Im Kino

Explorationen komplizierter Gefühle

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
07.12.2022. Mia Hansen-Løves "An einem schönen Morgen" ist einer der allerschönsten und allerehrlichsten Filme über Affären, über neue Lieben in der Mitte des Lebens, über schwierige Entscheidungen und über den Preis, den man mitunter zahlen muss.


I know nothing stays the same
But if you're willing to play the game
It's coming around again.
Carly Simon

Als Sandra (Léa Seydoux) ihren Vater Georg (Pascal Greggory) besucht, muss sie ihm durch die verschlossene Wohnungstür hindurch erst einmal erklären, wo der Schlüssel sein könnte (im Schloss) und wie man ihn bedient. Die Routine dieses Gesprächs legt nahe, dass es nicht zum ersten Mal geführt wird, und auch, dass Sandra sich darüber im Klaren ist, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Georg war Philosophieprofessor, seine größte Freude im Leben war das Lesen, und nun, da er am Benson-Syndrom erkrankt ist, einer seltenen Nervenkrankheit, die mit demenzartigen Symptomen einhergeht, entzieht sich ihm nicht nur die Welt, sondern, vielleicht noch viel schmerzhafter, auch die Sprache immer mehr. So kann es nicht länger weitergehen, beschließen Sandra und ihre seit 20 Jahren von Georg geschiedene und doch weiterhin in dessen Pflege engagierte Mutter Françoise (Nicole Garcia), ein Pflegeheim für den zunehmend hilflosen Mann muss her.

"An einem schönen Morgen" ist der achte Film der französischen Regisseurin Mia Hansen-Løve, und es ist ein Film über das Abschiednehmen, einerseits. Über die Solidarität, die sich angesichts der Krankheit eines geliebten Menschen in nur scheinbar selbstverständlichem Handeln ausdrückt, aber auch, andererseits, darüber, dass es notwendig sein kann loszulassen, um sich selbst nicht in der Aufopferung für den Anderen zu verlieren. Sandra und Françoise bringen Georg zunächst in verschiedenen Krankenhäusern unter, während sie in einem langwierigen, zermürbenden Prozess einen Platz in einem halbwegs erträglichen Heim suchen. Ein schmerzhaftes Loslassen für Sandra, die akzeptieren muss, dass auch ihren Möglichkeiten im Hinblick auf das Umsorgen ihres geliebten Vaters Grenzen gesetzt sind - mitunter scheint es, als würden ihr die oftmals deprimierenden Lebensumstände in den Krankenhäusern und Heimen ärger wehtun als dem seiner unmittelbaren Umgebung immer stärker entrückten Georg.



"An einem schönen Morgen" ist aber auch ein Film über neue Anfänge, wobei sich diese ebenfalls nicht unbedingt unkompliziert und schmerzfrei gestalten. Bereits in den ersten Filmminuten läuft Sandra zufällig ihrem alten Freund Clement (Melvil Poupaud) über den Weg. Bald entwickelt sich zwischen dem unglücklich verheirateten Kosmochemiker und der alleinerziehenden Sandra eine stürmische Affäre, und rasch wird klar, dass die zunächst heimliche Romanze für beide immer ernster wird. Clement versucht sich kurzzeitig vergeblich an einem frustrierenden Doppelleben, scheitert am Druck des Lügengebäudes, beichtet alles, zieht bei Sandra ein, geht zwischenzeitlich zu seiner Frau und seinem Sohn zurück, kann Sandra nicht vergessen, kommt zurück, geht wieder, kommt wieder zurück. Wie das halt so ist, wenn man sich als Erwachsener verliebt, ein Leben hat, eine Geschichte, einen Rucksack. "An einem schönen Morgen" ist einer der allerschönsten und allerehrlichsten Filme über Affären, über neue Lieben in der Mitte des Lebens, über die schwierigen Entscheidungen, die man zu treffen hat, und über den Preis, den man mitunter zahlen muss für eine vage Wette auf ein neues Glück.

Pascal Greggory, der Georgs fortwährende, hilflose Suche nach den abhanden gekommenen Worten und sein Greifen ins Nichts beim Versuch, die entglittene Welt festzuhalten, gerade in einer gewissen Zurückgenommenheit bewegend verkörpert, ist in die Kinogeschichte als Schauspieler in mehreren Meisterwerken Éric Rohmers eingegangen, und es ist sicher kein Zufall, dass Hansen-Løve gerade ihn mit der zunehmenden Sprachlosigkeit ringen lässt. Schöner als in Rohmers Filmen war die Sprache im Kino selten, betörender und auch komplexer wurde kaum je auf der Leinwand diskutiert über alles - das Leben, das Universum und den ganzen Rest, vor allem aber über die Liebe und alle anderen großen oder kleinen Gefühle, vor deren Wucht wir uns immer wieder hilflos finden.

Mia Hansen-Løve ist zwar eine in ihrem charakteristischen Oszillieren zwischen schweren emotionalen Substanzen und einem stets spürbaren, in sonnendurchflutete 35mm-Kinobilder eingeschriebenen Optimismus sowie einer großen Leichtigkeit im Erzählgestus einzigartige Filmemacherin - schon längst eine der besten und bedeutendsten des europäischen Gegenwartskinos. Gleichzeitig gehört sie aber einer ganzen Generation von französischen Filmemacher*innen um Mikhaël Hers oder auch Rebecca Zlotowski an, die sich mal mehr, mal weniger deutlich im Erbe Rohmers verorten lassen. Es entstehen viele wunderbare Filme in diesem jüngeren französischen Gegenwartskino, träumerische und doch komplexe Explorationen komplizierter Gefühle - ein zutiefst menschliches Kino, aus dem Mia Hansen-Løves Werke gleichwohl immer wieder herausragen. "An einem schönen Morgen" ist einer ihrer besten Filme, und wir alle müssen ihn ansehen.

Jochen Werner

An einem schönen Morgen - Frankreich 2022 - OT: Un beau matin - Regie: Mia Hansen-Løve - Darsteller: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Camille Leban Martins - Laufzeit: 114 Minuten.

"An einem schönen Morgen" war als Eröffnungsfilm beim 17. Around the World in 14 Films Festival zu sehen. Am 8. Dezember 2023 läuft er in den deutschen Kinos an.