Im Kino

Direkt durchs Auge

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Fabian Tietke
03.02.2016. Alexis Alexious faszinierender Neo-Noir "Mittwoch 04:45" suhlt sich in einem artifiziellen Lichterbad. In "Suffragette - Taten statt Worte" gelint Sarah Gavron eine umfassende Darstellung eines wenig bekannten Kapitels der für das Wahlrecht kämpfenden Frauenbewegung in Großbritannien in den 1910er Jahren.


In einer der beeindruckendsten Szenen des Films glaubt Stelios (Stelios Manias), direkt ins grelle Licht des Todes zu blicken. Der Besitzer eines Jazzclubs hat sich im Zuge der griechischen Wirtschaftskrise, verschuldet und mit rumänischen Gangstern eingelassen. Jetzt sitzt er, nachdem er eine besonders schlechte Entscheidung getroffen hat, neben seinen zwei letzten verbliebenen Kumpanen in einem kleinen, schäbigen Restaurant. In das plötzlich gleißend helles Licht einbricht, weil draußen ein Auto vorfährt, dessen Insassen Stelios an die Gurgel wollen. Die plötzliche Klarsicht, die seine Umgebung in ihrer und auch ihn selbst in seiner ganzen tristen Profanität sichtbar werden lässt, lähmt den mittelalten Familienvater mit schütterem Haar für einen Moment komplett.

Stelios kommt noch einmal davon, erhält noch einmal einen Aufschub. Er darf sich noch einmal in ein düster-leuchtendes, konsequent brutalisiertes Neo-Noir-Athen stürzen; kann noch ein wenig länger durch zwar immer schlechter besuchte, aber doch noch immer nicht ganz glanzlose Strip-Clubs driften und in fahl illuminierten, von gewaltbereiten frustrierten Jugendlichen bevölkerten Unterführungen Drogen erstehen, muss an Verkehrsampeln die allgegenwärtigen Obdachlosen abwimmeln.

Vor allem darf er noch ein wenig länger in dem Lichterbad suhlen, das "Mittwoch 04:45" vielleicht in erster Linie ist. Auch in den wenigen Szenen, die tagsüber und draußen spielen, legt der Regisseur Alexis Alexiou schon einmal mitten durchs Cinemascope-Bild horizontal einen lens-flare-Effekt; oder lässt die Sonne raffiniert irrlichternd durch ein Autofenster flackern. Lange halten es sowieso weder der Regisseur noch seine Hauptfigur im hellen, natürlichen Licht des Tages aus. Beide zieht es zu anderen, artifiziellen Lichtern, zu den menschengemachten Lichtern der urbanen Nacht. Zu den Neonreklamen der Stripclubs. Oder besser: zu den Spiegelungen der Neonreklamen der Strib-Clubs im nassen Asphalt. Oder noch besser: zum verwaschenen Abglanz der Spiegelungen der Neonreklame der Strip-Clubs im nassen Asphalt, die sich auf einer Fensterscheibe abzeichnen und die sich mit anderen Lichtimpulsen mischen, die stroboskopartig von der Seite ins Bild strahlen. (Die zugehörige Filmmusik, die sich mal sphärisch-flächig ausbreitet, mal zu ohrwurmtauglichen Schlagern gerinnt, ist ebenfalls toll und wäre eine eigene Eloge wert.)



Das Licht, das den Film interessiert, dient nicht der Be- und Ausleuchtung von Objekten, Menschen, Raum, sondern ist ein Formelement eigenen Rechts. Mal verdichten sich rot leuchtende Farbkreise im Straßenverkehr per Schärfeverlagerung zu Rücklichtern, mal bricht sich gelbes Licht in einem zersplitterten Fenster in muschelförmigen Mustern, mal legen sich Reflektionen von Neonreklamen fächerartig übers ganze Bild (und ein Strahl schießt der Hauptfigur dabei direkt durchs Auge). Fast in jeder Einstellung findet sich mindestens ein gestalteter Lichteffekt - und wenn es nur der batteriebetriebene Schuh eines kleinen Jungen ist, der bei jedem Schritt kurz aufleuchtet.

Hier und da wird dem Film gerade aufgrund solcher Stilisierung Epigonentum vorgeworfen: Das sieht doch aus wie im Hongkong-Kino, oder wie bei Michael Mann, oder wie bei David Fincher, oder wie bei Tarantino, wie in "Sin City", wie in "Drive". Schon, dass sich die Kritiker nicht einig darin sind, bei wem sich der Film genau bedient, spricht dafür, dass Alexiou mehr gelungen ist als nur technisch gelacktes Pastiche. Jeden einzelnen der optischen Effekte hat man irgendwo so ähnlich einmal gesehen, das stimmt schon; aber wie der Film seine Lichtsensationen modelliert, wie er sie in der (oft auf eindringliche Art affektiv aufgeladene Großaufnahmen in Totalen nachhallen lassenden) Montage rhythmisiert, wie er sie im Finale in einer opernartig ausufernden, bleihaltigen Zeitlupenorgie bündelt: Das verweist zumindest auf ein außergewöhnliches, hochgradig originelles Stilbewusstsein.

Das sich in "Mittwoch 04:45" vielleicht noch nicht vollumfänglich entfaltet hat. Gelegentlich bremst sich die Regie selbst aus, insbesondere in Szenen, die sich Stelios' Familienleben und seinem von Anfang an deutlich erkennbar morschen Machismo widmen; da erinnert der Film plötzlich an jene im europäischen (Festival-)Kino allgegenwärtigen privatistisch-bemühten Sozialdramen, die Alexiou ansonsten souverän hinter sich lässt. Auch die Verweise auf die Finanzkrise wirken gelegentlich bemüht, fast pflichtschuldig. Aber immer wenn er sich auf die Kraft seiner Bilder verlässt, wenn er seine kinematografische Lichtmaschine direkt, ohne psychologische oder soziologische Vermittlung mit dem Körper seines Hauptdarstellers und dem Stadtkörper Athen kurzschließt, entwickelt der Film einen fast hypnotischen Sog. Und erschließt dem griechischen Autorenkino, das zuletzt mit Vorliebe auf ebenfalls faszinierenden, aber ganz anders artifiziellen, verrätselt-allegorischen Pfaden wandelte, aufregendes neues Territorium.

Lukas Foerster

Mittwoch 04:45 - Griechenland 2015 - Originaltitel: Tetarti 04:45 - Regie: Alexis Alexiou - Darsteller: Stelios Mainas, Maria Nafpliotou, Vagelis Rokos, Christina Dendrinou, Nikol Drizi - Laufzeit: 116 Minuten.

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Etwas verträumt steigt die Wäscherin Maud Watts aus dem Bus und schaut, das auszuliefernde Wäschepaket unter dem Arm, in ein Schaufenster. Plötzlich bricht ein Tumult auf der Straße los, Frauen werfen Steine in die Fenster der Läden. Eine der Frauen lächelt Maud vor dem Wurf freundlich zu. Maud ist irritiert, vergisst das Paket abzuliefern und flieht nach Hause zu ihrem Mann und ihrem Sohn. Die Stimme der Suffragettenbewegung, dem Kampf um das Frauenwahlrecht in den 1910er Jahren, schienen lange Zeit Politikerinnen wie Emmeline Pankhurst zu sein, nicht die einfachen Arbeiterinnen. Sarah Gavron (Regie) und Abi Morgan (Drehbuch) haben in "Suffragette - Taten statt Worte" einen anderen Blickwinkel gewählt. Zwar darf Meryl Streep in einer kurzen Szene als Pankhurst auftreten, im Zentrum des Films steht jedoch die Wäscherin. Dieser Wechsel des Blickwinkels vollzog sich unter dem Eindruck der Aussagen von Arbeiterinnen aus der Bewegung für das Wahlrecht vor einem Parlamentskomitee - Aussagen, die die Lebensbedingungen einfacher Frauen um die Jahrhundertwende sichtbar machten und als den Skandal zeigten, der sie waren.

Die Szene, in der der Film diese Anhörung reinszeniert, ist kurz. Die Spuren der Aussagen durchziehen jedoch den Film: Durch eine Kollegin aus der Wäscherei kommt Maud Watts in Kontakt mit Wahlrechtsaktivistinnen. Doch bevor wir ihrer Politisierung folgen, entfaltet der Film die Lebensumstände der Protagonistin: das Elend, in dem sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt, die Arbeitsbedingungen in der Wäscherei, die sexuellen Übergriffe der Vorarbeiter und Chefs auf die Arbeiterinnen sind schockierend. Der Kampf gegen ihre eigenen Lebensbedingungen wird für Maud Watts umso zentraler, je repressiver ihre Umgebung auf ihr Engagement reagiert.



"Suffragette" ist ein Historienfilm im besten Sinne: er entfaltet die Handlungsoptionen der Figuren. Wann immer sich die Wege Maud Watts mit prominenteren, abgesicherteren Aktivistinnen kreuzen, wird sichtbar, dass Frauen gesellschaftliche Freiheit mit Unfreiheiten bezahlen mussten. Das zeigt sich beispielsweise, als der Parlamentsabgeordnete Benedict Haughton (Samuel West) seine Frau nach einer Demonstration auf Kaution befreit, sich jedoch allem Bitten der Gattin zum Trotz weigert, die Kaution auch für ihre Mitstreiterinnen zu bezahlen. Schweigend und beschämt verlässt die Ehefrau neben ihrem Mann das Polizeirevier. Selbst die tatkräftige Apothekerin Edith Ellyn (großartig: Helena Bonham Carter) überlässt es im entscheidenden Moment Maud Watts und ihrer Mitstreiterin Emily Davidson, die geplante Aktion bei einem Trabrennderby auszuführen. Emily Davidson ist neben Emmeline Pankhurst die einzige historische Figur des Films (auch wenn viele andere sich aus historischen Vorbildern ableiten). Davidsons Tod war ein zentraler Moment in der Geschichte der britischen Bewegung für das Frauenwahlrecht. Ihr Begräbnis wurde von Tausenden begleitet.

Der Film bezahlt die Vielfalt der Perspektiven, die die Darstellung der ganzen Bandbreite der Suffragettenbewegung erst möglich macht, mit einer geringen Charaktertiefe der einzelnen Figuren. Selbst bei der Protagonistin Maud Watts fällt es bis zum Ende schwer, Persönlichkeit von der Funktionalität für die Erzählung des Films zu trennen. Schwer zu beantworten, ob das notwendig eine Schwäche ist. Wie die historischen Fernseharbeiten des französischen Regisseurs Alain Tasma über die französische Kolonialgeschichte, entscheiden sich Gavron und Morgan in "Suffragette" für die möglichst umfassende Darstellung eines noch immer wenig bekannten Kapitels aus der Geschichte der Frauenbewegung.

Vor fünf Jahren präsentierten die Filmhistorikerinnen und Kuratorinnen Madeleine Bernstorff und Mariann Lewinsky in Berlin und Bologna unter dem Titel "Frühe Interventionen. Suffragetten - Extremistinnen der Sichtbarkeit" eine Auswahl der Filmdokumente rund um den Kampf für das Frauenwahlrecht. "Suffragette" ist der erste Spielfilm zur britischen Bewegung für ein Frauenwahlrecht. Die Militanz dieser Bewegung sichtbar, nachvollziehbar, erlebbar zu machen ist die Stärke des Films. Das Bild dieser Bewegung um die Perspektive der Arbeiterinnen ergänzt zu haben, ist eine Errungenschaft.

Fabian Tietke

 
Suffragette - Taten statt Worte - GB 2015 - Originaltitel: Suffragette - Regie: Sarah Gavron - Darsteller: Carey Mulligan, Anne-Marie Duff, Helena Bonham-Carter, Meryl Streep, Adrian Schiller - Laufzeit: 106 Minuten.
 
Zur Reihe von Madeleine Bernstorff und Mariann Lewinsky ist eine DVD mit dem Titel "Cento Anni Fa. Comic Actresses and Suffragettes 1910 1924" erschienen. Käuflich zu erwerben bei: www.cinetecadibologna.it.