9punkt - Die Debattenrundschau
Exzellent erkannt
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Die Schriftstellerin Nora Bossong weiß gar nicht genau, ob sie nun Giorgio Agambens Einschätzung teilt, dass mit der Angst vor dem Corona-Virus der Ausnahmezustand etabliert werden soll. Aber wichtig findet sie, wachsam zu bleiben und über die Freiheit nachzudenken: "Weder Sabotage noch Alarmismus ist derzeit hilfreich, sondern das faire Hinterfragen der Mittel. Genau das macht ja eine freiheitliche Gesellschaft aus, auch in Ausnahmezeiten. Verschwörungstheorien und reflexartiges, undifferenziertes Staatsmisstrauen waren noch nie sonderlich hilfreich. Auch allen, die jetzt von radikal linker Seite auf den Systemsturz hoffen, muss man entgegnen: Exzellent erkannt, Krisenzeiten können zu eben jener Destabilisierung führen, die für einen Umsturz günstig ist. Allerdings sind da auch schon die extrem Rechten draufgekommen. Und gewiss ist Agambens Warnung in diesem Punkt nicht falsch: Die Gewöhnung an einen Ausnahmezustand mit Einschränkungen der gewohnten Freiheiten bereitet eher auf die Akzeptanz eines autoritären Staates vor als auf Anarchie."
Auf dem Verfassungsblog fragt der Jurist und Rechtsphilosoph Uwe Volkmann, wie es eigentlich möglich ist, innerhalb kürzester Zeit, ohne offizielle Dekration, ohne parlamentarischen Beschluss de facto in den Ausnahmezustand zu geraten: "Keine entfesselte Gewalt tritt uns hier vor Augen, sondern ein Verwaltungsstaat in einem Vorgang des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts, der die Lage mit seinen Mitteln in den Griff zu bekommen versucht und dabei, wie sich zeigt, ziemlich weit gehen kann. Auch in Frankreich, wo der Ausnahmezustand nun mit martialischen Worten vom Präsidenten förmlich erklärt worden ist, wird man im Übrigen bei näherem Hinsehen bemerken, dass rein rechtlich die Unterschiede im Vergleich zum Zustand davor so groß nicht sind, so wie es auch schon bei der letzten Erklärung des Ausnahmezustands durch den vorherigen Präsidenten anlässlich der Terroranschläge im Bataclan zu beobachten war. Die Frage ist allerdings, ob uns das eher beruhigen oder beunruhigen sollte."
Die Ausgangsbeschränkungen, die Bayern und Baden-Württemberg verhängt haben, kann eine Demokratie verkraften, meint Kurt Kister in der SZ, Rechtsstaat und Grundgesetz kennen so etwas wie Recht auf Schutz. Aber, fragt Stefan Kornelius in einem zweiten Leitartikel: Wieviel Druck wird die Demokratie aushalten können? Was passiert, wenn Solidarität und Geschlossenheit bröckeln? "Das größte ethische Dilemma kann allerdings auch die Demokratie nicht lösen: Wie viel Schaden ist ein Gemeinwesen in der Lage zu ertragen, um Menschenleben zu retten? Oder umgekehrt und in aller Härte formuliert: Muss die Gesellschaft sich entscheiden, ob sie lieber Menschen vor dem Tod bewahren will - oder ob sie ihren gemeinschaftlichen Charakter erhalten möchte mit all seinen Arbeitsstrukturen, dem Lebensstil, den Institutionen aus der Zeit vor der Krise?"
Der amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis, der bereits 2005 angesichts der "Vogelgrippe" über die Produktion moderner Seuchen geschrieben hatte, warnt in der taz davor, Afrika aus dem Blick zu verlieren. Armut und Infektionen können fatale Wechselwirkungen entfalten. Gravierend erscheint ihm, dass die westlichen Länder ihre Gesundheitssystem auf Profit getrimmt haben: "Schon bei den Grippeepidemien 2009 und 2018 waren viele Krankenhäuser überlastet. Um Gewinne zu maximieren, waren Krankenhausbetten sukzessive abgebaut worden. Nach Angaben der American Hospital Association ging die Zahl der stationären Krankenhausbetten von 1981 bis 1999 um 39 Prozent zurück. Das Ziel war es, eine Auslastung von 90 Prozent der Betten zu erreichen. Deshalb sind Krankenhäuser für Epidemien und Notfälle nicht mehr gerüstet."
Bei Time meldet Abigail Abrams, dass eine nichtversicherte Patientin in den USA gerade die Rechnung für einen Corona-Behandlung erhalten hat: 34.927,43 Dollar.
Europa
Im Spiegel weist Jan Puhl darauf hin, dass die Staaten Osteuropas kaum eine andere Chance haben als sich abszuschotten, ihre Gesundheitssysteme sind noch weniger belastbar: "Ärzte und Pfleger sind aus Ländern wie etwa Bulgarien oder Rumänien zu Tausenden abgewandert."
In der Financial Times geht Tobias Buck der Frage nach, warum in Deutschland allem Anschein nach die Sterblichkeit deutlich geringer ist als in anderen europäsichen Ländern. Buck erklärt sich das mit der offenbar doch recht hohen Zahl an Tests: "According to Lothar Wieler, the president of the Robert Koch Institute, German laboratories are now conducting about 160.000 coronavirus tests every week - more than some European countries have carried out in total since the crisis started. Even South Korea, which is conducting 15.000 tests a day and has been held up by virologists as an example to follow, appears to be testing less than Germany."
In der Welt notiert Thomas Schmid Beobachtungen aus einem Europa, dem die Normalität abhanden gekommen ist. Der Nörgelbürger hält still. Dafür wächst ein Konflikt zwischen Jung und Alt herauf. Und: "Das Virus vertieft eine Spaltung, von der seit geraumer Zeit viel die Rede ist. Die Büromenschen, die es mit viel Virtuellem zu tun haben, arbeiten von zu Hause. Da Tomaten aber nicht im Netz wachsen und Päckchen wirklich transportiert werden müssen, geht es denen, die damit ihr Geld verdienen, schlechter. Der Amazon-Bote muss sich der Gefahr aussetzen, der Busfahrer ebenso wie die Kassiererin im Supermarkt. Das Virus akzentuiert: Es gibt die Glücklichen und die weniger Glücklichen. Und Unglückliche. Das ist eine soziale Frage, die auf der Tagesordnung bleiben sollte."
Kulturmarkt
Gesellschaft
Medien
Willi Winkler beerdigt in der SZ den Playboy, der in der Corona-Krise vollends obsolet geworden ist und in den USA seine gedruckte Ausgabe einstellt.