Im Kino

Abenteuerspielplatz der Identitäten

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Friederike Horstmann
27.01.2016. Maskulines Selbstmitleid in Bildern von bestürzender Schönheit präsentiert Philippe Garrels "Im Schatten der Frauen". Rick Famuyiwas "Dope" erkundet South Central Los Angeles als einen komplexen Möglichkeitsraum.


Die Spannungsbögen, aus denen sich Philippe Garrels "L'ombre des femmes" (deutscher Titel: "Im Schat­ten der Frauen") zusammensetzt, bauen sich unabhängig seiner banalen Beziehungsgeschichte auf. Sie sind fragmentiert, verlaufen in Ellipsen, haben mutwillige Auslassungen und Rissen. Oft bleibt unklar, wieviel Zeit in den abrupten Schnitten lagert. Schon am Anfang steht eine unvermittelte Montage, die die eleganten, auf 35mm gedrehten Schwarzweißaufnahmen verknüpft: Der Film eröffnet mit einem Schwarzbild, aus dem dunklen Bilder-Off klingt ein diffuses Rauschen. Eine lange Einstellung zeigt einen jungen Mann; er steht vor einer Fassade, in der einen Hand hält er ein Baguette, in der anderen ein paar Papiere, eine Fotografie. Er beißt ins Brot, er kaut, er betrachtet die Zettel und richtet seinen leeren Blick auf etwas außerhalb des Bildes. Minutenlange verweilt die Kamera auf seinem vertrübt versteinerten Gesicht, auf den porösen Texturen der Häuserfront, ihren horizontalen Lineamenten, die Kopf und Brust des Mannes konturieren. Schwarz auf grauen Grund wird kurz der Filmtitel eingeblendet, danach eine junge Frau, die sich im Morgenrock die Haare föhnt. Ein Schnitt zeigt eine Wohnungstür, es klingelt mehrfach. Die Tür öffnet sich und die Kamera wandert mit dem Eindringling durch die heruntergekommene Wohnung, verweilt kurz auf dem improvisierten Gasherd, den abgezogenen Tapetenfetzen, die abstrakt amöbenhafte Formen auf der Wand freilegen. Empört kritisiert der Vermieter den schlechtbürgerlichen Wohnungszustand und fordert unverzügliche Mietnachzahlungen.
 
In der nächsten Einstellung sitzen Mann und Frau draußen vor einem Zaun, sie weint, er tröstet. Dann kommentiert eine männliche Off-Stimme die Handlung: "Pierre drehte Dokumentarfilme, seine Frau Manon arbeitete mit ihm. Sie war sein Skriptgirl und seine Cutterin. Manon blieb im Schatten ihres Mannes und überließ ihm die Sonnenseite." Rätselhaft verspannt sich diese Darlegung mit dem Filmtitel, der Gegenteiliges behauptet. Nüchtern und ohne jegliche Emphase wird der körperlose Kommentar von Louis Garrel, Philippes Sohn, intoniert. Allwissend kommentiert das intermittierende Voice-over die Handlungen seiner Filmfiguren, weiß vor allem um Pierres Gefühle und Gedanken. Konsequent verbleibt die Off-Erzählung in der Vergangenheit. Bild und Text fusionieren zu keiner zeitlichen Einheit, vermitteln vielmehr einen Bruch, zerfallen in zwei Zeitebenen. Ein Mittel, das nicht nur an die Nouvelle Vague erinnert, sondern Garrels französischem Affärenfilm einen neuen Akzent hätte geben könnte. Die entscheidende Möglichkeit zur Distanzierung oder Dekonstruktion nutzt der Film jedoch nicht überzeugend. Trotz des diskursiv-kritischen Voice-overs verbleibt er in einer dezidiert maskulinen Perspektive und fixiert Pierres Selbstmitleid, seine Sexualität, seinen Narzissmus.
 


Als gemütsverdunkelter Unsympath mit Grummelgesicht, Zauselhaar und Bartstoppeln leidet Pierre unermüdlich an sich und an der Welt. Schlimmer noch: Trotz seiner eigenen verzeiht er Manon ihre Affäre nicht. Nur Männer dürfen untreu sein. Auch der Film setzt Pierres Begehren zu Elisabeth ausführlich in Szene, Manons Affäre wird hingegen kaum konturiert. Dafür zeigt er Manons Schuldgefühle. Für die verlassene Elisabeth hat Garrel gar keine Bilder mehr, sie wird einfach aus der Handlung eliminiert. Auch im Arbeitsverhältnis bestehen Asymmetrien: Die submissive, hingebungsvoll untergebene Manon ist Pierres Mitarbeiterin. Im Verlauf des Films verschiebt sich das ästhetizistisch verfeinerte Leiden Pierres; sowohl zu seiner Frau Manon als auch zu seiner Geliebten Elisabeth wird er garstiger und verletzender. Pierres Scheinheiligkeiten tangieren sogar seine professionelle Arbeit als Dokumentarfilmer: Der alte Résistance-Kämpfer, den er für seinen Film interviewt, ist gar nicht der Held, den er sein ganzes Leben lang zu sein vorgab. Vielmehr entpuppt er sich als Betrüger, der seine Freunde an die Nazis verraten hat. Bei einer Sichtung von Archivmaterial aus dem Zweiten Weltkrieg verweilt die Kamera auf zärtelnden Händen. Auch für historisch-politische Fragen scheint der Film sich nicht wirklich zu interessieren.
 
"Im Schatten der Frauen" investiert viel in seine filmische Formen, in seine Oberflächen, in kleine Gesten seiner Schauspieler. Mise-en-Scène, Montage, Licht - auf all diesen Ebenen ist der Film interessant. Das breite CinemaScope-Format zeigt Bilder von bestürzender Schönheit. Die Aufnahmen von Kameramann Renato Berta vermitteln eine spezifische Verbindung zu den Pariser Schauplätzen, zu den menschenleeren Straßenzügen, zu den Transitorten, an denen die Filmfiguren symbolträchtig oft alleine gezeigt werden - weder hier noch da, sondern auf Treppen, in Fluren und Einfahrten. Doch all diese präzisen Bildkompositionen wirken penetrant poetisch und plüschig - gerade weil Garrel alles ins Feld der Ästhetik verschiebt und in der inhaltlichen Inszenierung den männlichen Narzissmus mit dessen Sexualität verschränkt. So hinterlässt der Film einen faden Beigeschmack und den Eindruck einer anti-feministischen Altherren-Apologie. Denn als Pierre und Manon sich nach einem Jahr der Trennung zum Schluss des Films wiederbegegnen, kommen sie erneut zusammen. Auf der Beerdigung des vermeintlichen Résistance-Kämpfers raunt er ihr dann zu: "Du bist die Frau meines Lebens".

Friederike Horstmann

Im Schatten der Frauen - Frankreich 2015 - Originaltitel: L'ombre des femmes - Regie: Philippe Garrel - Darsteller: Stanislas Merhar, Clotilde Courau, Lena Paugam, Vimala Pons - Laufzeit: 73 Minuten.

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Malcolm (Shameik Moore) trägt eine blockförmige Retro-Frisur und bunte Hemden, in der Schule hat er in allen Fächern die besten Noten und träumt von einem Harvard-Studium, in seiner Freizeit beschäftigt er sich obsessiv mit der Hip-Hop-Szene der 1990er. Kurz: Malcolm ist ein geek. Wie man das aus amerikanischen Highschool-Filmen kennt, muss Malcolm mit seinen (leider etwas allzu sidekicky angelegten) geek-Freunden Jib und Diggy auf dem Weg vom Klassenzimmer zum Schließfach stets ängstlich nach den tumben, breitschultrigen jocks Ausschau halten, die sich einen Spaß daraus machen, die drei zu verprügeln. Was man aus amerikanischen Highschool-Filmen eher nicht so kennt: Sowohl die jocks als auch die geeks sind schwarz - wobei: Jib zum Beispiel nur zu 14 Prozent… und auf solche Feinheiten kommt es durchaus an in dem Abenteuerspielplatz der Identitäten, als den Rick Famuyiwas "Dope" die USA der Gegenwart darstellt.

Oder jedenfalls das South Central Los Angeles der Gegenwart (die Breite der Cinemascope-Leinwand passt wieder einmal perfekt zu Südkaliornien und den weitläufigen, flächigen Straßenzügen, in denen der Film zu weiten Teilen spielt). An dessen Mythologie hatte sich zuletzt das N.W.A.-Biopic "Straight Outta Compton" abgearbeitet; Famuyiwa, selbst als Sohn nigerianischer Einwanderer in Inglewood aufgewachsen, versucht sich an einer Aktualisierung, die gleichzeitig eine Hybridisierung ist: "Dope" zeigt das schwarze, oder besser das nicht/kaum-weiße Los Angeles nicht als anarchisch-atavistisches Gangland, sondern als einen komplexen Möglichkeitsraum. In den sich vielleicht sogar noch einmal der american dream eintragen lässt, und zwar nicht nur in seiner "Life ain't nothing but bitches and money"-Schwundstufe, sondern vollumfänglich, als ein Versprechen auf ein besseres Leben, in dem auch die Idee einer besseren Gesellschaft inbegriffen ist. Freilich kann es in diesem (sicherlich, wenn man denn unbedingt will, auch lediglich als Ausdruck neoliberaler Ideologie lesbaren) Möglichkeitsraum South Central immer noch lebensgefährlich sein, wenn man zum falschen Zeitpunkt die Straßenseite wechselt. Jedenfalls setzt sich der Spießrutenlauf, dem sich Malcolm, Jib und Diggy im Schulkorridor unterziehen müssen, auf dem Heimweg nahtlos fort. Links dreht eine Gang ein Musikvideo, rechts wollen Dealer ihre Fahrräder stehlen. "A daily navigation between bad, and worse joices".



Aber eben, wie gesagt, auch ein Möglichkeitsraum - der nicht zuletzt dazu angetan ist, filmische Formen zu verflüssigen. Schon nach zehn Minuten lässt Famuyiwa die angedeutete High-School-Comedy wieder fallen und schwenkt in Richtung einer Ghetto-Romanze ab: Malcolm wartet einmal zu lang an einer Kreuzung und wird prompt von einem der Dealer angesprochen; der sich freilich ebenfalls als Hip-Hop-Nerd herausstellt und ihn mit seiner Freundin Nakia (Zoë Kravitz) bekannt macht. Nakia wiederum hat, merkt man schnell, an cleveren Strebern womöglich mehr Interesse als an harten Jungs. Auch das ist eine Finte. Denn nur wenige Filmminuten und eine wüste Schießerei später findet sich Malcolm im Besitz eines bis obenhin mit Drogenpaketen gefüllten Rucksacks wieder. Eine Pistole liegt praktischerweise auch noch obendrauf. Im Folgenden entfaltet sich "Dope" als eine überdrehte, knallbunte Gangsterkomödie, in der derangierte Kiffer im dark net Millionen scheffeln und chronisch leichtbekleidete, zugekokste Societygirls den Straßenverkehr unsicher machen. Leider ist das nicht unbedingt die interessanteste Abzweigung, die dieser zunächst und im Kleinen auch später noch erfreulich eigensinnige Film hätte nehmen können.

In seinen schwächsten Momenten erinnert "Dope" an Untiefen der Postmoderne, wie sie das Kino vor allem in den 1990ern durchschritten hatte: Hauptsache Tempo, jeder auch noch so doofen Idee muss nachgegeben werden, wenn sie nur hinreichend laut und grell daher kommt. Dass das zur zur Nineties-Begeisterung der Hauptpersonen und auch zum Soundtrack passt, macht die Sache nur sehr bedingt besser. Nötig hat "Dope" den Unfug sowieso nicht. Der Hauptdarsteller Shameik Moore zum Beispiel ist großartig und bleibt stets die Ruhe selbst. Oft ist schwer zu entscheiden, ob sich hinter seiner Coolness Schüchternheit oder Arroganz verbirgt, aber immer, wenn Moore im Bild ist, stabilisiert sich der frame. Ganz allgemein funktioniert "Dope" immer dann wunderbar, wenn Famuyiwa leisere, oder auch spielerische Töne anschlägt, wenn er seine Welt nicht mit schlecht verarbeiteten Genrekinoversatzstücken und MTV-Ästhetik vergangener Dekaden vollstellt, sondern sie mit den neugierigen Augen eines ehrgeizigen geek erkundet.

Lukas Foerster

Dope - USA 2015 - Regie: Rick Famuyiwa - Darsteller: Shameik Moore, Zoë Kravitz, Kiersey Clemons, Tony Revolori, Chanel Iman, Rakim Mayers, Will Sherwood, Kimberly Elise - Laufzeit: 103 Minuten.