Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale Retrospektive: Ästhetik des Schattens

Von Friederike Horstmann
06.02.2014. "Aesthetics of Shadow" lautet der Titel der diesjährigen Berlinale-Retrospektive, die ästhetische Wechselwirkungen vor allem jener Filmen nachzeichnet, die in Japan, den USA und in Deutschland zwischen den Jahren 1915-1950 produziert wurden.


Grell ausgeleuchtete Schießbudenfiguren, rotierende Glücksräder und drehende Papierlampions mit japanischen Schriftzeichen erzeugen einen visuellen Budenzauber mit funkelnden Lichteffekten. Im Vergnügungsviertel Yoshiwaras von Edo, dem heutigen Tokio, wird Rikiya während einer Buhlerei von einem Konkurrenten mit weißer Asche beworfen und geblendet. Weiße Lichtflecken flimmern durchs Bild, treffen als schmerzhafte Berührung auf die Netzhaut und erzeugen Störungen. Der Raum, der sich damit plötzlich eröffnet, setzt den Blick unberechenbaren Überblendungen, Unschärfen und schnellen Schnitten auf der Leinwand aus. Im diffusen Gemisch huschen neben Unschärfen auch Schatten über das Bild, Figuren verlieren ihrer Konturen, werden schemenhaft, Distanzen werden geglättet. Wie in einem Kaleidoskop wirbeln die Bilder durcheinander und überlagern sich. Schwarzweiße Schachbrettfelder der rotierenden Glücksräder flackern über Gesichtsgroßaufnahmen mit grimassierender Mimik.



In "Jujiro" (deutscher Titel: "Im Schatten des Yoshiwara") von Teinosuke Kinugasa gilt die Aufmerksamkeit weniger den Objekten als dem Blick, der auf sie fällt. Neben der melodramatischen Geschichte läuft eine zweite, die sich in Licht und Schatten, in Unschärfen und Überblendungen artikuliert und vom Verhältnis zwischen Licht und Blick, Blenden und Sehen, lichtempfindlichem Filmhäutchen und verletzlichem Netzhäutchen handelt. In den Lichteffekten des sozialkritischen Melodrams, das als erster japanischer Film 1929 nach Deutschland kam, zeigen sich tragische Schattenseiten, denn die urbanen Illuminationen von Yoshiwara mit ihren leuchtenden Lampions werden als starker Kontrast zur dunklen Gasse des Wohnquartiers inszeniert, in dessen Innenräumen sich Gitterwerke aus Licht und Schatten auf den Körpern durch starkes, durch die Schiebetüren aus Holz und Papier einfallendes Gegenlicht abzeichnen.



Der Wirbel der schachbrettartigen Roulettescheibe transformiert das Bild in eine Struktur, die Ähnlichkeit mit ästhetischen Verfahren surrealistischer Filme aufweist und von deren abstrakten Lichtspielen einige in der diesjährigen Retrospektive gezeigt werden. Neben dem Filmexperiment des cinema pur "Jeux des reflets et de la vitesse", in dem Henri Chomette Lichtstrahlen durch schnell bewegte Kristalle schickte und diese kaleidoskopischen Reflexe filmte, wird Man Rays Cinépoème "Emak Bakia" zu sehen sein, ein Licht- und Schattenspiel mit mal geometrischen, dann wieder organischen Formen, dann fast dokumentarischen Wasserbildern, deren Reflexe zu eigenartig ornamentalen Mustern destilliert sind.



Als abstraktes Arrangement zwischen Avantgarde und Dokumentarfilm zeigt Walter Ruttmanns "Berlin. Die Sinfonie der Großstadt" neusachlich fotografierte Wirklichkeitssplitter der Moloch-Metropole Berlin in dynamischer Montage, einen Tag von frühmorgendlicher Nüchternheit bis zu nächtlichen Illuminationen. Schon die Titel von Ruttmanns Großstadtsinfonie und Hans Richters "Rhythmus 21" und "Rhythmus 23" bezeichnen unterschiedliche Versuche der Transpositionen zwischen Musik und Licht.



"Aesthetics of Shadow" nennt sich die Retrospektive 2014 und wie bereits in der vergangenen des letzten Jahres "The Weimar Touch" werden zwischen den einzelnen Filmen lose Verbindungen geknüpft, diesjährig um ästhetische Wechselwirkungen vor allem jener Filmen nachzuzeichnen, die in Japan, den USA und in Deutschland zwischen den Jahren 1915-1950 produziert wurden. Ausgehend von Daisuke Miyaos Buch "The Aesthetics of Shadow. Lighting and Japanese Cinema" untersucht das Programm die Lichtgestaltung in den großen Studioproduktionen, in denen sich transatlantische Im- und Exporte überlagern. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf den Regisseuren, Kameramännern und Schauspielerinnen, sondern auch auf unterschiedlichen Genre wie den Straßenfilm, den Kriegsfilm oder die japanischen jidaigeki (Historienfilme) und auch auf europäischem Experimentalkino.

Neben "Jujiro" läuft der Historienfilm "Yukinojo henge" des Regisseurs Teinosuke Kinugasa, der ein Bewunderer F. W. Murnaus und vor allem der entfesselten Kamera Karl Freunds im "Letzten Mann" war. Gezeigt werden von Murnau sein letzter deutscher Film "Faust. Eine deutsche Volkssage" und sein erster in Hollywood gedrehter Film "Sunrise - A Song of Two Humans" mit irrlichternden Reflexen, schwarzen Schattenrissen und fluid somnambulen Kamerabewegungen, für die die Kameramänner Charles Rosher und Karl Struss mit dem ersten überhaupt verliehenen Kamera-Oscar ausgezeichnet wurden. Rosher war schon in den 1920er nach Deutschland gereist, um als Beleuchtungsberater am "Faust" mitzuwirken. In der Eingangssequenz der verfilmten Volkssage wirbeln Dunstschwaden durchs Bild, nebelhaftes Lichtgewölk zerströmt, flackernde Lichtstreifen erhellen den pulsierenden Wolkenwirbel. Aus diesem quellenden Lichtnebel formieren sich die drei apokalyptischen Reitergerippe. Ihr Wolkenritt hätte ohne pyrotechnische Hilfsmittel wie Rauchbomben und Feuerwerk nicht visualisiert werden können - optische Spezialeffekten mit schwer süßlicher Licht-Schatten-Symbolik. Noch viele Jahre bezeichnete man in Hollywood die Technik, Filme auszuleuchten, als "Berlin light", erzählte Frieda Grafe 1988 in einem Geburtstagsartikel zu Murnau.

Die Lichtsetzung in den Schattenwelten von Josef von Sternberg beeindruckte nicht nur japanische Regisseure wie Tomotaka Tasaka. Leuchtende Lichteffekte verwandeln Paramounts Pappmaché-China in "Shanghai Express" in ein exotisches Labyrinth. Das skulptural ausgeleuchtete Gesicht von Marlene Dietrich, das wie eine leuchtende Fläche als Kontrast aus der dunklen Umgebung herausstechen soll, wird durch einen vertikalen Lichtstrom modelliert, wodurch die Wangen geheimnisvoll verdunkeln und die Knochen hervortreten. Sternberg treibt die Bilder ständig an den Rand ihrer Auflösung durch lichtgesiebte Schattennetze und exzentrische Garderoben mit glänzenden Pailletten und flirrenden Federn.



Auch das Hafenlabyrinth des maritimen Melodrams "The Docks of New York" wird durch komplexe Lichttechnik strukturiert. Optische Oberflächen vibrieren, verdichten und verschieben sich in Wellen- und Nebelbildern. Dies inspirierte auch einen anderen Hafenfilm: "Le Quai des brumes" von Marcel Carné. Am Rande der Zivilisation ist der Hafen kein Ort des Aufbruchs, sondern ein Sammelsurium für Gestrandete, die nicht vom Meer angespült wurden, sondern von einer auseinanderbrechenden Gesellschaft. Der Drehbuchautor Jacques Prévert arbeitete mit Anklängen an Sternbergs "The Docks of New York", dem Kultfilm der Surrealisten. Der aus Nazideutschland emigrierte deutsche Kameramann Eugen Schüfftan schuf am Originalschauplatz arbiträre Lichtkonzepte zwischen unscharfen, weiß wabernden Nebelschwaden und scharfkantigen Strahlenbündeln von starker Helligkeit, die die Figuren umkreisen und den Raum in helle und dunkle Zonen zergliedern.



Wie so häufig verknüpft sich Mediengeschichte mit Kriegsgeschichte. Schüfftan arbeitete mit besonders lichtstarken Scheinwerfern, die für US-amerikanische Militärzwecke bereits im Ersten Weltkrieg entwickelt wurden. Konkrete Kriegs- und Lichtgeschichten werden in den japanischen Filmen "Hawai Mare oki kaisen" (The War at Sea from Hawaii to Malay, Video) von Kajiro Yamamoto und in "Gonin no sekkohei" von Tomotaka Tasaka und in US-amerikanischen Filmen von Howard Hawks ("The Dawn Patrol" und "Air Force") erzählt.

Die Reihe von außergewöhnlichen Filmen, von Kinoklassikern ist in der diesjährigen Retrospektive besonders lang. Durch solch Programmierung wird im kulturellen Transfer von Licht und Schatten vor allem Neues im Bekannten zu suchen sein, in den synkopischen Rhythmen und exzentrischen Schattenbildern des all-american Citizen Kane, in der polyfokalen Erzähltechnik und in der Schärfentiefe des Fuji-Filmmaterials von "Rashomon". Möglicherweise hätten weniger geläufige Kinobilder einen noch größeren Schatten geworfen.

Friederike Horstmann