Türkei / Literatur / Sachbuch und politische Bücher

Mittelalter

Kurt Flasch erzählt in seinem Buch "Kampfplätze der Philosophie" die Geschichte der Philosophie als Geschichte der großen Kontroversen, als unablässigen Kampf um die Wahrheit. Und wenn man den Kritikern glaubt, tut er das sehr anschaulich und verständlich. Die FR ist begeistert: Flasch erkläre alles, von dem man glaubte, dass man es nie verstehen würde: den Gottesbeweis des Anselm von Canterbury etwa, oder die Auseinandersetzungen zwischen Berengar von Tours und Lanfrank von Bec um Jesu Worte beim Letzten Abendmahl, zwischen Abaelard und Bernhard von Clairvaux oder zwischen Albertus Magnus und Averroes. "Spannend" und "geistvoll serviert" findet dies auch die FAZ. Die taz ist verblüfft, wie lange und wie hartnäckig Glaube und philosophische Vernunft miteinander gerungen haben.

Als eine nach Wissen dürstende Epoche der Vernunft stellt Johannes Fried "Das Mittelalter" in seinem 1000 Jahre europäischer Geschichte durchschreitenden Großwerk dar. Die NZZ findet es nur anfangs überraschend, dann aber absolut schlüssig, wie der Frankfurter Mediävist hier mit dem Bild vom finsteren, unaufgeklärten und zügellosen Mittelalter aufräumt, stört sich nur ein wenig an Frieds allzu idIdealisierung der westeuropäischen Kultur". Die Zeit bekennt, bei "fortschreitender Lektüre" geradezu "süchtig nach Wissen" geworden zu sein. Die SZ hat das Buch wie einen furios hingeworfenen Roman gelesen. Sehr gut gefiel der FAZ auch Kay Peter Jankrifts Buch "Henker, Huren, Handelsherren" das den Alltag im mittelalterlichen Augsburg behandelt - alles kommt vor: Politik, Zunftwesen, die Pest und das Hinrichtungsgeschäft! Für die Welt gelingt es Jankrift tatsächlich, "das Leben der Stadt mit ihren wenigen Licht- und den vielen Schattenseiten anhand der Quellen darzustellen, also wissenschaftlich zu bleiben und doch farbig zu zeigen, wie der Städter des Mittelalters lebte, wie er liebte, wie er starb."


Revolutionsgeschichte

Gebannt sind die Kritiker Karl Schlögel in das Moskau des verfluchten Jahres 1937, in das Jahr des Großen Terrors gefolgt. Eine der "größten geschichtlichen Katastrophen" sieht die SZ in "Terror und Traum" behandelt, seitdem sei der "Traum von der gerechten Gesellschaft" unauflöslich verbunden mit "Terror, Arbeitslager und überwachungsfreundlicher Gemeinschaftswohnung". In der Zeit rühmt der Historiker Gerd Koenen dieses "irrisierende Gesamtpanorama", das den Massenterror in das "Bild einer stürmische Industrialisierung, Mobilisierung und Urbanisierung" einordnet. Auch die NZZ ist tief beeindruckt von dieser "Geschichte der Gleichzeitigkeit", die das alltägliche Leben in Moskau der Ermordung Hunderttausender gegenüberstellt. Mit Faszination und Grauen haben die meisten Kritiker Orlando Figes' monumentales Werk "Die Flüsterer" gelesen, das auf über tausend Seiten vom Überleben im stalinistischen Russland erzählt.

Wenn Gerd Koenen revolutionäre Mythen zerlegt, schauen die Kritiker gern und gebannt dabei zu, denn der Frankfurter Historiker geht dabei "nicht mit der Abrissbirne" vor, sondern mit kühler Präzision, wie die SZ beteuert, die "Traumpfade der Weltrevolution" für die anspruchsvollste Biografie hält, die bisher über Che Guevara geschrieben wurde. So gnadenlos hat sie seine Blutjustiz auf Kuba noch nie dargestellt gesehen. Die Zeit findet diese Topografie revolutionärer Irrwege ebenso "brillant wie ernüchternd", so "luzide wie schmerzhaft". Als ausgesprochen erkenntnisfördernd lobt die FAZ, was Koenen über die wirren Pläne und terroristischen Methoden des lateinamerikanischen Spitzenrevolutionärs zusammenträgt. Die taz blickt ebenfalls freudig ins Licht der Erkenntnis, findet allerdings Fidel Castro nicht so gut getroffen.


Überwachen und Strafen


Aus Dietmar Kammerers Studie "Bilder der Überwachung" haben die RezensentInnen vor allem gelernt, dass die immer weiter ausgedehnte Videoüberwachung nur ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelt. Weder verhindere sie Verbrechen noch trage sie wesentlich zur Aufklärung bei. Die taz hat der Kulturwissenschaftler Kammerer nicht nur mit seinen Wissen beeindruckt, sondern auch mit seinem eleganten Duktus und den zahlreichen Beispielen. Aber auch die FAZ hat selten so viel Brillanz, Sachkunde und kritischen Geist gegen die Technik in Stellung gebracht gesehen.

Empfehlen kann die FAZ auch Andreas Schliepers Buch "Das aufgeklärte Töten" (), das die Geschichte der Guillotine als eine Geschichte des Fortschritts erzählt. Kein Foltern mehr, kein Scheiterhaufen, kein Vierteilen mehr - ein Hieb und das Recht war durchgesetzt. Das findet die FAZ nicht nur scharfsinnig, sondern auch höchst amüsant erzählt.



Biografien

Franziska Augstein zeichnet in "Von Treue und Verrat" nicht nur ein Porträt des Schriftstellers Jorge Semprun, sie schreibt auch über den Spanischen Bürgerkrieg, Zweiten Weltkrieg, Faschismus, Kommunismus, Buchenwald, Franco. Kurz: Man erfährt in diesem "spannend geschriebenen" Band nicht sehr viel über die Werke Sempruns und ihre literarische Bedeutung, aber sehr viel über das Jahrhundert, in dem er lebte, so die FAZ. Augstein hat über Jahre für das Buch Gespräche mit Semprun geführt. Ihre Haltung ihm gegenüber ist im Ergebnis eine Mischung aus "kritisch" und "zugewandt", so die sehr angetane FR. Die Zeit bewundert die "freche Eleganz, mit der Augstein Semprun porträtiert.

Es scheint in dieser durch den Enkel des Dichters vorgelegten Biografie im wesentlichen um Frank Wedekinds sexuelle Vorlieben zu gehen. Thomas Karlauf, selbst Autor einer viel gefeierten George-Biografie, fand diese "Männertragödie" () in der FAZ schön schauerlich, aber auch aufregend: "lebendig, knapp und tief human". Anatol Regnier schaffe es, über dieses Thema viel Literarisches und Zeitkolorit zu transportieren. Für den Bayerischen Rundfunk las sich das Buch "wie ein guter Roman". Er hat auch ein Interview mit Regnier geführt, das man hier hören kann.


Gesellschaft

Die Journalistin Güner Yasemin Balci ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen und hat dort in einem Jugendclub gearbeitet. Ihre Geschichte des "Arabboy" Rashid, Sohn einer libanesisch-palästinensischen Familie, hat die Kritiker ziemlich beeindruckt. So düster ist das Bild, das Balci von den dem Jungen zeichnet. Keinen einzigen hoffnungsfrohen Lichtstrahl sieht die SZ. Die FAZ ist es Aufklärung "im besten Sinne", den Balci macht ihr klar, wie weit die Diskussion um Integration oft an den hoffnungslosen Realitäten vorbeigeht. Man wird aus den Rezensionen allerdings nicht so recht schlau, ob es sich bei dem Buch um einen von der Realität inspirierten Roman oder um einen Tatsachenbericht handelt. Wer noch einen Arbeitsplatz hat, wird sich vielleicht für Francois Dubets Buch über das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz interessieren. Der französische Soziologe hat für seine Studie "Ungerechtigkeiten" Menschen aus den verschiedensten Berufen - Landwirte, Lehrer, Krankenhauspersonal, leitende Angestellte, Dozenten oder Taxifahrer - gefragt, welche Ungleichheiten sie im Arbeitsleben besonders ungerecht empfinden. Aufschlussreich finden das taz und FR. Die Zeit lobt die anschauliche Darstellung.


Ökonomie

Als Sudhir Vekatesh noch nicht Professor der Soziologie war, sondern Student, stapfte er mit einem Fragebogen bewaffnet los, um in Chicagos Sozialbausiedlungen zu recherchieren: "Was für ein Gefühl ist es, schwarz und arm zu sein?", wollte er wissen. Er blieb zehn Jahre - dank der Protektion des Gangleaders J.T., der die - mittlerweile abgerissenen - "Robert Taylor Homes" in der Chicagoer South Side managte, die schon Jahre zuvor von Stadtverwaltung, Polizei und Rettungsdiensten aufgegeben wurden. Bahnbrechend findet die FR Venkateshs aus diesen Erfahrungen hervorgegangenes Buch "Underground Economy" das ihr tiefe Einblicke in die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft gewährte und auch den Unterschied zwischen "Afroamerikanern "und "Niggern" erklärte. die Zeit lobt ebenfalls dieses sehr präzises Bild der ökonomischen Strukturen und Machtverhältnisse im Ghetto.

Die Bank von England kann ein Lied davon singen, dass man niemals gegen George Soros wetten sollte, und auch die New York Review of Books weiß, dass Soros mit seinen Vorhersagen in Buch- oder Anlageform meist richtig gelegen hat. Wenn er in seinem Manifest "Das Ende der Finanzmärkte" () nun das Ende einer Ära prophezeit und für das Ende des billigen Geldes und der unregulierten Finanzmärkte plädiert, dann folgt sie ihm. Für die FR ist das Buch eine der "aufregendsten Lektüren unserer Zeit", weil hier ein "Kritiker im Handgemenge" die Marktlage analysiert. Und nur noch staunen kann sie, wenn mit Soros einer der erfolgreichsten Spekulanten des 20. Jahrhunderts einem George Lukacs "so radikal nahe" kommt.


Kulturwissenschaften

Sibirien liege "außerhalb der Geschichte", hat Hegel in seiner "Philosophie der Geschichte" geglaubt. Auf diese Passage bezieht sich Laszlo Földenyi in seinem Essay "Dostojewski liest in Sibirien Hegel und bricht in Tränen aus" (), um die Verzweiflung des Verbannten gegen den Optimismus des Geschichtsphilosophen zu stellen. Ganz bescheiden werden die deutschen Kritiker, wenn sie den ungarischen Literaturwissenschaftler lesen, der ihrer Meinung nach Lesekunst, Klarheit und Stil verbindet. "Man liest Földenyi und wird deutlich klüger dabei", schwärmt Arno Widmann in der FR. Die FAZ sieht in dem Band nicht nur einen "wunderbar intelligenten und stilistisch brillanten Essay", sondern auch ein "Plädoyer für die Denkfreiheit", wie sie in einem kurzen, aber heftigen Lob schreibt.

Mit großer großer Freude haben die Kritiker diese augenzwinkernde Geschichte der "Wollust" () gelesen. Dabei ist es vor allem - Augustinus sei dank - eine Geschichte der Lustfeindlichkeit, die Simon Blackburn hier erzählt. Vergnüglich und klug findet die SZ dieses Plädoyer für den "wilden Zwilling der braven Liebe". Die FAZ findet es unterhaltsam und gebildet und beteuert, viel über ihre tiefsten Wünsche und Ängste erfahren zu haben. Die Zeit freut sich über Blackburns Unverkrampftheit, auch in methodologischer Hinsicht, und fühlte sich ermuntert, zur Tat zu schreiten. FAZ und NZZ außerdem sehr begeistert über Pierre Michons biografischen Essay über Rimbaud


Biologie

Zu Charles Darwins bevorstehendem 200. Geburtstag im nächsten Jahr kommen eine ganze Reihe von Büchern zu Evolution und Neo-Darwinismus auf den Markt. In der SZ gibt der Biologe Cord Riechelmann eine überzeugende Empfehlung für Richard Dawkins' "Geschichten vom Ursprung des Lebens" () aus: "Mehr kann man zur Zeit in einem Buch nicht lesen". Auf über 900 Seiten und im Stile von Chaucers "Canterbury Tales" versammelt er die verschiedensten Tierarten sozusagen zu einer Pilgerreise zum Ursprung des Lebens und lässt sie die Geschichte ihrer Entstehung erzählen. Riechelmann bewundert Dawkins als den radikalsten aller Darwinisten, der in diesem Buch aber viel nüchterner schreibe, als etwa in seiner atheistischen Streitschrift "Der Gotteswahn". Und dabei gelinge ihm, was Darwin selbst nicht geschafft habe: Die Entstehung des Lebens zu erklären.

Die Aufmerksamkeit der Rezensenten hat sich auch der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf mit seinem Buch "Warum die Menschen sesshaft wurden" () gesichert, in dem er die These vertritt, dass nicht der Hunger den Menschen zum Ackerbauern gemacht hat, sondern der Durst - genauer gesagt der Bierdurst. Für lehrreich und amüsant hält die Zeit auch Neil Shubins "Der Fisch in uns" Darin erzählt der Chicagoer Paläontologe die Geschichte der Evolution am Beispiel des menschlichen Körpers - und zwar laut Zeit "begnadet". Die SZ äußert sich deutlich verhaltener, konzediert aber, dass Shubin weiß, wovon er schreibt.


Musik

Für die SZ ist Nik Cohns Buch "Tricksta" nicht weniger als das beste Buch, das je über Gangsta-Rap geschrieben wurde. Der durchaus schon etwas in die Jahre gekommene Musikjournalist Cohn erzählt darin, wie er sich nach New Orleans aufgemacht hat, um HipHop zu produzieren. Herausgekommen ist dabei laut SZ nicht nur ein "zutiefst menschnliches" Porträt der schwarzen Ghetto-Kultur, sondern auch ein unsentimentaler Abgesang auf das bereits vor Katrina sieche New Orleans. Der Guardian hat es zuvor schon ganz ähnlich formuliert und warnt: "In Cohns äußerst unromantischer Version ist Gangsta-Rap die ultimative Zerstörung aller Hoffnung."

Die Jugend wird immer wieder neu erfunden. Von sich selbst, von politischen Bewegungen, von der Unterhaltungsindustrie. Der britische Musikjournalist Jon Savage spürt in seinem Buch dem Phänomen des "Teenage" () in allen erdenklichen Facetten nach. Die FR hat mit Interesse verfolgt, welche Idole sich die Jugend im Laufe der Zeit alles gegeben hat, von Judy Garland über Elvis Presley und Tony Montana bis zum Gangster-Rapper. Der NZZ gehen zwar einige Deutungen zu weit, aber vom Schwung und der stringenten Montage des Materials hat sie sich durchaus mitreißen lassen. Die FAZ baut allzu hohen Erwartungen an eine vollständige Behandlung des Themas vor und lobt Savages Bild der Jugend eher als pointillistisch.


Film

Sehr gern gelesen haben die Kritiker Volker Schlöndorffs Erinnerungen "Licht, Schatten und Bewegung" (), in denen der Filmemacher wunderbare Geschichten über das Kino, Filme und Regisseure erzählt. Besonders spannend findet die FAZ, was Schlöndorff über seine Arbeit mit Louis Malle und Jean-Pierre Melville in Paris zu erzählen hat. In der Zeit hat George Seeßlen in dem Buch "alle Meriten und alle Macken" gefunden, die auch einen guten Schlöndorff-Film ausmachen, vor allem aber eine Ahnung davon bekommen, wie es war, als das Kino noch Schnittstelle zwischen dem eigenen Leben und der Geschichte war. Die SZ fragt sich, ob Volker Schlöndorff das Kino mehr geliebt hat als das Leben. Verstehen könnte sie es.

Hingewiesen sei noch auf zwei prächtige Bildbände: die Monografie "Luchino Visconti" die die SZ in Nostalgie nur so schwelgen ließ, und den mit sieben Kilo "größten denkbaren Bildband" zu Ingmar Bergman, "The Ingmar Bergman Archives" (), der die FAZ einfach überwältigte.



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