9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2024 - Europa

In einer rotgrünen Koalition mit Joschka Fischer hätte Olaf Scholz keinen Spaß. Auf Scholz' Satz, die Debatte um eine eigene atomare Bewaffnung sei Quatsch, das sei die falsche Diskussion, antwortet Fischer im Gespräch mit Tina Hildebrandt und Heinrich Wefing von der Zeit: "Dann frage ich den Kanzler: Ist die nukleare Schutzgarantie der USA für Europa Quatsch? Verdanken wir dieser nuklearen Schutzgarantie nicht sieben Jahrzehnte Frieden? Wenn man das bejaht, ist das Argument erledigt, es sei Quatsch, über eine eigene europäische atomare Abschreckung nachzudenken." Zum Gaza-Krieg sagt Fischer: "Es ist unendlich schwer zu vermitteln, aber: Israel muss überproportional stark sein und hart gegen seine Gegner agieren, weil es das Land sonst nicht gäbe."

Naika Foroutan, sonst für Diskriminierung und Rassismus zuständig, fragt in der Zeit, warum immer mehr Wähler mit Migrationshintergrund für die AfD stimmen. Ein Grund könnte sein, dass sich die Ideologien ähneln: "Grundsätzlich ist das Wählerprofil der türkeistämmigen Erdogan-Wähler mit ihrem nationalistischen, antifeministischen, homophoben und antisemitischen Repertoire durchaus anschlussfähig an die Wähler der AfD. Syrische Migranten hingegen sind ansprechbar über den Vorwurf, der Westen agiere scheinheilig: 'Russland wurde nicht boykottiert, als es Syrien bombardiert hat - aber bei der Ukraine sind alle eingeschritten.' Viele iranstämmige potenzielle Wähler teilen die tiefen antimuslimischen Ressentiments." Warum auch sollte man den Islam im Iran nicht lieben?

Das geplante "Demokratiefördergesetz" (unsere Resümees) begünstigt einseitig "Initiativen aus dem rot-grünen Milieu" und ist zudem verfassungswidrig, meint Susanne Gaschke in der NZZ und beruft sich auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Dieser findet, dass vor allem die Länder zuständig seien. Von anderer Seite kommt der Vorwurf, dass sich der Staat hier seine "Zivilgesellschaft" selber backt und auf Dauer stellt. Interessant sind die Passagen über das Unbehagen anderer politischer Stiftungen und Institutionen wie der parteinahen Stiftungen oder der Bundeszentrale für politische Bildung über die neue Konkurrenz.

Die russische Gesellschaft hat sich seit dem 16. Jahrhundert nicht nennenswert verändert, erklärt der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin, der vor kurzem seinen neuen Roman "Doktor Garin" veröffentlicht hat, im NZZ-Interview mit Benedict Neff. "Es gibt einen Herrscher an der Spitze, dann den Sicherheitsapparat, die Elite weiter unten und das Volk ganz unten. In der Zeit der siebzigjährigen Sowjetmacht wurden eigenständig denkende und unabhängige Menschen gezielt vernichtet. Darauf folgte eine kurze Periode mit einem wilden Kapitalismus, der Versuch von Demokratie. Danach kamen Leute vom KGB an die Macht, und sie haben diese mittelalterliche Pyramide wiederhergestellt, um eine verängstigte und über Jahrzehnte terrorisierte Bevölkerung wieder zu unterwerfen. Was können wir von dieser Gesellschaft erwarten? Sie erinnert mich an einen furchtbar vergewaltigten Menschen. Es ist noch zu früh, von diesen Leuten etwas zu erwarten. Sie müssen erst einmal aufhören, nur eine Bevölkerung zu sein, und eine Gesellschaft werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2024 - Europa

Buch in der Debatte

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Autor und Russlandexperte Julian Hans spricht im FR-Interview mit Bascha Mika über sein neues Buch "Kinder der Gewalt", das die russische Gesellschaft und Politik anhand von fünf großen Kriminalfällen analysiert, die die russische Öffentlichkeit bewegten. Die "Brutalisierung" in Russland sei durch die fortschreitende Militarisierung in den letzten Jahren noch weiter gewachsen. Dabei, erklärt er, spielt auch Scham eine Rolle: "Scham, weil eine große Nation mit so vielen Ressourcen so viel schlechter lebt als die Menschen im Westen. Nach dem Motto: Wir haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen und unsere Pensionäre leben weniger gut als die deutschen, die wir besiegt haben. Wir beliefern die ganze Welt mit Öl und Gas, aber in vielen russischen Haushalten gibt es keinen Gasanschluss. Wir haben weniger Wohlstand als alle anderen Industrienationen. Diese Kombination aus Stolz und Scham ist gefährlich. Denn der Großmachtdünkel wird immer wieder als Trost für die schlechten Verhältnisse angeboten. Der Klassiker ist: Du sitzt in einer Wohnung mit Außentoilette, ohne Gasanschluss und warmes Wasser, während dir im Fernsehen vorgemacht wird, dass die Amerikaner vor dir Angst haben. Sie haben zwar die schöneren Autos, aber sie zittern vor dir. Das ist eine Kompensation für die eigene Erniedrigung. So hängen Gewalt und Erniedrigung zusammen."

Die NZZ druckt die Schlussrede des Bürgerrechtlers Oleg Orlow, die er vor dem Gericht hielt, das ihn am 27. Februar wegen eines regierungskritischen Artikels zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilte. Es habe sich gezeigt, dass alles, was er in seinem Artikel geschrieben habe richtig sei: Russland habe sich zu einem "totalen" Staat entwickelt, in dem "Absurdität und Willkür" walten, die "hinter einem Schleier aus pseudorechtsstaatlichen Prozeduren versteckt werden. Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, ohne dass erklärt wird, was das bedeutet und wie diese sich von erlaubter Kritik unterscheidet. Wir werden beschuldigt, Behauptungen verbreitet zu haben, von denen wir wussten, dass sie falsch sind - ohne dass gezeigt wird, dass sie tatsächlich falsch sind. Genauso ging der sowjetische Staat vor, wenn er jede Kritik als Lüge bezeichnete."

Im Guardian legt der inhaftierte russische Oppositionspolitiker und enge Freund von Alexej Nawalny, Ilja Jaschin, indes noch einmal Putins ganze Heuchelei offen: Putin predigt traditionelle Werte und religiösen Glauben allein mit dem Ziel, die russische Gesellschaft zu manipulieren, schreibt er: "Putin behauptet, ein Mann des Glaubens zu sein, der christliche Traditionen pflegt. Die Realität ist, dass er in Osteuropa einen blutigen Krieg begonnen hat, einen Krieg, in dem Christen andere Christen töten. Er behauptet, der Verteidiger des Familienlebens zu sein. In Wirklichkeit ist er ein Mann, der sich öffentlich von seinen eigenen Töchtern distanziert hat, und wenn er sie gegenüber der Presse erwähnt, nennt er sie 'diese Frauen'. Putins Heuchelei ist offensichtlich; Neben ihm erschien Alexej Nawalny als ein viel ganzheitlicherer, ausgeglichenerer Mensch, der im gesunden, normalen Sinne des Wortes im Konservatismus verankert war."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.03.2024 - Europa

Gäbe es eine Partei der Nichtwähler, wäre sie die größte Partei im Parlament, hält die Journalistin und Schriftstellerin Evelyn Roll in der SZ fest und meint: Um die AfD zu schwächen, müssen neben den Nichtwählern auch die Neuwähler gewonnen werden. Und zwar in den sozialen Medien, wo bisher vor allem die AfD aktiv ist: "Die AfD züchtet sich vor den Augen aller, die hinsehen, ihren völkisch-nationalistisch-rassistischen Nachwuchs und hat auf Tiktok und Youtube mehr Reichweite als alle anderen Parteien zusammen. Das ist ein richtiger Skandal."
Stichwörter: Roll, Evelyn, AfD, Nichtwähler, Tiktok

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2024 - Europa

Die AfD zeigt, dass sie aus den Fehlern anderer rechten Parteien, zum Beispiel den Republikanern lernen kann, erklärt Historiker Volker Weiß in der SZ. So beherzigen sie den Ratschlag des ehemaligen Vorsitzenden der Republikaner Franz Schönhuber: "'Die Lehre für künftige Gründungen müsse lauten: 'Keine Beamten in Spitzenstellungen!' Deren Abhängigkeit vom Dienstherrn führe nur zur Verwässerung radikaler Inhalte. (...) Während in der Gründungsphase häufig Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes an den Spitzen von Landesverbänden und Gremien zu finden waren, sind diese heute in der Minderheit. An die Stelle der Professoren aus der Gründungsphase traten häufig Unternehmensberater mit radikalen Positionen zu Markt und Nation. Mit dieser Abkopplung der Staatsdiener hat sich die AfD heute frühzeitig auf mögliche Behördenmaßnahmen eingestellt und zugleich inhaltlich schärfer ausgerichtet."

Der koalitionsinterne Streit um das "Demokratiefördergesetz" geht weiter. SPD und Grüne wollen damit bestimmte Organisationen der "Zivilgesellschaft" auf Dauer stellen, die FDP ist dagegen. Thorsten Jungholt zitiert in der Welt aus einem Gutachten des Wissenschaflichen Dienstes des Bundestags, das die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Thema generell in Frage stellt. Auch die von SPD und Grünen bemühte "Fürsorgepflicht" verfängt nicht: "Zwar habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Jugendhilfe-Urteil die politische Bildung Jugendlicher der öffentlichen Fürsorge zugerechnet. Im Demokratiefördergesetz allerdings geht es um die Bildung Erwachsener. Die Erstreckung der Fürsorgekompetenz auf diesen Bereich habe die Rechtsprechung 'bisher jedoch nicht vorgenommen'."

So sieht es laut Moscow Times am Grab Alexej Nawalnys inzwischen aus:

Die Moscow Times präsentiert auch einige sehr beeindruckende Straßen-Interviews mit Menschen, die das Grab Nawalnys besuchen:

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2024 - Europa

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Viktor Jerofejew, aktueller Roman "Der große Gopnik", stellt in der Welt eine düstere Diagnose. Nawalnys Tod wird Putin stärken, glaubt er: "Putin ist klug genug, um für lange Zeit an der Macht zu bleiben. Bei den bevorstehenden Wahlen im März wird die Opposition wieder einmal die Unrechtmäßigkeit des Präsidenten erklären - aber ihn lässt das kalt. Sollte der russisch-ukrainische Krieg mit einer Kompromissvereinbarung enden, ähnlich dem Ende des Koreakrieges nach Stalins Tod 1953, wird der Westen recht schnell die Beziehungen zu Putin regeln, sich dabei die Nase zuhalten vom üblen Gestank oder auch nicht, denn die Atommacht Russland ist ein riesiges Land und eine permanente Bedrohung, aber zugleich auch eine große Kultur in der Vergangenheit. Die kulturellen Beziehungen zum Westen und dann auch die gesellschaftlichen werden noch vor dem endgültigen Abgang Putins von der politischen Bühne aufblühen. Der Westen hat sich als ebenso unfähig wie Nawalny erwiesen, mit Putin fertigzuwerden. Aber falls Putin aus irgendeinem Grund einen Moment der Schwäche zeigt, wird die zivilisierte Welt ihn mit dem größten Vergnügen verschlingen."

Irgendwann wird Russland frei sein, hofft hingegen der inhaftierte Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Murza, mit dem die Novaya Gazeta Baltic über die Ermordung von Nawalny und Nemzow sprechen konnte: "Man kann die Zukunft nicht aufhalten, egal wie sehr man es versucht. Nicht mit Kugeln, Gift oder Gefängnis. Auch wenn keiner von uns überlebt, werden andere unseren Platz einnehmen. Einige dieser jungen Leute, die im Januar Schlange standen, um Boris Nadeschdin zu unterstützen, sind die Zukunft."

"Je strenger die Sanktionen, desto weniger Tod und Zerstörung in der Ukraine", schreibt auf den Wirtschaftsseiten der FAS der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergei Guriev, der vorrechnet, dass die Sanktionen gegen Russland sehr wohl Wirkungen zeigen. Während Putin "das Geld ausgeht, die Ausgaben für Bildung, Gesundheitswesen und Infrastrukturinvestitionen weiter kürzen. Dies wird jedoch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung erhöhen, sodass mehr Geld für die Bereitschaftspolizei ausgegeben werden muss. In jedem Fall wird die Beschränkung der Geldmenge in Putins Taschen seine Fähigkeit zur Zerstörung der Ukraine verringern. Putins Krieg in der Ukraine ist ein heißer Krieg, der auf dem Schlachtfeld gewonnen werden muss. Die Ukraine braucht Waffen und Geld. Aber es ist auch ein Wirtschaftskrieg, in dem Sanktionen den Krieg für Putin noch teurer machen können und sollten."

Weshalb Olaf Scholz der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern eine Absage erteilt hat, kann Wladimir Klitschko im Welt-Gespräch beim besten Willen nicht verstehen: "Die Zögerlichkeit und Unentschlossenheit immer wieder aufs Neue ertragen zu müssen, ist wirklich frustrierend. Es ist auch schlecht für unsere Demokratie, für unsere Werte, für unser Leben. Zum jetzigen Zeitpunkt kann der Westen Putin noch relativ billig in der Ukraine Paroli bieten. Nämlich ohne dass beispielsweise deutsche Soldaten dabei ums Leben kommen. Aber wenn wir uns in der freien Welt nicht stärker mobilisieren, wird es bald zu spät sein. Dann werden die Kosten später sehr viel höher sein. Ich spreche jetzt nicht nur von finanziellen Kosten, sondern von Menschenleben. Heute ist es noch billig: Wir Ukrainer erledigen den Job, geben Sie uns die dafür nötigen Waffen, wir erledigen den Job."

Ebenfalls in der Welt zerlegt Klaus Wittmann die Bedenken gegen eine Tauruslieferung, etwa die Behauptung "Taurus-Marschflugkörper könnten bis nach Moskau fliegen. Irrelevant, denn die Ukraine hat bisher noch jede mit der Lieferung besonderer Waffensysteme verbundene Auflage eingehalten, besonders die Verpflichtung, sie nicht gegen russisches Gebiet einzusetzen. Dass man deutscherseits offenbar Kiews Zusicherung nicht glaubt, ist schmählich."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.03.2024 - Europa

Ach, warum lässt der Staat diese harmlosen Terrorrentner von der RAF nicht endlich in Ruhe, fragte ein gemütlich gestimmter Jürgen Gottschlich gestern in der taz (unser Resümee). Heute muss Konrad Litschko die Nachricht nachreichen, dass bei Daniela Klette ein ganzes Waffenarsenal sichergestellt wurde: "Teile einer Panzerfaustgranate, eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole, eine Kurzwaffe und Munition".

"Die dritte Generation ist eigentlich unpolitisch", meint RAF-Experte Stefan Aust, der im Tagesspiegel-Gespräch allerdings zugleich an deren Morde erinnert und einräumt, dass wir eigentlich kaum etwas wissen: "Wenn jemand lange im Untergrund ist, dabei mit ausländischen Nachrichtendiensten in Kontakt steht, etwa mit den Palästinensern, wenn es auch die Möglichkeit gibt, bei denen für den Kampf zu trainieren, dann weiß diese Person irgendwann, wie es geht. Wie man keine Fingerabdrücke hinterlässt und vieles anderes. Das waren Vollprofis."

Das Recht auf Abtreibung wird nach Abstimmungen im französischen Parlament und Im Senat wahrscheinlich in die französische Verfassung geschrieben, berichtet Rudolf Balmer in der taz: "Frankreich wird damit das erste Land der Welt, in dem die Verfassung Frauen das Recht auf die Abtreibung garantiert. 'Das Gesetz bestimmt die Bedingungen, unter denen die den Frauen garantierte Freiheit auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch ausgeübt wird', soll es dort in Zukunft heißen."

Charlie Hebdo zeigt die Reaktionen bestürzter Kleriker: "Man hat uns ihren Bauch weggenommen."


Wieder einmal gab es in der Türkei ein Grubenunglück, wieder einmal kamen Arbeiter ums Leben. Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne das Ausmaß der Korruption, bis es zu diesem Unfall kam. Unter anderem hat er damit zu tun, dass das Erdogan-Regime nehestehenden Unternehmen eine ganze Flut an Bergbaulizenzen erteilt hat: "Sind wir dank dieser Lizenzflut nun an wertvolle Bodenschätze gekommen und schwimmen im Wohlstand? Leider nicht. Wir sind ärmer als zu jenen Zeiten, als Erdogan an die Regierung kam. Während sich gewisse Leute die Taschen füllen, bleiben uns die Umweltkatastrophen und Todesfälle."

"Der russische Staat agiert mit der Brutalität eines pathologischen Idioten", schreibt der russische, im Exil lebende Schriftsteller Sergei Lebedew, der in der NZZ schildert, wie die russische Gesellschaft in Folge des "totalitären Anspruchs" des Staates auf seine Bürger immer mehr in Gleichgültigkeit und Angst versinkt. Die brutalen Repressionen gegen die LGBTQ-Community sind bekannt, derweil wird ein partielles Abtreibungsverbot diskutiert. Und: "Die Gesellschaft bröckelt. Mittlerweile kehren ehemalige Häftlinge, die in Gefängnissen für den Kampf in der Ukraine rekrutiert wurden und ihren Dienst abgeleistet haben, in ihre russische Heimat zurück. Sie sind begnadigt worden, haben ihre Rechte zurückgewonnen - als Lohn für weitere Untaten, sprich für die Tötung von Ukrainern. Dmitri Peskow, Putins Pressesprecher, gebrauchte dafür nicht zufällig den Begriff 'Blutbuße'. Unter den Rückkehrern gibt es kaltblütige Sadisten, Serienmörder und Triebtäter. Sie kehren dahin zurück, wo sie vor kurzem noch verhaftet und verurteilt wurden. Dank ihrer Beteiligung am verbrecherischen Krieg sind sie 'rein'. Nun leben sie wieder in Nachbarschaft der Angehörigen ihrer Opfer. In Nachbarschaft aller."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.02.2024 - Europa

Emmanuel Macron schließt westliche Bodentruppen in der Ukraine nicht aus, Olaf Scholz versichert das Gegenteil - auch noch mal per Video - und behauptet, Europa werde nicht Kriegspartei werden, obwohl das natürlich nie der Angegriffene definiert. Europa steht vor der "schwersten Bedrohung für Frieden, Freiheit und Wohlstand seit Generationen", kommentiert Jörg Lau in der Zeit: "Ein russischer Durchbruch in der Ukraine liegt im Bereich des Möglichen. Und es ist denkbar, dass die USA dabei gelähmt zuschauen oder gar, wie von Trump angekündigt, mit Putin gemeinsame Sache machen werden. Dies sollte - jetzt aber wirklich - die viel beschworene Stunde der Europäer sein. Doch die zwei größten Länder der EU, Deutschland und Frankreich, sind in einer Vertrauenskrise gefangen, die sich kaum noch verbergen lässt."

Inwischen kommt die äußerst beunruhigende Meldung, dass die nicht anerkannte Republik Transnistrien Russland um Schutz gebeten habe, berichtet etwa Barbara Oertel in der taz. "Das oppositionelle russische Nachrichtenportal insider.ru zitiert einen Militärkorrespondenten namens Juri Kotenok, dem zufolge der Präsident Transnistriens Wadim Krasnoselski den politisch Verantwortlichen Moldaus 'eine Politik des Völkermordes' gegen die abtrünnige Region vorgeworfen habe. Die Mehrheit der rund 470.000 Bewohner*innen Transnistriens sind ethnische Russ*innen und Ukrainer*innen, 200.000 sollen mittlerweile auch russische Pässe besitzen."

"Bitte stört diese lukrative historische Versöhnung nicht": So definiert Timothy Snyder im Gespräch mit Jörg Lau und Heinrich Wefing von der Zeit die langjährige deutsche Haltung zur Ukraine mit Blick auf Russland. Dabei habe "die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte ihren Anteil daran, dass Russland in der Ukraine so agiert, wie es agiert. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung Deutschlands. Die beste Möglichkeit, Einfluss auf ein künftiges Russland zu nehmen, bietet sich heute in der Ukraine. Wer ein friedlicheres Russland will, muss helfen, Putin eine Niederlage zu bereiten. Wir können den Russen eine Chance geben, indem wir ihnen helfen zu verlieren." In der NZZ mahnt Timothy Snyder außerdem, nicht Menschen wie Putin oder Trump, die aus Schwäche handelten, nachzugeben.

Die Türkei droht ihre Jugend gen Europa und Amerika zu verlieren, wird aus einer Reportage von Raphael Geiger in der SZ deutlich. Nicht nur wegen der wirtschaftlichen Lage des Landes, wie Geiger von einer Studentin erfährt. "Weil sie an einen säkularen Staat glaube, sagt Bilge. Weil sie sich empört hat, neulich, als sie in den Nachrichten von einem Vorfall hörte: Ein Mann lief mit der Flagge des Kalifats durch Istanbul, also des islamischen Gottesstaats, der in der Türkei seit einem Jahrhundert abgeschafft ist. Ein Passant habe den Mann darauf angesprochen, sagt Bilge. Es kam zu einem Handgemenge. Verhaftet worden sei, sagt Bilge, na, wer wohl? Der andere. Der Säkulare, der sich an der Flagge gestört hatte. Nicht der Fromme." Derweil steigt die Zahl der Femizide in der Türkei drastisch an - jüngst gab es an einem einzigen Tag acht Morde an Frauen durch Ehemänner oder Väter, was die Regierung nicht sonderlich interessiert, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2024 - Europa

Der Menschenrechtler Oleg Orlow, 70-jähriges Mitglied von Memorial, muss für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis, berichtet Inna Hartwich in der taz aus Moskau. Orlow hatte öffentlich den Krieg gegen die Ukraine verurteilt, vorgeworfen wurde ihm "Diskreditierung der Armee": "Mit welchen Sätzen Orlow die Armee diskreditiert haben soll und worin sein Hass liege, wurde während der zweitägigen Verhandlung nicht deutlich. Sein Text wurde nicht durchgegangen, es reichte die Überschrift. Während der Sitzungen las Orlow demonstrativ 'Der Prozess' von Franz Kafka und sagte in seinem Schlusswort: 'Wie soll man das politische System, unter dem das alles geschieht, auch nennen? Leider hatte ich in meinem Text recht. Es gibt keine Freiheit in Wissenschaft, Kunst, Privatleben. Willkür wird als Einhaltung pseudolegaler Verfahren getarnt. Selbst gegen den toten Nawalny führen die Behörden Krieg. Kafkas Held erfuhr nie, was ihm vorgeworfen wurde. Mir hat man den Vorwurf formal mitgeteilt, ihn zu verstehen ist unmöglich.'"

"Die Annahme, wenn wir den Ukrainern den Taurus geben, fallen uns Nuklearwaffen auf den Kopf, ist doch ziemlich weit hergeholt", glaubt im Spon-Gespräch Christian Mölling, stellvertretender Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Bedenken, dass Deutschland Kriegspartei werden könnte, hat er nicht: "Es liegen längst Lösungen für alle diese Bedenken auf dem Tisch. Die Aussagen des Kanzlers deuten meiner Einschätzung nach auf etwas anderes: Es fehlt offensichtlich an grundlegendem Vertrauen in die Ukrainer und zwar so sehr, dass nicht einmal pragmatische Lösungen für ihn denkbar sind. Wenn der Kanzler Angst hat, dass die Ukrainer auf Moskau schießen, könnte er ja sagen: Erst einmal bekommt ihr einen Taurus und dann sehen wir, was ihr damit macht. Es ist unvorstellbar, dass die Ukraine die Hilfe des größten Gebers riskiert."

Bei einer Konferenz in Paris wurde über Hilfsmaßnahmen für die Ukraine debattiert, der französische Präsident preschte nach vorn und erwähnte die Möglichkeit der Entsendung von Bodentruppen aus den EU-Staaten. Ulrich Ladurner findet das auf Zeit Online fahrlässig, ebenso kontraproduktiv sei aber das Zögern des deutschen Kanzlers, wenn es um Waffenlieferungen geht: "Macron-Bashing, das hat jetzt durchaus seine Berechtigung. Denn es gab keine Notwendigkeit, weiter an der Eskalationsspirale zu drehen. Aber das ist nur der eine Teil. Denn diesem säbelzückenden, nach vorn stürmenden prächtigen Franzosen steht der deutsche Buchhalterkanzler gegenüber, der sich beharrlich weigert, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern. Hier der Glanz des Franzosen, dort das Grau des Deutschen. Weder das eine noch das andere hilft der Ukraine. Welch beklagenswerte europäische Kakofonie das doch ist, in einem Augenblick, in dem Europa dem russischen Imperialismus geschlossen und entschlossen entgegentreten müsste."

Ebenfalls in der taz wütet Georg Seeßlen: Unis, Öffentlich-Rechtliche Sender, Zeitungen - überhaupt die demokratische Zivilgesellschaft - sie alle sind zu lahm, um dem rechten Kulturkampf etwas entgegenzusetzen, meint er. Visionen? Fehlanzeige. "Die Debatte um ein Verbot der AfD erscheint derzeit als Spiegelfechterei. Es geht vielmehr um konkrete Schritte, um im politischen und kulturellen Alltag klarzumachen, dass die AfD keine Partei wie die anderen ist. Niemand ist gezwungen, AfD-Mitglieder zu Talkshows oder Filmfestivals einzuladen. Demokratie ist nicht nur ein Regel- und Formelwerk, sondern auch ein lebendiges System mit geistigem Inhalt. Jede demokratische Institution, jede kulturelle Einrichtung soll das Recht haben, antidemokratischen Personen und Organisationen den Zutritt zu verweigern. Gerade darin muss sich die Unabhängigkeit und Integrität dieser Einrichtungen beweisen." Auch die internationale Politik agiere rückgratlos: "Ein Europa, das sich mit immer mehr antidemokratischen und rechten Regierungen arrangieren will, ist der Verteidigung kaum noch wert. Die europäische Idee muss als Demokratieprojekt neu gedacht werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2024 - Europa

In Paris fand ein Gipfel zur Ukraine-Unterstützung statt, wo eine Äußerung Emmanuel Macrons Aufsehen erregte: Es gebe keinen Konsens darüber, westliche Truppen in die Ukraine zu schicken, aber "nichts ist ausgeschlosssen". Macron sagte auch: "Wir wollen keinen Krieg mit dem russischen Volk, wir sind entschlossen, die Kontrolle über die Eskalation zu behalten. Pierre Haski analysiert Macrons Äußerungen in seiner Kolumne in France Inter: "Sie werden bemerkt haben, das es eine Nuance gibt zwischen 'einem Krieg mit dem russischen Volk' und mit seinem Regime, dem von Putin, der nicht namentlich genannt wird. Wir sind weit entfernt vom ersten Jahr des Konflikts, als der französische Präsident Wladimir Putin schonte und 'Russland nicht demütigen' wollte. Die Zeiten haben sich wirklich geändert."

Das Versagen der deutschen Russlandpolitik ist bis heute nicht aufgearbeitet worden, hält Daniel Brössler in der SZ fest. Und Zweifel, ob Scholz die Zeitenwende wirklich ernst nimmt, hat Brössler auch: "Wenn Olaf Scholz trotz aller großen Unterstützung der Ukraine effektive Waffensysteme wie den Marschflugkörper Taurus mit Verweis auf die Reichweite und angeblich vom Grundgesetz diktierte Beschränkungen verweigert, mischt sich im Osten Europas in die Kritik daran der Verdacht, die Deutschen träumten noch von einer Neuauflage der Minsker Abkommen. Dabei kann es seit der Zeitenwende keinen Zweifel mehr geben an den Absichten Putins."

In Belarus ist "gewählt" worden, Gegenkandidaten zu Lukaschenko gab es nicht, die Opposition sitzt im Gefängnis, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. "In der vergangenen Woche ist Ihar Lednik in der Gewalt des Regimes gestorben. Er war damit schon mindestens der fünfte Häftling seit 2022, den die ihrerseits verfolgten Menschenrechtsaktivisten von 'Wjasna' als politischen Gefangenen eingestuft haben, dem dies geschah. Der 64 Jahre alte Lednik war trotz eines bekannten Herzleidens im April 2022 inhaftiert worden. Er hatte in einem Artikel die frühere Neutralität von Belarus als Sicherheitsgarantie bezeichnet und gefordert, den Unionsstaat mit Russland aufzulösen. Dafür wurde er wegen 'Beleidigung Lukaschenkos' zu drei Jahren Haft verurteilt. ... Befürchtet wird, dass diese fünf Todesfälle, von denen vier im vergangenen Dreivierteljahr verzeichnet wurden, nur 'die Spitze eines Eisbergs der Gewalt' sind, so die KAS [Konrad-Adenauer-Stiftung]. Zu den 1412 politischen Gefangenen, die 'Wjasna' derzeit zählt, dürften noch Tausende weitere dazukommen."

Die umstrittene Begnadigung eines Pädophilie-Mittäters könnte Viktor Orban gefährlich werden, meint im Interview mit der taz die Politologin Andrea Pető. Aber sicher ist das nicht, auch wenn letztes Wochenende 100.000 Menschen auf die Straße gingen: "Dass der Amnestie-Fall solche Wellen schlägt, zeigt, wie wichtig die verbliebenen unabhängigen Medien weiterhin sind. Für die bisher größte Demonstration, die Sie ansprechen, hatten jedoch Youtuber und Influencer mobilisiert. Die klassische Zivilgesellschaft hingegen ist leer und fragil, es gibt kaum unabhängige, kritische Organisationen. Und ihre Arbeit wird ihnen zunehmend schwergemacht, etwa von dem neuen Gesetz gegen 'ausländische Agenten' nach russischem Vorbild. Damit können jene überwacht werden, die die Regierung nicht unterstützen. Vor allem aber geht es um Einschüchterung."

Auch nach dem Krieg wird der Hass zwischen Russen und Ukrainern kein Ende finden, dafür wurzelt er zu tief, befürchtet Sergej Gerassimow in der NZZ mit Blick in die Geschichte: "Am 2. November 1708, um 6 Uhr morgens - schon damals griffen die Russen gerne frühmorgens an - starteten feindliche Truppen unter der Führung von Menschikow, einem Günstling von Zar Peter dem Großen, einen Angriff auf die ukrainische Stadt Baturin. Zwei Stunden später war die Stadt eingenommen, aber nicht dank dem Mut der Russen, sondern weil ein Verräter dem Feind einen unterirdischen Gang gezeigt hatte, der zur Festung führte. Darauf schlachteten die Russen alle (bis zu 15 000) Einwohner von Baturin ab. Vor ihrer Hinrichtung wurden die ukrainischen Kosaken auf die raffinierteste Weise gefoltert. Selbst Vlad Dracula wäre nie darauf gekommen: Ihre verstümmelten Körper wurden auf Flöße gelegt, die man den Fluss hinuntertreiben ließ, um alle Anwohner einzuschüchtern. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden in Stücke gehackt, gerädert oder aufgespießt. Das Massaker von Baturin ist das erste ukrainische 'Guernica', es fand früher statt und war zehnmal so blutig wie das spanische. Und es war zwanzigmal so blutig wie Oradour-sur-Glane und vierzigmal so blutig wie Lidice."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2024 - Europa

Eine nukleare Aufrüstung in Europa lehnt Florian Eblenkamp vom Bündnis gegen Atomwaffen, ICAN, im Interview mit der taz kategorisch ab. Auch die jüngsten Äußerungen von Donald Trump und Putins Angriffskrieg in der Ukraine können ihn nicht umstimmen: "Wir sollten nicht jede dumme Aussage von Trump überbewerten. Es ist nicht gesagt, dass er die Wahl gewinnt, und nicht, dass er als Präsident wirklich aus der Nato aussteigen würde. Es ist nicht gesagt, dass Putin das Baltikum überfällt und Europa die Füße stillhalten würde, falls doch. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, wie weit wir dieses atomare Spiel denn mitspielen würden. Rüstet Europa nuklear auf, führt das ja nicht zu einer Entspannung, sondern zu einer Eskalation. Putin würde entsprechend nachlegen, und schon sind wir in einem Überbietungswettbewerb mit Massenvernichtungswaffen."

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Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen legt ein Buch über "Putins Krieg gegen die Frauen" vor. "Sexuelle Gewalt ist das am meisten vernachlässigte Kriegsverbrechen", sagt sie im Gespräch mit Nadine A. Brügger  von der NZZ. Zur Perfidie gehört dabei vor allem die psychische Wirkung der Verbrechen: "Eine Kriegsverletzung kann jemanden zum Helden machen. Aber die Stigmatisierung von Vergewaltigungsopfern will niemand. Das spielt Russland in die Hände: Wenn sich die Opfer für das schämen, was ihnen widerfahren ist, fangen sie an, sich selbst infrage zu stellen. Das ist typisch für Opfer von sexuellem Missbrauch, unabhängig von ihrem Geschlecht. Und es führt dazu, dass der Fokus gar nicht erst auf den Tätern liegt."