dahin sollte man sich "Rimini" keinesfalls entgehen lassen, bietet dieser doch eine keineswegs einfache oder angenehme, aber ungemein kraftvolle und lang nachhallende Kinoerfahrung an. Zwischen all den Blicken in menschliche Abgründigkeiten entbehrt es überdies auch nicht - der Kinostart ist da gewissermaßen von einer sozialmedialen Diskurssimulation überholt - einer gewissen Komik, dass einer der Schlager, die Michael Thomas, langjähriger Old-Shatterhand-Darsteller bei den österreichischen Karl-May-Festspielen, im Film deklamiert, von Winnetou handelt.

Jochen Werner

Rimini - Österreich 2021 - Regie: Ulrich Seidl - Darsteller: u.a. Michael Thomas, Tessa Göttlicher, Hans-Michael Rehberg, Inge Maux, Claudia Martini - Laufzeit: 114 Minuten.