Magazinrundschau

Fromme Illusionen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
20.02.2018. Der Guardian beobachtet Widderkämpfe in Algerien. Juergen Tellers sozialistisch-realistisches Titelfoto für die neue polnische Vogue kommt nicht gut an, erzählt das tschechische Magazin Respekt. In Magyar Narancs stöhnt László F. Földényi über die Auswirkungen der Postmoderne: Festivalfilme und Buchmessenliteratur. In der New York Review of Books kann Enrique Krauze dem Chavismo von Venezuelas Nicolas Maduro aber gar nichts abgewinnen. Und Karl Ove Knausgaard erliegt in der New York Times dem Lächeln einer 102-jährigen Russin.

Respekt (Tschechien), 17.02.2018

Ab sofort gibt es eine polnische Ausgabe der Vogue. Das müsste keine besondere Meldung wert sein, doch in diesen Zeiten kann selbst die Vogue zum Politikum werden, wie Pavel Turek berichtet: "Statt allgemeiner Begeisterung rief das Titelfoto von Juergen Teller eine kontroverse Debatte über polnische Nationalwerte, Symbole und polnisches Selbstverständnis hervor. (…) Eigentlich ist nicht viel an diesem Foto: Die beiden erfolgreichsten polnischen Supermodels der letzten zwanzig Jahre Anja Rubik und Malgosia Bela stehen dort in strenger schwarzer Kleidung vor dem ikonischen Kultur- und Wissenschaftspalast - der historisch belasteten Dominante Warschaus, die im Geiste des sozialistischen Realismus errichtet wurde. Neben ihnen parkt ein schwarzer Wolga, und die gedrückte Stimmung der ganzen Aufnahme wird noch von feuchtkaltem Nebelwetter und einem grauen Himmel verstärkt." Die polnische Journalistin Agata Pyzik beschreibt die Reaktion darauf als "eine Kombination aus gekränktem ästhetischem Empfinden und verletztem Nationalstolz: Wie kann es sein, dass uns Vogue, Symbol des Luxus, kein glänzendes Abbild der letzten Erfolgsjahre unseres Landes bietet, sondern eine Apotheose der vergangenen Sowjetära, die wir doch zu vergessen suchen?" Die schwächelnde Mittelklasse wolle die eigenen Verluste durch eine schöne Zeitschrift kompensieren, die habe sie aber nicht bekommen. Der Sozialanthropologe Michał Murawski erinnert daran, dass der Kulturpalast als Totem fungiere, auf den alle polnischen Ängste und Phobien projiziert würden, und das Model Anja Rubik engagiere sich seit langem gegen homophobe und chauvinistische Politik: "Es handelt sich um einen Versuch der Vogue-Herausgeber, der paranoiden Haltung des gegenwärtigen Regimes hinsichtlich Geschichte, Sex und nationaler Identität eine Absage zu erteilen."
Archiv: Respekt

Guardian (UK), 19.02.2018

In Algerien ist eine verlorene Generation herangewachsen, Männer zwischen zwanzig und dreißig, ohne Arbeit, Bildung, Familie, ohne eine Rolle in der Gesellschaft. Ihr neuester Sport ist der Widderkampf, wie Hannah Rae Armstrong berichtet, die Regierung toleriert dieses eigentlich verbotene Spektakel, in der Hoffnung, dass die jungen Männer dabei vielleicht Aggressionen ablassen: "Professionelle Trainer bauen ihre Widder auf, indem sie deren Hörner an eine Wand ketten. Wenn sie sich drehen und wenden, um sich zu befreien, stärkt der Widerstand ihre sehnigen Nacken. Anders als beim Hahnenkampf wird beim Widderkampf kein Geld gesetzt, der Handel auf dem Markt verheißt jedoch ein lukratives Geschäft. Jeder Kampf erhöht den Wert des Siegers und verurteilt den Verlierer zum Schlachthaus. Ein Champion kann bis zu 10.000 Dollar einbringen - auch wenn die meisten Trainer lieber den Ruhm als das Geld einstreichen. Die Schafe bekommen Namen, die Furcht einjagen sollen, wie Rambo, Jaws oder Lawyer. In der dritten Runde eines Matches bescherte Hitler kürzlich Saddam eine brutale Niederlage."

Mark O'Connell verfolgt, wie sich unter Amerikas Plutokraten ein neues apokalyptisches Denken breit gemacht hat. Der notorische Milliardär Peter Thiel etwa hat sich bereits vor einigen Jahren die neuseeländische Staatsbürgerschaft organisiert: "Am Ende werden diejenigen gerettet, die sich die beste Erlösung leisten können. Und Neuseeland, am weitesten weg von allem, ist in dieser Erzählung eine Art Ararat, der Schutz vor der kommenden Flut."
Archiv: Guardian

Magyar Narancs (Ungarn), 25.01.2018

Der Essayist László F. Földényi spricht im Interview über Auswirkungen der Postmoderne und die heutige ungarische Wirklichkeit: "Mit der Postmoderne trat eine unglaubliche Nivellierung ein. An Universitäten schreiben Literaturstudenten über die idiotischsten Romane Hausarbeiten, weil ihnen weisgemacht wurde, dass alles gleich wichtig sei. Diese Nivellierung ist eine der Erscheinung der Globalisierung. Auch in der Kultur wurde alles stromlinienförmig: die Bücher, die Gemälde, die Filme. (...) Irgendein zivilisatorisch-ökonomischer Zwang ließ das Genre des Festivalfilms und die Literatur der Buchmessen entstehen. Auf der Frankfurter Buchmesse machen die armen Schriftsteller den Eindruck, als würden sie mit einer unsichtbaren Peitsche getrieben. Bei den Lesungen gibt es nach den zur Verfügung stehenden dreißig Minuten keine Gnade, sie müssen die Bühne verlassen, weil der Nächste kommt. Wie auf dem Sklavenmarkt." Über das Leben im heutigen Ungarn sagt er: "Mein Problem ist, dass ich nicht aufhören kann zu beobachten, was ich unter normalen Umständen nicht beobachten müsste. In dieser Hinsicht lebe ich ein Doppelleben: ich bin Teil von etwas, mit innerem Ekel, Abneigung oder Wut, doch zugleich betrachte ich das Ganze auch von Außen und habe eine Meinung darüber. Doch all das kann die in mir existierenden elementaren Empfindungen, die beinahe körperlichen Symptome, nicht aufheben (...) Das bringt die gegenwärtige ungarische Situation bei jedem hervor, du kannst dich nicht entziehen, obwohl du dich permanent entziehen möchtest. (...)Nicht nur verfolgt uns das System, auch wir selbst sind mit unseren Reaktionen und Erregungen Teil des Systems. Auch ich bin schwer deformiert. Das ist die Situation, ich hasse denjenigen, der mir gegenüber steht, und gleichzeitig fange ich unbemerkt an ihm zu ähneln. Ich fühle mich mental unhygienisch."
Archiv: Magyar Narancs

New York Review of Books (USA), 08.03.2018

In der aktuellen Ausgabe der Review beschreibt Enrique Krauze Venezuelas (Lebensmittel-)Krise und beschuldigt Präsident Maduro, der aus Angst vor den Imperialisten handele und die Zucht von Kaninchen anrege: "Ein Drittel der Bevölkerung hängt von importierten Essenspaketen mit Pasta, Reis, Milchpulver und Tunfisch ab. Maduro hat die Verteilung vom Verhalten der Menschen an den Wahlurnen abhängig gemacht. Wer nicht die richtigen Kandidaten wählt, verliert seine Essensmarken. Anstatt die Bolivianische Revolution von Chavez und ihre dickköpfige Statik zu beenden, verlegt sich Maduro darauf, externe Schulden zu bezahlen, den Import von Waren und Dienstleistungen zu beschränken und die Inflation anzutreiben, indem er Geld druckt. Die Menschen müssen wählen zwischen Essen und Medizin. Maduro und seine Anhänger halten die Krise für das Resultat eines Wirtschaftskrieges des US-Imperiums gegen Venezuela. Aber die USA waren stets der Hauptabnehmer des Öls. Verantwortlich sind die Regime Chavez und Madura, die 15 Jahre lang die Einkünfte aus dem profitablen Ölgeschäft vergeudet haben. Maduro ist nicht der glücklose Erbe des Chavismo, sondern sein natürliches Fazit, der Kater nach dem Fest … Eine mögliche Exit-Strategie müsste die sofortige Genehmigung von Lebensmittel- und Medizinimporten beinhalten, den Schuldenabbau und die Stundung der übrigen Verpflichtungen sowie die Öffnung gegenüber Importen. Diese Schritte müssten von radikalen politischen Veränderungen begleitet werden. Maduro müsste freie und faire Wahlen garantieren, politische Inhaftierte freilassen und die Nationalversammlung als einzige legitime Parlamentskörperschaft anerkennen."

A2 (Tschechien), 19.02.2018

Das Magazin A2 widmet seine aktuelle Ausgabe dem islamischen Feminismus, unterhält sich u.a. mit der dänischen Imamin Sherin Khankan, der marokkanischen Gender-Professorin Fátima Sadikí sowie der Bau- und Matriarchatsforscherin Menatalla Ahmed Agha. Im Editorial heißt es zur Ausgabe: "Gerade der Feminismus ist ein mächtiges Instrument im Kampf gegen den politischen Missbrauch des Islams, da er die Taktiken, die zur Unfreiheit führen, benennen kann. Aber darum geht es in dieser Nummer nicht, sondern um einen Islam ohne mächtige Männer im Hintergrund - um einen Islam ohne Patriarchat. Der islamische Feminismus geht dabei nicht nur von westlichen Gendertheorien aus, sondern vor allem von der islamischen Tradition. Er gründet auf der Erforschung der Geschichte und einer neuen Lektüre der Texte, die lange nur von Männern interpretiert wurden. (…) Er kann das westliche feministische Denken um eine geistige und spirituelle Ebene bereichern."
Archiv: A2

The Nation (USA), 15.02.2018

Mit seinem Marketplace, auf dem Privat- und kommerzielle Händler Waren anbieten können, inszeniert sich Amazon gerne als wohltätiger Retter des Einzelhandels, der lediglich eine Infrastruktur für die vom Internet gebeutelten Händler anbietet. In Wahrheit dient der Marketplace jedoch der klammheimlichen Trockenlegung der Konkurrenz, schreibt Stacy Mitchell: Schon jetzt recherchiere ein Großteil der Kundschaft nicht mehr im freien Netz nach Angeboten, sondern steuere ohne Zwischenschritt direkt die Website von Amazon an. Von zwei Dollars, die im Netz ausgegeben werden, lande einer mittlerweile im Geldbeutel von Amazon. "Studien legen nahe, dass die Beziehungen zwischen Amazon und kleinen Händlern, die dort ihre Waren anbieten, oft raubtierartig sind. Forscher der Harvard Business School haben herausgefunden, dass Amazon die Transaktionen neu eingestellter Produkte von Drittanbietern genau analysiert und deren populärste Produkte gegebenfalls auf eigene Faust verkauft. Und wenn Amazon die von den Verkäufern gewonnen Informationen nicht dirket gegen diese nutzt, dann behält es zumindest einen immer größer werdenden Anteil des Umsatzes ein. ... 2016 brachte Amazon Birkenstock in eine Zwickmühle: Man drohte, eine Flut gefälschter Birkenstock-Produkte, viele davon von Händlern aus Übersee, in der Angebotspalette zuzulassen, wenn die Firma sich nicht dazu bereit erklären sollte, jene Nischenprodukte, die sie allein für spezialisierte Händler vorgesehen hat, auch auf Amazon anzubieten. Birkenstock widerstand diesem Druck, doch andere Firmen, darunter Nike, haben sich ähnlichen Anforderungen offenbar gefügt."
Archiv: The Nation

Outlook India (Indien), 26.02.2018

Indien wird von einer neuen Ehrenmord-Welle und Abtreibungen weiblicher Föten erschüttert: Insbesondere der Mord an Ankit Saxena, einem jungen Hindu, durch die muslimischen Eltern der jungen Frau, mit der er ein Verhältnis hatte, findet enormen Widerhall. Dass insbesondere in den ländlichen Regionen Frauen als Eigentum der Familie gelten und damit eine Kultur der Gewalt begünstigt wird, ist zwar nichts Neues, schreibt Pragya Singh. "Doch die neue Gewalt hat einen etwas anderen Ursprung. Sie resultiert aus den Rissen, aus dem Wandel und der Instabilität der traditionellen Gesellschaft, die sich mit der Moderne schwer tut ... Auf dem Land zeigt sich dies am eindrücklichsten. Man höre nur, was Naresh Tikait, Anführer einer dörflichen Gemeinschaft, auf ein Urteil entgegnete, das ihn und seinesgleichen zügelte, wenn es um ihren Einfluss auf Liebesbeziehungen geht: 'Wir werden keine Frauen auf die Welt bringen und dies auch niemandem gestatten.' Eine Drohung, die das Versprechen eines schweigsamen Gynozids absolut setzt."

Weitere Texte zum Thema in der aktuellen Ausgabe des Magazins.
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 26.02.2018

Thomas Meaneys Sloterdijk-Porträt in der aktuellen Ausgabe des New Yorker liest sich angenehm boshaft - nicht nur seinem Protagonisten, sondern auch dessen Opfern gegenüber  - aber nicht unbewundernd: "Sloterdijks Behagen beim Bruch mit Konventionen macht ihn in Deutschland, wo Stabilität, Wohlstand und ein robuster Wohlfahrtsstaat als zentrale Errungenschaften der Nachkriegszeit gelten, zu einer Reizfigur. Viele Deutsche definieren sich durch ihre moralische Aufrichtigkeit, die sich in ihrer Bewältigung der Nazivergangenheit und in jüngster Zeit durch die Entscheidung der Regierung, mehr Flüchtlinge aufzunehmen als jedes andere westliche Land, ausweist. Sloterdijk ist entschlossen, seine Landsleute in ihren frommen Illusionen aufzustören. Er nennt Deutschland eine 'Lethargokratie' und den Wohfahrtsstaat eine 'fiskale Kleptokratie'."

Außerdem: Jenna Krajeski berichtet, wie ein paar amerikanische Immigranten versuchen, die jesidische Minderheit im Irak zu retten. Jeffrey Toobin erklärt, wie Donald Trump den von ihm geführten Miss-Universe-Contest jahrelang für seine Interessen - und für seine Beziehungen zu Russland - nutzte. Ian Parker porträtiert den Architekten Thomas Heatherwick, der eine Art Eiffelturm für New York bauen will. Anthony Lane sah Ryan Cooglers "Black Panther"-Superheldenfilm und Nick Parks "Early Man". Und Alex Ross feiert die Neubelebung französischer Barockmusik durch den Dirigenten Christophe Rousset.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 07.02.2018

Auch Ungarn gedenkt in diesem Jahr des Ersten Weltkriegs, der vor hundert Jahren endete. Mit der Organisation und Durchführung von Gedenkveranstaltungen wurde wie zuvor beim Holocaustgedenkjahr und im Gedenkjahr zur Revolution von 1956 die Historikerin Mária Schmidt und das von ihr geleitete "Haus des Terrors" beauftragt. Der Historiker und Publizist Péter Konok findet das fast folgerichtig, bringt man die nötige Portion schwarzen Humors dafür auf: "Selbstverständlich sind wir hier nicht im Reich der Vergangenheit unterwegs und auch nicht in der Rekonstruktion einer Vergangenheit, sondern im Rahmensystem einer heutigen propagandistischen und manipulativen Quasiwirklichkeit. ... Und so dient das Erinnerungsjahr an den Ersten Weltkrieg vor allem der Umstimmung der historischen Verantwortung. Der Leitfaden ist einfach aufzuspulen: fremder Angriff, nationale Einheit, glorreiches Kämpfen, Neuanfang, erfolgreiches Ungarn. Die demokratische Revolution von 1918, das zerstörerische Tun des hasenschartigen Károlyi, die Aufteilung des Landes und dann der Aufstieg und die Herrschaft von Miklós Horthy - wir kennen das Chanson. Ich könnte schreiben, dass uns nicht viel Überraschendes ereilen kann, doch ich könnte mich leicht irren: Wir könnten es noch erleben, dass György Soros den Friedensvertrag von Trianon unterschrieb."
Archiv: HVG

New York Times (USA), 18.02.2018

Für das neue Heft des Magazins liefert Karl Ove Knausgard einen literarischen Reisebericht aus dem Herzen Russlands. Was erzählen einander die Russen so? Knausgard folgt seinen inneren Bildern der Landschaft und trifft eine Frau von 102 Jahren, die das Zarenreich miterlebt hat: "Etwas, das ich mit Russland assoziiere und das ich immer habe sehen wollen, ist das archetypische russische Dorf aus den Romanen des 19. Jahrhunderts. Eine Ansammlung von Holzhütten, Zäunen und Gemüsegärten, Hühner, die herumlaufen, ein paar schattenspendende Bäume, ein langsam fließender Fluss, umgeben von endlosen Feldern. Oft auf meiner Reise habe ich solche Orte in der Ferne gesehen, zuerst auf dem Weg zu Turgenjews Haus, dann entlang der Bahnstrecke nach Kazan. Dann, als die typische Ansammlung von Häusern plötzlich wieder auftauchte, hielt ich an und stieg aus … Normalerweise schaue ich keinem länger als einige Sekunden in die Augen. Ich möchte niemanden bedrängen und vielleicht möchte ich auch nicht, dass man mich bedrängt. Aber kurz bevor wir die alte Frau verließen und ich sie ansah und sie mich, dachte ich, dass ich ihr in die Augen schauen sollte. Diese Augen, die die Welt zur Zeit der Zaren gesehen hatten und die Welt danach für hundert Jahre. Wir sahen einander lange an. Zuerst schien sie überrascht, als überlegte sie, was ich wohl wollte, doch dann, ganz langsam, begann sie zu lächeln. Mir kamen die Tränen, so wunderbar war dieses Lächeln."
Archiv: New York Times