Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2006. Andre Glucksmann erklärt in Le Monde (und auf deutsch im Perlentaucher), warum Spott über Mohammed nicht dasselbe ist wie Spott über den Holocaust. Die taz wendet sich gegen das Manifest der Zwölf zum Karikaturenstreit. Fast nur Autorenfilme sind für die Oscars nominiert, bemerken Welt und SZ. In der FR erklärt Ang Lee Taiwan für schwulenfreundlicher als die USA. Die FAZ bringt zwei Seiten über den Fernsehfilm "Dresden".

Weitere Medien, 04.03.2006

Andre Glucksmann denkt in Le Monde (und auf deutsch im Perlentaucher) über das immer wieder zu hörende Argument nach, der Westen messe mit zweierlei Maß, denn er gestatte Karikaturen über Mohammed, nicht aber über den Holocaust. Aber da gibt es einen entscheidenden Unteschied, meint er: Das eine ist ein Glaube, das andere eine Tatsache. "Die Realität der Todeslager lässt sich belegen, nicht so die Heiligkeit des Propheten, die von der Überzeugung des Gläubigen abhängt." Glucksmann diagnostiziert keinen Kampf der Kulturen, sondern einen Kampf zweier Denkweisen: "Auf der einen Seite jene, für die es keine Fakten gibt, sondern nur Interpretationen, die bloße Glaubensakte sind. Sie tendieren entweder zum Fanatismus ('ich bin die Wahrheit') oder zum Nihilismus ('nichts ist wahr, nichts ist falsch'). Auf der anderen Seite jene, für die eine freie Diskussion mit dem Ziel der Trennung des Wahren vom Falschen einen Sinn hat."
Stichwörter: Glucksmann, Andre, Nihilismus

TAZ, 04.03.2006

Auf der Meinungsseite wendet sich Robert Misik gegen das "Manifest der Zwölf", die anlässlich des Karikaturenstreits den Islamismus mit dem Totalitarismus gleichsetzten: "Wer den Islamismus bekämpfen will, darf sich darum auch nicht 'weigern', von der Islamophobie zu sprechen - schließlich treibt diese ja die Moderaten in die Hände der Radikalen."

Im Feuilleton nutzt Robert Misik die Gelegenheit des Erscheinens von Franz Schuhs neuem Buch "Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche", um den österreichischen Autor auch in Deutschland endlich gründlich vorzustellen. Uh-Young Kim stellt den Berliner Musikproduzenten Hendrik Schwarz vor. Im fünften Teil seiner "kleinen Heinekunde" klärt Philip Blom über des Dichters Verhältnis zu einem Papagei auf. Uli Hannemann glossiert Kriegs- und Friedensbemühungen in Sachen Rechtschreibung. Besprochen wird Alain Platels Inszenierung, beziehungsweise Überarbeitung von Monteverdis "vespero".

Die zweite taz eröffnet mit einem Interview mit Peter Bucksch, der an einer Hauptschule im Problembezirk Neukölln unterrichtet und in Detlev Bucks Neukölln-Film "Knallhart" mitspielt. Er sieht die Lage nüchtern: "Meine Schüler haben nicht die gleichen Chancen, das ist eben so."

Im taz-mag-Dossier preist Jan Feddersen den Oscar-Favoriten "Brokeback Mountain" und hält es für undenkbar, dass in Deutschland ein ähnlicher Film entstehen könnte: "Ist ein Regisseur vorstellbar, der mit ähnlicher Kraft einen Film dreht, der unter zwei Männern im Ruhrpott spielt, der eine Bergmann, der andere Kfz-Schlosser...? Undenkbar, schon als Fantasie niederschmetternd unvorstellbar." Weitere Artikel: Vorabgedruckt wird ein Auszug aus einem Band mit Briefen, die die junge Jüdin Mirjam Bolle in Amsterdam vor mehr als sechzig Jahren schrieb. Angelika Friedl berichtet über Ayurveda in Indien. Manuela Kay resümiert die - alles andere als umfangreiche - Geschichte schwul-lesbischer Liebesgeschichten im Hollywood-Kino. Besprochen wird unter anderem Bernhard Schlinks neuer Roman "Die Heimkehr" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 04.03.2006

Im Interview vergleicht Ang Lee, Regisseur des Oscar-Favoriten "Brokeback Mountain", unterschiedliche Reaktionen in Taiwan und den USA auf seinen Film "Das Hochzeitsbankett", in dem es auch schon einen Kuss zwischen Schwulen gab: "Tatsächlich habe ich den Goldenen Bären in Berlin gewonnen und daraufhin erst in Taiwan eine Jugendfreigabe bekommen. Natürlich haben alle den Atem angehalten, als die erste schwule Kuss-Szene kam. Aber dann kam ich in die USA und bekam eine strengere Freigabe, was mich sehr wunderte und ich stellte fest: Taiwan ist viel offener, während die USA immer konservativer werden. In Taiwan heißen die Oscars 'Golden Horse' Awards, der Gastgeber ist offen schwul, die Transvestiten gewinnen immer irgend etwas, flippen auf der Bühne aus."

Weitere Artikel: Durchaus begrüßenswert findet Daniel Kothenschulte das Aufführungsverbot für den Kannibalen-Film "Rohtenburg". Christian Thomas stellt Peter Cachola Schmal vor, den neuen Direktor des Deutschen Architektur-Museums. Harry Nutt hat den Nachruf auf den Schriftsteller und Feuilletonisten Heinz Ohff verfasst.

Besprochen werden eine Max-Beckmann-Ausstellung in der Frankfurter Schirn, Sebastian Baumgartens Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oper "Orest" an der Komischen Oper in Berlin,

Welt, 04.03.2006

Hanns-Georg Rodek betrachtet die Auswahl der Oscar-Nominierungen und stellt eine Tendenz fest: "Quo vadis, Hollywood? Ein repräsentativer Querschnitt der Industrie hat sich nicht für 'King Kong' oder 'Batman Begins' oder 'Star Wars: Episode III' entschieden, sondern für etwas, was man in Europa seit langer Zeit praktiziert, und wofür hier ein Name erfunden wurde: Autorenfilme. Nun kann das nicht ernsthaft der Weg sein, den eine Filmindustrie beschreitet, wenn sie Industrie bleiben will. Aber Hollywood spürt, dass es sich in eine Sackgasse manövriert hat, mit noch teureren Filmen in einem noch schmaleren Zeitfenster mit noch breiterem Publikumsnenner und noch massiverer Werbung."

Weitere Artikel: Klaus Geitel gratuliert Aribert Reimann zum Siebzigsten. Paul Badde meldet, dass Papst Benedikt XVI. auf den Titel "Patriarch des Westens" verzichtet, den seine Vorgänger noch verwendeten. Gaby Babic schreibt über die Aufnahme des Berlinale-Siegers "Grbavica" in Bosnien. Mehrere Artikel widmen sich neuen Entwicklungen auf dem Kunstmarkt. Besprochen werden eine Ingres-Ausstellung im Louvre und Robert Altmans Inszenierung von Arthur Millers "Resurrection Blues" in London.

Die Literarische Welt wartet mit zwei Vorabdrucken auf. Von Frank Schätzing lesen wir ein Kapitel aus seinem neuen Buch über die Ozeane: "Nachrichten aus einem unbekannten Universum", von Juri Andruchowytsch einen Streifzug "Durchs wilde Transkarpatien" aus einem demnächst bei Suhrkamp erscheinenden Sammelband über die Ränder Europas. Außerdem schreibt Tilman Krause ein liebevolles Porträt der Pariser Autorin Cecile Wajsbrot, und Klartext spricht er auch noch über den ernst zu nehmenden ("Freilich so ernst zu nehmend nun wieder auch nicht") Daniel Kehlmann.

NZZ, 04.03.2006

Joachim Güntner meldet, dass die Kultusministerkonferenz die Reformierung der Rechtschreibreform abgesegnet hat. Rolf Urs Ringger schreibt zum 70. Geburtstag des Komponisten Aribert Reimann.

Besprochen werden die Ausstellung "Rembrandt - Caravaggio" im van Gogh Museum Amsterdam, Robert Altmans Inszenierung von Arthur MillersStück "Resurrection Blues" in London ("Maximilian Schell als Diktator ist goldig", findet Lilo Weber) und Bücher, darunter Klaus Theweleits Buch "Friendly Fire" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Beilage Literatur und Kunst würdigt Joachim Fest den Schweizer Historiker Herbert Lüthy. Georg Kreis zeichnet nach, wie Lüthy den Prozess der europäischen Vergemeinschaftung beurteilte. Felix Philipp Ingold stellt unbekannte Texte aus dem Archiv des Schriftstellers Francis Ponge vor. Judith Klein porträtiert den Schriftsteller Romain Gary und sein Werk. Und Roman Bucheli wandert auf den Spuren von Hölderlin durch Hauptwil im Kanton Thurgau.

Tagesspiegel, 04.03.2006

Der Berliner Rechtsanwalt und Mäzen Peter Raue schlägt vor, dass die Akademie der Künste in ihr altes Gebäude am Hanseatenweg zurückkehrt: "Es gibt eben auch kein richtiges Akademieleben im falschen Gebäude."

SZ, 04.03.2006

Die Aufmacher sind der Sonntag Nacht stattfindenden Oscar-Vergabe gewidmet. Tobias Kniebe glaubt nicht an Überraschungen - sieht allerdings Hollywood in einer schweren Krise: "Viele Filme, die jetzt im Rampenlicht stehen, wurden als winzige Liebhaberprojekte außerhalb des Systems gestartet, etwa 'Good Night, And Good Luck' und 'Capote'. Wenn das so weitergehe, spottet die New York Times, könnte man die Oscars gleich mit den Independent Spirit Awards zusammenlegen, der Gala für den unabhängigen Film, die am Abend zuvor stattfindet - weitgehend mit denselben Nominierten. Der große Filmhistoriker David Thomson geht sogar noch weiter: Nach dem massiven Einbruch der Besucherzahlen im vergangenen Jahr sieht er das 'historische Band' zwischen Film und Publikum gefährdet, das Kino könne kaum noch den Anspruch erheben, ein Massenmedium zu sein." Fritz Göttler möchte über den Favoriten "Brokeback Mountain" angesichts des ihn umgebenden Geschwätzes am liebsten schweigen - preist ihn dann aber doch in den höchsten Tönen.

Weitere Artikel: Thomas Urban kommentiert den Niedergang der polnischen Linken. Anlässlich seines 70. Geburtstags wird der Komponist Aribert Reimann interviewt. Angesichts des Aufführungsverbots für den Kannibalen-Film "Rohtenburg" vermisst Andreas Zielcke bei den Richtern die nötige "Trittsicherheit". Jutta Göricke hat die nun für die Öffentlichkeit zugängliche ehemalige NSDAP-Kaderschmiede "Ordensburg Vogelsang" besucht.

Besprochen zwei Stuttgarter Inszenierungen, die Cervantes "Don Quijote" und Goethes "Faust 2" Neues abgewinnen wollen, eine dem Maler Hans Purrmann gewidmete Ausstellung in Tübingen und die Inszenierung von Leos Janaceks "Die Ausflüge des Herrn Broucek" an der Wiener Volksoper

Auf der Literaturseite finden sich unter anderem Bernhard Schlinks neuem Roman "Die Heimkehr" ("Styropor - und ganz viel intellektuelles Ornament") - mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende stellt Dirk Peitz zum Thema neue deutsche Popmusik überrascht fest: "Es stimmt wirklich: die Alten, und zwar die, von denen man es am wenigsten erwartet hätte, die echt nicht mehr für möglich Gehaltenen - sie übernehmen am Ende den Laden."

Weitere Artikel: Birk Meinhardt war in Stettin und hat dort das älteste funktionierende Kino der Welt vorgefunden. Alex Rühle erzählt eine wahrhaft niederschmetternde, und umso niederschmetterndere, weil wahre Geschichte: "Haus kaputt, Geld futsch, Existenz zerstört". Vorabgedruckt - aus einem im April erscheinenden Band mit Fußballgeschichten von Frauen - wird eine Fußballgeschichte von Sibylle Berg, Titel: "Halbzeit". Im Interview spricht Steve Martin über "Traurigkeit" und Zweifel - letzteres etwas, das man da, wo er herkommt, nicht kennt: "Gehen Sie bitte nie nach Texas! Da, wo ich herkomme, ist alles, was mit dem Wort Zweifel zu tun hat, verboten."

Berliner Zeitung, 04.03.2006

Im Interview mit Dirk Brauns erzählt der heute achtzigjährige polnische Regisseur Andrzej Wajda von seinen Erinnerungen an Warschau im Zweiten Weltkrieg und von einer ersten Wiederbegegnung mit Deutschen, die ihn versöhnlich stimmte: "1960 war ich bei den Filmfestspielen in Mar del Plata. Dort wurde auch 'Die Brücke' gezeigt. Plötzlich sah ich einen deutschen Film, den ich auf dieselbe Art und Weise gedreht hätte! Ich war so unglaublich glücklich darüber, dass ich dort in Mar del Plata auf Bernhard Wicki zulief und ihm die Hand küsste. Er war vollkommen verwirrt."

FAZ, 04.03.2006

Mark Siemons hat die malerische Stadt Lijiang besucht: Hier sitzen junge Chinesen im Cafe Prague, "lesen Comics, schreiben Tagebuch oder sinnieren einfach vor sich hin - ein unerhörter Vorgang". Verena Lueken hält anlässlich der Oscar-Nominierung von "Brokeback Mountain" einen kleinen Rückblick auf das Genre des Westerns. Andreas Kilb berichtet von einer Podiumsdiskussion in Berlin mit dem Philosophen Charles Taylor, der für mehr Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der Islamisten plädierte. Ingeborg Harms wirft einen Blick in deutsche Zeitschriften, die sich mit der Macht der Bilder befassen. Werner Jacob betrachtet junge Schweizer Architektur im Architekturmuseum Basel. Erwin Seitz hat am Gourmet-Festival "Der Winzer und sein Lieblingskoch" auf Sylt teilgenommen: "Gefördert wurde weniger das konzentrierte, analytische, mehr das ungezwungene, unterhaltsame Essen." Dieter Bartetzko schreibt zum Tod der Fernsehansagerin und "Was bin ich?"-Raterin Annette von Aretin.

Friedrich Karl Fromme vergleicht den ab Sonntag laufenden Zweiteiler "Dresden" mit seinen eigenen Erinnerungen an die Zerstörung der Stadt durch britische Bomber. Und auf der Medienseite sprechen die "Dresden"-Regisseure Nico Hofmann und Roland Suso Richter über ihren Film, freuen sich über die Billigung des britischen Botschafters und über ihre Hauptdarstellerin Felicitas Woll: "Felicitas ist eine Einheit mit sich selbst, wie sie spielt, wie sie an ihre Rolle herangeht, mit welcher Besessenheit sie ihre Rolle auslotet - das war ein Glücksgriff und eine Riesenfreude, ihr zuzuschauen."

Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage schreibt Eleonore Büning zum siebzigsten Geburtstag des Komponisten Aribert Reimann eine Hommage an dessen Gefühl für Stimmen. Und Dominik Graf schreibt zum Achtzigsten von Andrzej Wajda.

Besprochen werden Konstanze Lauterbachs Inszenierung des Müller-Stücks "Zement" im Schauspiel Leipzig, eine Ausstellung mit Max Beckmanns Aquarellen und Pastellen in der Frankfurter Schirn, eine Ausstellung mit Druckgrafiken aus dem 17. Jahrhundert im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam und Bücher, darunter Per Pettersons Roman "Pferde stehlen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um Mozart-Klaviersonaten, gespielt von Friedrich Gulda und Swjatoslaw Richter, Kammermusik von Edvard Grieg, Jean Sibelius und Carl Nielsen, Aufnahmen der Kafka-Fragmente von György Kurtag, CDs von The Wrens und Architecture in Helsinki und die DVD "We built this city", die die Geburt der elektronischen Musik in Köln dokumentiert.

In der Frankfurter Anthologie stellt Jochen Hieber ein Gedicht von Rainer Maria Rilke vor:

"Der Ball

Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,
zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
..."