9punkt - Die Debattenrundschau

Diese lukrative historische Versöhnung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.02.2024. Während Deutschland und die Angehörigen der Opfer immer noch mit der Ungewissheit leben, wer die "dritte Generation" der RAF überhaupt ist, wohnte die jetzt festgenommene Daniela Klette unbehelligt in Kreuzberg, erging sich in der Natur, pflegte ihr Facebook-Profil und ihre Capoeira-Künste. Warum lässt man die "dritte Generation" nicht sowieso in Ruhe, fragt die taz. Schluss mit der Verklärung der RAF, ruft dagegen der Tagesspiegel, wo auch Michael Buback interviewt wird. Außerdem: Größer als jetzt war die Kriegsgefahr in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nie, konstatiert die Zeit. Und Macron und Scholz zerstreiten sich bei der Gelegenheit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.02.2024 finden Sie hier

Europa

Emmanuel Macron schließt westliche Bodentruppen in der Ukraine nicht aus, Olaf Scholz versichert das Gegenteil - auch noch mal per Video - und behauptet, Europa werde nicht Kriegspartei werden, obwohl das natürlich nie der Angegriffene definiert. Europa steht vor der "schwersten Bedrohung für Frieden, Freiheit und Wohlstand seit Generationen", kommentiert Jörg Lau in der Zeit: "Ein russischer Durchbruch in der Ukraine liegt im Bereich des Möglichen. Und es ist denkbar, dass die USA dabei gelähmt zuschauen oder gar, wie von Trump angekündigt, mit Putin gemeinsame Sache machen werden. Dies sollte - jetzt aber wirklich - die viel beschworene Stunde der Europäer sein. Doch die zwei größten Länder der EU, Deutschland und Frankreich, sind in einer Vertrauenskrise gefangen, die sich kaum noch verbergen lässt."

Inwischen kommt die äußerst beunruhigende Meldung, dass die nicht anerkannte Republik Transnistrien Russland um Schutz gebeten habe, berichtet etwa Barbara Oertel in der taz. "Das oppositionelle russische Nachrichtenportal insider.ru zitiert einen Militärkorrespondenten namens Juri Kotenok, dem zufolge der Präsident Transnistriens Wadim Krasnoselski den politisch Verantwortlichen Moldaus 'eine Politik des Völkermordes' gegen die abtrünnige Region vorgeworfen habe. Die Mehrheit der rund 470.000 Bewohner*innen Transnistriens sind ethnische Russ*innen und Ukrainer*innen, 200.000 sollen mittlerweile auch russische Pässe besitzen."

"Bitte stört diese lukrative historische Versöhnung nicht": So definiert Timothy Snyder im Gespräch mit Jörg Lau und Heinrich Wefing von der Zeit die langjährige deutsche Haltung zur Ukraine mit Blick auf Russland. Dabei habe "die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte ihren Anteil daran, dass Russland in der Ukraine so agiert, wie es agiert. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung Deutschlands. Die beste Möglichkeit, Einfluss auf ein künftiges Russland zu nehmen, bietet sich heute in der Ukraine. Wer ein friedlicheres Russland will, muss helfen, Putin eine Niederlage zu bereiten. Wir können den Russen eine Chance geben, indem wir ihnen helfen zu verlieren." In der NZZ mahnt Timothy Snyder außerdem, nicht Menschen wie Putin oder Trump, die aus Schwäche handelten, nachzugeben.

Die Türkei droht ihre Jugend gen Europa und Amerika zu verlieren, wird aus einer Reportage von Raphael Geiger in der SZ deutlich. Nicht nur wegen der wirtschaftlichen Lage des Landes, wie Geiger von einer Studentin erfährt. "Weil sie an einen säkularen Staat glaube, sagt Bilge. Weil sie sich empört hat, neulich, als sie in den Nachrichten von einem Vorfall hörte: Ein Mann lief mit der Flagge des Kalifats durch Istanbul, also des islamischen Gottesstaats, der in der Türkei seit einem Jahrhundert abgeschafft ist. Ein Passant habe den Mann darauf angesprochen, sagt Bilge. Es kam zu einem Handgemenge. Verhaftet worden sei, sagt Bilge, na, wer wohl? Der andere. Der Säkulare, der sich an der Flagge gestört hatte. Nicht der Fromme." Derweil steigt die Zahl der Femizide in der Türkei drastisch an - jüngst gab es an einem einzigen Tag acht Morde an Frauen durch Ehemänner oder Väter, was die Regierung nicht sonderlich interessiert, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz.

Archiv: Europa

Urheberrecht

Während die Aktienkurse aller mit KI befassten Konzerne in schwindelnde Höhen steigen, wird der Rest der geistigen Welt zu einer freudlos durchorganisierten Verwertungsgesellschaft. Jan Wiele greift in der Leitglosse der FAZ ein Papier (hier als pdf-Dokument) der deutschen, österreichischen und schweizerischen Literaturübersetzer-Verbände auf, das im wesentlich auf das altbekannte "Ich will was ab" hinausläuft: "Dass maschinelles Übersetzen schon Realität ist und bestimmt noch viel stärker werden wird, wissen auch die Unterzeichner. Sie möchten sich aber, statt das offenbar Unvermeidliche noch zu umarmen, wo es geht, dagegen stemmen. Wenn schon KI mit urheberrechtlich geschützten Werken 'trainiert' werde, dann 'nicht gegen unseren Willen' und 'nicht ohne angemessene Bezahlung'. Ob das noch realistisch ist, sei dahingestellt: Der ohnehin seit Langem gebeutelte Berufsstand der Übersetzer zeigt hier eine 'Nothing to lose'-Mentalität. Er fordert ferner Kennzeichnungspflicht für reine KI-Inhalte, Förderung menschlicher Werke und warnt: 'Der ökologische Fußabdruck von KI-Software darf nicht ignoriert werden.'"
Archiv: Urheberrecht

Gesellschaft

Die Hamas hat gegenüber israelischen Frauen grausamste Kriegsverbrechen in Form von Vergewaltigungen und Verstümmelungen verübt. Ein Aufschrei deutscher Feministinnen blieb aus. Psychologe Louis Lewitan erklärt diese Stille in der Zeit auch mit Verdrängungen und Traumata, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg herrühren. Frauen hätten in der Nazizeit ihren Anteil an der Verrohung ihrer Söhne gehabt. "Die emotionale Taubheit half den Deutschen auch nach Kriegsende. Wer in den Ruinen der Trauer verfiel, konnte nicht überleben. Und so verwandelten Antisemiten sich in Scheindemokraten. Die grausamen Sexualverbrechen der Wehrmacht waren vergessen: ihre Bordelle voll Zwangsprostituierter, ihre Massenerschießungen entkleideter Frauen und Mädchen. Dazu passt, dass deutsche Frauen, die von Alliierten vergewaltigt wurden, kaum über ihr Leid sprachen. Das Schweigen traf auf die weiblichen Opfer der Nazis ebenso zu wie auf die weiblichen Opfer der Siegermächte. Diese Frauen unterdrückten ihre Scham und Wut, verbargen ihre Trauer und Einsamkeit, vertuschten ihren Schmerz. Der Schutzmechanismus erstickte jedoch oft auch Gefühle von Liebe und Wärme."

Daniela Klette liebt die Natur. Ein Bild von ihrer noch online stehenden Facebook-Seite als "Claudia Ivone".
Der Polizei ist es gelungen die frühere RAF-Terroristin Daniela Klette festzunehmen, die, wie eine Recherche in der Welt zeigt, die letzten dreißig Jahre quasi öffentlich gelebt hat. In ihrer Wohnung wurde eine Granate gefunden, meldet der Deutschlandfunk. Michael Buback, Sohn des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, erhofft sich von Klette im Tagesspiegel-Interview mit Christopher Ziedler nur wenig Aufklärung zum Tod seines Vaters. "Ein Appell von meiner Seite wird RAF-Täter kaum erreichen und sie höchstwahrscheinlich nicht beeindrucken. Die Hoffnung auf ein 'Auspacken' ist sehr gering geworden, aber vielleicht hinterlegen Täter Informationen bei ihren Rechtsanwälten. Unsere Hoffnung ist auch deshalb gering, da es ein Zusammenwirken von Terroristen mit staatlichen Stellen, etwa dem Verfassungsschutz, gegeben hat, das in aller Regel mit der Gewährung von Schutzzusagen verbunden ist."

Frank Bachner ruft uns im Tagesspiegel zu, dass die "Verklärung der RAF als Kämpfer gegen Kapitalismus und Ausbeutung" sofort beendet werden sollte. Nur weil es die Unterstützer-Szene noch gibt, hätte Daniela Klette trotz der unaufgeklärten Morde der RAF unbehelligt Capoeira trainieren können. "Zu Recht ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft und die linke Szene, als klar wurde, dass ein Netzwerk von Gesinnungsgenossen die rechtsradikalen NSU-Mörder jahrelang geschützt hatte. Aber Terror ist Terror, ob er von rechts oder von links kommt. Wer Terror entlang ideologischer Weltbilder definiert, verhöhnt die Opfer und deren Angehörige."

Viel lockerer sieht es Jürgen Gottschlich in der taz, der bei diesem Thema beste Achtziger-Jahre-Prosa auspackt: "Sobald es um die RAF geht, herrscht immer noch Hysterie und Härte statt Vernunft. Daniela Klette, Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub sind schon lange für niemanden mehr eine Bedrohung, man hätte ihnen schon vor 25 Jahren einen Rückweg in die Legalität anbieten können." Und Helmut Höge, ein Ex-Situationist wie Dieter Kunzelmann (über den Höge 1991 hier schrieb) schließt einen Artikel über seine selbst erlebten Schmonzetten aus der Zeit des Deutschen Herbstes so: "In der linken Szene dürften jedoch viele davon ausgehen, dass die staatlichen Fahnder einem so schönen 'Gegner' wie der alten RAF einfach nicht zugestehen wollen, dass es ihn nicht mehr gibt."
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Ideen

Buch in der Debatte

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Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter hat mit ihrem "Der lange Schatten Maria Montessoris" eine neue Diskussion über die Schulreformerin Maria Montessori angestoßen (unser Resümee). Der Bildungsforscher Heiner Ullrich hält im Gespräch Jeannette Otto an den Verdiensten Montessoris fest, rät aber die Befunde Seichters ernst zu nehmen: Montessori "wollte das 'neue Kind' erschaffen, das die Menschheit voranbringt und vollkommener macht. Sie sprach auch von einem 'Erlöserkind' oder vom 'Normalisieren' des Kindes. Als Empirikerin war sie stark am Vermessen des Kindes interessiert. Sie hat Größe, Gestalt, Gesichts- und Schädelform gemessen. Das statistisch normale Kind galt als Orientierung. Sie hat daran geglaubt, dass jedes Kind einen immanenten Bauplan in sich trägt und eine Höherentwicklung und Steigerung des geistigen Potenzials möglich ist."
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Medien

Der Rechts-Links-Gegensatz löst sich überall auf, auch in Spanien! Dort hat El Pais dem berühmten Philosophen Fernando Savater seine Kolumne gestrichen, weil er der Zeitung eine zu große Nähe zur linken Sánchez-Regierung vorwarf. Und dabei hat er eine interessante Bemerkung gemacht, die Paul Ingendaay in seinem FAZ-Bricht zitiert: "Warum, so fragt der Autor etwa, habe sich die Linke in Spanien so einen guten Namen bewahrt? Antwort: weil die Linke nach ihren Absichten beurteilt werde, die Rechte dagegen nach ihren Taten. 'Wenn jemand verkündet, er wolle Elend und Ungleichheit beenden, allgemeine Bildung erreichen und ein Gesundheitssystem, das alle Bürger unabhängig von ihrem Einkommen auf dieselbe Weise schütze, kann man solch großzügigen Zielen nur Beifall spenden. Was für ein Unterschied zu den Vorschlägen der Rechten, die nur vom Wohlstand durch Erwerbstätigkeit spricht und von sozialem Frieden auf der Basis von Gesetzestreue!' Von diesen Sätzen ist es nur ein kurzer Weg zu Savaters Aussage, die gute Absicht der Linken entschuldige alle Dummheiten."
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