Magazinrundschau

Buckelwalisch, Kolibrinisch, Fledermausisch

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.09.2023. Wired und der New Yorker hoffen, bald mit Walen klicken zu können. Der Merkur lernt am Beispiel der Bahai, wie man im Iran den sozialen Tod stirbt. New Eastern Europe sucht die Unabhängigkeitsbewegungen in Astrachan. Projekt erzählt, warum in Russland manche Ehen lieber geheim gehalten werden. Die LRB lehnt Kapitalismus auch dann ab, wenn er woke ist. New Lines sieht die FPÖ in Österreich schon den Kanzler stellen. Im New Statesman erklärt Robert D. Kaplan, warum die Sahelzone unsere Zukunft vorwegnimmt.

Wired (USA), 05.09.2023

In den meisten aktuellen Diskussionen nimmt KI den Status des absolut Bösen ein. Dass KI aber auch ein Werkzeug sein kann, um die Welt zu verbessern, gerät dabei rasch aus dem Sinn. Camille Bromley wirft einen Blick auf Experimente, die es gestatten sollen, die Sprache von Walen besser zu verstehen. Die Walforscherin Michelle Fournet arbeitet genau daran. "Sie hat ihren Katalog an Buckelwal-Rufen dem Earth Species Project zur Verfügung gestellt, einer Gruppe von Technologen und Ingenieuren, die daran arbeiten, mithilfe von KI ein künstliches 'Whup' [die typische Begrüßungsfloskel von Buckelwalen] zu erstellen. Und sie beabsichtigen nicht nur, die Stimme eines Buckelwals zu emulieren. Die Mission der Non-Profit-Organisation besteht darin, menschliche Ohren für das Geplauder des gesamten Tierreichs zu öffnen. In 30 Jahren, behaupten sie, kommen Naturdokus auch ohne einlullende Voiceovers im Stil von Richard Attenborough aus. Die Gespräche der Tiere werden einfach Untertitel haben. Und so wie die Ingenieure heute kein Mandarin oder Türkisch mehr können müssen, um einen Chatbot für diese Sprachen zu erstellen, werde es künftig auch möglich sein, einen Bot zu programmieren, der Buckelwalisch spricht - oder Kolibrinisch, Fledermausisch und Bienesisch. Die Idee, die Kommunikation der Tiere zu dechiffrieren ist kühn, vielleicht auch unglaublich, aber eine Zeit der Krise bedarf kühner und unglaublicher Maßnahmen. Überall wo Menschen sind, also wirklich überall, verschwinden die Tiere. Die Wildtierpopulation ist im Schnitt in den letzten 50 Jahren um 70 Prozent gesunken. ... Aza Raskin, ein Mitbegründer von Earth Species Project, ist der Überzeugung, dass die Möglichkeit, Tiere zu belauschen, einen Paradigmenwechsel nach sich ziehen wird, der nichts geringerem als der Kopernikanischen Wende gleichkommt. 'KI ist die Erfindung der modernen Optik', sagt er mit spürbarem Vergnügen. Was er damit meint: So wie die Astronomie des 17. Jahrhunderts mit verbesserten Teleskopen neuentdeckte Sterne wahrnehmen konnte und die Erde ein für allemal aus dem Zentrum des Universums rückte, wird auch KI die Wissenschaft dabei unterstützen, mehr zu hören als die Ohren es ihnen gestatten: dass Tiere sinnhaft sprechen und dies auf mehr Arten als wir es uns vorstellen können. Dass ihre Fähigkeiten und ihre Leben nicht unter unseren stehen. 'Dieses Mal werden wir hinaus ins Universum blicken und feststellen, dass die Menschheit nicht in seinem Zentrum steht', sagt Raskin."

Hier hören wir das Whup eines Buckelwals. Ob es sich um ein formelles "Guten Tag" oder um ein joviales "Servus" handelt, muss die Wissenschaft noch klären.

mbellalady · Downsweep Whups 76.95.12
Archiv: Wired

New Yorker (USA), 11.09.2023

Von den gleichen Motiven wie Michelle Fournet sind auch die Forscher getrieben, die das CETI-Forschungsprojekt betreiben, um mit Hilfe von KI die Klicklaute der Pottwale zu erlernen. Wenn man Elizabeth Colberts Reportage liest, möchte man sofort Meeresbiologe werden - oder wenigstens welche kennenlernen, zum Beispiel den Kanadier Shane Gero, der seit 2005 die Pottwale vor der Antilleninsel Dominica studiert und inzwischen jeden von ihnen mit Namen kennt. Colbert erlebt sogar die Geburt eines von hungrigen Grindwalen umkreisten Pottwalbabys. Steven Spielberg könnte das nicht haarsträubender erzählen. Doch zurück zu dem Projekt, das die Westküste Dominicas "in ein riesiges Aufnahmestudio für Wale verwandeln" will. Wenn wir die Grammatik der Laute verstehen, verstehen wir dann wirklich, was die Wale sagen? Nein, erklärt Shafi Goldwasser, die das Simons Institute for the Theory of Computing an der University of California in Berkeley leitet. "'Heutzutage spricht jeder über diese generativen KI-Modelle wie ChatGPT', fährt sie fort. 'Was tun sie? Man gibt ihnen Fragen oder Aufforderungen, und sie geben dann Antworten, indem sie vorhersagen, wie Sätze zu vervollständigen sind oder welches das nächste Wort sein wird. Man könnte also sagen, dass das ein Ziel von CETI ist - dass man nicht unbedingt versteht, was die Wale sagen, aber dass man es mit gutem Erfolg vorhersagen kann. Man könnte also ein Gespräch erzeugen, das ein Wal verstehen würde, aber vielleicht versteht man selbst es nicht. Das ist also eine Art seltsamer Erfolg.' Vorhersage, so Goldwasser, würde bedeuten, 'dass wir erkannt haben, wie das Muster ihrer Sprache aussieht. Es ist nicht zufriedenstellend, aber es ist etwas.'"

Sehr viel beängstigender liest sich Dana Goodyears Wissenschaftsreportage über die Möglichkeiten der Genmanipulation durch CRISPR. Als der chinesische Wissenschaftler He Jiankui 2018 als erster die internationale Vereinbarung durchbrach, CRISPR nicht bei Embryonen einzusetzen, war das Entsetzen groß. "CRISPR versprach, die Medizin zu verändern, indem es einen Weg zur Heilung einer genetischen Krankheit durch Editieren der DNA des betroffenen Gewebes bietet. Diese Form des Editierens wird als 'somatisch' bezeichnet; die Veränderungen, die dabei vorgenommen werden, sind auf den einzelnen Patienten beschränkt. Beim Editing eines Embryos hingegen wird die DNA der zukünftigen Eizellen oder Spermien des Embryos - seine Keimbahn" - verändert, was zu Veränderungen führt, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden", die dem Probanden schaden und künftige Generationen beeinträchtigen könnten. Deshalb setzte sich unter den Wissenschaftlern ein breiter Konsens durch, vorerst keine vererbbaren Veränderungen am menschlichen Genom vorzunehmen. Doch dieses Einverständnis scheint angesichts der Fortschritte bei CRISPR langsam aufzuweichen, stellt Goodyear fest. Es gibt wirklich grauenvolle Erbkrankheiten, die man einfach nur ausgerottet wünscht, wie man am Ende der Reportage lesen kann, in dem Goodyear von einer Familie erzählt, deren Tochter am Batten-Syndrom leidet. Aber es bleiben eben auch die Risiken: "Eine große Sorge ist, dass sich die CRISPR-Schere nicht vorhersehbar verhält: Wie die Besen in 'Der Zauberlehrling' schneidet sie manchmal das Zielgen und schneidet dann immer weiter, was zu 'Off-Target'-Mutationen führt. Selbst die 'zielgerichteten' Schnitte können negative Folgen haben; das Ausschalten eines Gens kann ein Gesundheitsproblem lösen, aber ein anderes verursachen. (...) In einem Positionspapier aus dem Jahr 2015 mit dem unverblümten Titel 'Don't Edit the Human Germline' argumentierte eine Gruppe von Wissenschaftlern, dass die Kontroverse über das Editing menschlicher Embryonen die Aussichten auf somatisches Editing gefährden würde, das das Leben von Millionen von Menschen retten könnte, die bereits leben und leiden. ... Die Autoren fügten hinzu, dass es ein Leichtes sei, vererbbares Editing für 'nicht-therapeutische Veränderungen' zu nutzen. Fyodor Urnov, einer der Autoren, sagte: 'Ich nenne Ihnen jetzt drei Anwendungsszenarien, vor denen wir große Angst haben sollten. Befürchtung Nummer eins: die Bewaffnung des Militärs. Wir wissen, wie man einen Menschen herstellt, der mit vier Stunden Schlaf auskommt - ich kann Ihnen sagen, welche Mutation wir vornehmen müssen. Zweitens: Wir wissen, welches Gen wir verändern müssen, um das Schmerzempfinden zu verringern. Wenn ich ein Schurkenstaat wäre, der eine nächste Generation von quasi schmerzfreien Soldaten der Spezialeinheiten herstellen will, weiß ich genau, was zu tun ist. Es ist alles veröffentlicht. Und drittens: Körperliche Stärke. Man braucht keine große Laboroperation. Man braucht nur den bösen Willen.'"

Weitere Artikel: Jackson Arn stellt anlässlich seiner ersten Retrospektive in Bostons Museum of Fine Arts den Maler Matthew Wong vor. Alex Ross erlebt eine neue Lisztomanie. Und James Wood empfiehlt Clare Carlisles "eloquente und originelle" Eliot-Biografie "The Marriage Question: George Eliot's Double Life".
Archiv: New Yorker
Stichwörter: ChatGPT

Meduza (Lettland), 31.08.2023

Für die russische Onlinezeitung Meduza Ekaterina Pravilova erzählt, wie in Russland der Rubel immer schon der Willkür der Herrschenden, ob Zar oder Sowjetherrscher, ausgesetzt war. Diese Verflechtung von Staat und Geld wirkte sich über Jahrhunderte zum Nachteil der Gesamtbevölkerung aus, führt Pravilova in ihrem Artikel aus. Das hat sich bis heute nicht geändert: "Die sowjetische und die imperiale Vergangenheit sind im heutigen russischen Geldsystem noch immer präsent. Die Bank von Russland - Erbe der Staatsbanken der UdSSR und des Russischen Reiches - hat natürlich viel mehr Autonomie als ihre Vorgänger. Doch trotz ihrer nominellen Unabhängigkeit muss sie sich mit der sogenannten 'Machtvertikale' auseinandersetzen, deren Subjekte vollständig in ein System der totalen Kontrolle eingebunden sind. Zwar sind auch die Zentralbanken anderer Länder bis zu einem gewissen Grad von den Regierungen abhängig, doch aufgrund ihrer jahrzehntelangen (manchmal jahrhundertelangen) Erfahrung in Verhandlungen mit dem Staat können sie diesem Druck viel besser widerstehen. In Russland hingegen ist es der Staat, der über jahrhundertelange Erfahrung in der Kontrolle des Geldes verfügt, so dass der russische Rubel nur Fleisch vom Fleisch des Regimes ist."
Archiv: Meduza
Stichwörter: Russland, Rubel

Merkur (Deutschland), 04.09.2023

"Iran. War da was?", fragt die Literaturprofessorin Nacim Ghanbari ironisch. Während sich die Medien kaum noch für die iranischen Frauenproteste interessieren, schaffen einzelne Journalistinnen und Aktivistinnen weltweit neue Plattformen und Netzwerke, um die Revolution zu unterstützen. Teil dieser Initiativen ist die Ringvorlesung "Frau, Leben, Freiheit - emanzipatorische Potenziale" an der Universität Köln, so Ghanbari. Mit seinem Vortrag über die Unterdrückung der religiösen Minderheit der Bahai machte ihr insbesondere Armin Eshragi das Ausmaß der Repressionen gegen politische Gegner im Iran noch einmal eindrucksvoll klar: "Die Bahai wurden auch schon unter der Pahlavi-Dynastie diskriminiert - so durften sie etwa keine öffentlichen Ämter bekleiden -, und doch ist es erst eine Fatwa Ali Khameneis, die diese als 'rituell unrein' (nadjes) bestimmt. Damit gehen Formen des Ausschlusses einher, die selbst Iranerinnen und Iranern, wie dem ungläubigen Raunen im Publikum zu entnehmen war, vielfach nicht bekannt sind. Von der Geburt bis über den Tod hinaus sind Bahai in Iran Rechtlosigkeit und Diffamierung ausgesetzt: Es gibt keine rechtliche Grundlage für Eheschließungen von Bahai. Personalausweise und Reisepässe werden nur unter erschwerten Bedingungen ausgestellt. Bahai dürfen nicht studieren. Es gibt zahlreiche Arbeits- und Berufsverbote. Das Regime reagiert selbst auf die Bestattung ihrer Toten mit Gewalt. In den Augen der Islamischen Republik stören die Bahai als 'religiöse Andere' die Einheit aller Muslime, die Umma. … Es steht zu befürchten, dass die Islamische Republik die im Umgang mit den Bahai erprobten Repressionsmaßnahmen auf die iranische Bevölkerung insgesamt ausweitet. So zeigt sich, dass das Regime als Reaktion auf die Weigerung der Iranerinnen, in der Öffentlichkeit den Hijab zu tragen, in der Tat auf Maßnahmen sozialer Isolierung setzt, wenn etwa Bankkonten protestierender Frauen gesperrt und ihre Reisepässe eingezogen oder Studentinnen exmatrikuliert werden. Die nackte Gewalt auf der Straße, die Jina Mahsa Amini zu spüren bekam, soll durch Maßnahmen ergänzt, teilweise ersetzt werden, die Schritt für Schritt in den sozialen Tod führen."
Archiv: Merkur

HVG (Ungarn), 31.08.2023

Der Theaterregisseur Péter István Nagy spricht im Interview mit Dóra Puszta über die Erfahrungen nach der erzwungenen Umgestaltung der Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE) in Budapest. "Ich glaube, dass jeder eine persönliche Geschichte darüber hat, wie die Universität früher war. Für mich ist es jetzt so, als ob jemand dieses Bild ausgebleicht hätte. Das ist nicht die Institution, an der ich früher war. Zum Beispiel ist jene brausende Osmose, die es früher zwischen den Abteilungen Film und Theater gab, völlig verschwunden. Selbst wenn wir keine Vorlesungen oder Proben hatten, waren wir immer noch an der Universität, wir trafen viele Leute, die nicht einmal an unserem Institut waren, es war eine große Gemeinschaft, wir schauten uns gegenseitig zu, wir waren an der Arbeit des anderen beteiligt. Diese Gemeinschaftsfunktion wurde eliminiert. Zum Teil absichtlich, denn die alten und die neuen Klassen sind getrennt voneinander in verschiedenen Gebäuden untergebracht, und die Filmemacher sind in einem dritten, weit weg von den beiden anderen. Lange Zeit war die Experimentbühne Ódry geschlossen und auch ansonsten gab es keine Gemeinschaftsräume. Im Vergleich zu früher begegnen sich Alt und Neu heute kaum noch. (…) Aber wenn ich die Sache etwas aus der Ferne betrachte, verkümmern die Foren des Theaterberufs gleichermaßen. Es gibt eine Art schales Selbstbewusstsein in der Intelligenz. Wir sind Frösche in einem Topf und merken nicht, dass das Wasser um uns herum immer heißer wird. Wir sitzen zusammen in dem Topf und tun nichts."
Archiv: HVG

New Eastern Europe (Polen), 04.09.2023

Dor Shabashewitz lenkt den Blick auf das am Kaspischen Meer gelegene Gebiet Astrakhan. Die Oblast, einst ein unabhängiges türkisches Khanat, wie wir lesen, ist heute ein föderales Subjekt Russlands. Aber, so Shabshewitz, ein "ziemlich untypisches". Seit Jahrhunderten ist die Region ein "Hotspot der ethnischen Vielfalt: hier leben Kasachen, Tataren, Nogaier, Tschetschenen, Aseris und Kalmücken. Etwas über die Hälfte der Bevölkerung bezeichnet sich selbst als ethnisch russisch, so Shabashewitz. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine begannen hitzige Debatten über die Zukunft der Region im Falle einer Auflösung Russlands. Wie in vielen Regionen mit ethnischen Minderheiten wurde auch hier "ein unverhältnismäßig hoher Anteil der nicht-slawischen Einwohner für den Krieg rekrutiert. Von den 218 bekannten Namen von Einwohnern des Gebiets Astrachan, die im Kampf in der Ukraine gefallen sind, sind 54 Prozent eindeutig nicht-slawisch". In der Folge bekamen separatische Bewegungen einzelner ethnischer Gruppen mehr Zulauf. Bisher hat sich keine zusammenhängende Unabhängigkeitsbewegung gebildet, beobachtet Shabashewitz: "Das vielleicht ungewöhnlichste Merkmal der öffentlichen Diskussionen über die Zukunft Astrachans ist, dass sie von Bewegungen und Einzelpersonen initiiert und geführt werden, die die am wenigsten zahlreichen Minderheiten der Region repräsentieren. Bei den hitzigen Debatten zwischen den Kalmücken (7.000 Menschen im Gebiet Astrachan) und den Nogaiern (8.000 Menschen im Gebiet Astrachan) wird leicht vergessen, dass es in der Region 150.000 ethnisch kasachische Einwohner und über 50.000 Tataren gibt. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, wie nationalistisch und ethnisch geprägt der Sezessionismus im heutigen Russland ist. Die Kasachen haben als ethnische Gruppe einen eigenen souveränen Staat, und die Tataren haben Tatarstan - ein größeres und weiter entwickeltes föderales Subjekt Russlands, das nicht an Astrachan grenzt und eine lange Tradition von Unabhängigkeitsbewegungen hat, die in den 1990er Jahren teilweise erfolgreich waren. Die Existenz dieser Entitäten könnte der Hauptgrund für die relative Inaktivität der größten Minderheiten Astrachans sein." Sie "ziehen einfach in ihren bestehenden Nationalstaat".
Stichwörter: Astrachan

Guardian (UK), 29.08.2023

Matthew Bremner beleuchtet die Hintergründe eines Massakers an der Spanisch-Marokkanischen Grenze, in dessen Verlauf am 24. Juni 2022 mindestens 37 afrikanische Flüchtlinge ums Leben kamen. Die EU bezahlt nordafrikanische Staaten wie Marokko dafür, die Migrationsströme zu regulieren. "Diese Politik hat hässliche Auswirkungen, wie Basir nur zu gut weiß. Seine erschütternde Reise nach Melilla begann im Alter von 15 Jahren im Sudan, nachdem er Zeuge der Ermordung seines Vaters und seines älteren Bruders in einem Stammeskonflikt geworden war. Er floh aus seinem Dorf und lebte bei seinem Onkel im Bundesstaat Sennar, wo er jedoch unter Druck gesetzt wurde, vom Christentum zum Islam zu konvertieren. Er ertrug fünf Jahre der Unruhen, bevor er genug Geld sparte, um nach Europa zu gehen. Er reiste durch Ägypten, Libyen, Algerien und Marokko. Er wurde viermal festgenommen und von den algerischen Behörden zum Sterben in der Wüste zurückgelassen. Er fühlte sich in jedem der UNHCR-Büros, die er auf seiner Reise aufsuchte, mit Gleichgültigkeit behandelt. Nach der Tragödie vom 24. Juni wurde Basir zusammen mit anderen sudanesischen Migranten in einem achteinhalbstündigen Bustransport in die zentralmarokkanische Stadt Beni Mellal gebracht". Er kämpfte sich zurück an die Westküste und beschloss dann, den legalen Weg nach Europa zu suchen, indem er einen Asylantrag in der spanischen Botschaft in Rabat stellte. "Als wir miteinander sprachen, wartete Basir bereits seit Monaten auf eine Lösung. Er ist durch die Hölle gegangen und hat es bis nach Spanien geschafft, weil er dachte, das würde reichen. Doch jetzt befindet er sich in der Schwebe, ist ständig unterwegs, falls die Behörden versuchen, ihn zu verhaften, und erlebt ständig den Moment, in dem er seine Landsleute in der Nachmittagssonne sterben sieht."
Archiv: Guardian

Projekt (Russland), 21.08.2023

Unter ehemaligen Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes FSO ist es üblich, nicht über die eigene Familie zu reden und eine Ehe abzustreiten - siehe Putin. Die russischsprachige Investigativjournalistin Regina Gimalova berichtet von einem weiteren Fall in Putins Kabinett: Katastrophenschutzminister Alexander Kurenkov, der seine Ehe mit Elena Milskaya, der Vorsitzenden mehrerer russischer Non-Profit Organisationen, vertuscht. Milskaya machte sich in den russischen Medien durch ihre "Hilfsaktionen" für ukrainische Kinder einen Namen. Überdies erhalten ihre Unternehmen seit geraumer Zeit eine Vielzahl an Staatsaufträgen: "Im Jahr 2018 schlug Präsident Putin in seiner Rede vor dem Parlament eine weitere populistische Idee vor. Er beschloss, eine Art Kultur-, Bildungs- und Museumskomplex in einer Reihe von Städten - Wladiwostok, Kaliningrad, Sewastopol und Kemerowo - zu schaffen, 'um das Potenzial unserer Regionen zu erschließen'. Viele Kunstwerke befinden sich in den Tresoren der zentralen Museen, warum sollten sie also nicht in den Regionen ausgestellt werden, erklärte Putin." Generalunternehmer für den Komplex in Kaliningrad war das Unternehmen Stroytransgaz, das damals von Putins Freund Gennadi Timtschenko kontrolliert wurde, erzählt Gimalova, "und 27 Milliarden Rubel für das Vorhaben des Präsidenten erhielt. Natürlich wird nicht alles in Kaliningrad von Stroytransgaz selbst gebaut: Das Unternehmen hat vor Ort Subunternehmer gefunden." Zum Beispiel Milskaya, die erst kurz zuvor Anteilseignerin einer Baufirma geworden war. "Im Jahr 2022 beliefen sich die Einnahmen der drei Kaliningrader Unternehmen von Milskaya auf 4,6 Milliarden Rubel. Dieses Geld wurde hauptsächlich durch Verträge mit Stroytransgaz verdient. So erhielt Milskayas Firma PozitivInfo im vergangenen Jahr mindestens 1,8 Milliarden Rubel für seine Arbeit am Bauprojekt des Präsidenten. Putins Bauprojekte sind [Stand 2023] in keiner der Städte abgeschlossen."
Archiv: Projekt
Stichwörter: Russland, Korruption

London Review of Books (UK), 07.09.2023

Laleh Khalili beschäftigt sich, entlang einiger Neuerscheinungen mit dem Phänomen "woke capitalism". Er zeichnet dessen Kontinuität mit der britischen und französischen Kolonialpolitik nach, die, so die These, in der Gegenwart vom Fantasma eines Kapitalismus ersetzt wurde, der auf der Ansicht basiere, Erfolg zu haben und Gutes zu tun sein praktisch dasselbe. Ein Ergebnis ist der Rückbau öffentlicher zugunsten privatwirtschaftlicher Infrastruktur: "Heute ist die Debatte über eine Balance zwischen privaten und öffentlichen Investitionen im Globalen Süden beigelegt. Durchgesetzt hat sich das Privatkapital. Mobilfunk und Internet, Wasser und Abwasser, Dienstleistungsbetriebe, mobiles Banking, Finanzinfrastruktur, Krankenhäuser und Arztpraxen: In all diesen Feldern existieren private Initiativen neben öffentlichen und immer öfter verdrängen sie letztere. Viele dieser Firmen erhalten Sicherheiten und internationale Bürgschaften mithilfe von Entwicklungshilfeorganisationen, und in den wenigen Fällen, in denen die Profite nicht außerhalb des Landes realisiert werden, bereichern sich lokale Geschäftsleute mit Verbindungen zu internationalen Netzwerken. Viele dieser Geschäftsleute haben Masterabschlüsse von Europäischen oder Amerikanischen Wirtschaftsunis und haben in den Zentren der internationalen Finanzwelt für Consultingfirmen oder Investmentbanken gearbeitet. Wo die Not am größten ist, ist Privatkapital durchweg am dominantesten: 73 Prozent der Infrastrukturprojekte in Afrika werden von ausländischen Investoren gestützt."

Weiteres: Geoff Mann übt sich angesichts des Klimawandels im Katastrophendenken. Colm Toibin meditiert über James Joyces Irrtümer. Und Liam Shaw stellt uns Pflanzendetektive vor.

Geschichte der Gegenwart (Schweiz), 02.09.2023

Der Philosoph Luca Di Blasi beugt sich nochmal über die Debatten über Martin Walsers Verhältnis zu Auschwitz. Insbesondere Walsers "Unser Auschwitz"-Aufsatz von 1965 wurde von den Verteidigern herangezogen - allerdings auf Grundlage eines Missverständnisses, meint Di Blasi: Nicht um den verantwortungsvollen Umgang mit einer Kollektivschuld sei es Walser gegangen, sondern er zielte darauf ab, das nationale Kollektiv durch identitätsstiftende Schuld zu wahren - dies auch als historisches Projekt mit langem Atem im Blick auf die Überwindung der deutschen Teilung. "Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, wie irrig es ist, Walsers 1998 viel diskutierte Paulskirchenrede vom frühen Walser abzutrennen. Denn hier tauchen die gleichen Grundmotive wieder auf", doch "jetzt, wo die deutsche Einheit erreicht war, hatte für Walser die 'deutsche Schuld' ihre Schuldigkeit getan." Aktuelle Verschiebungen im deutschen Selbstverständnis zeigen sich "in semantischer Hinsicht: Nachdem bereits die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Ende 2022 mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine von einem 'Bruch der Zivilisation' gesprochen hatte, verwendete der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, Anfang des Jahres für den russischen Angriff exakt jenen Begriff, der bis dahin dem größten aller Verbrechen, dem Holocaust, vorbehalten war: 'Zivilisationsbruch'. Mehr noch als diese jeweilige Wortwahl war signifikant, dass in beiden Fällen kaum öffentliche Kritik zu vernehmen war. Der Historiker Dan Diner, der den Begriff des 'Zivilisationsbruchs' geprägt hatte, sprach 2022 von der Erosion der Singularität des Holocaust. Damit wird auch eine der zentralen Stützen der Gedenkgemeinschaft brüchig und ihre Erosion schreitet seit dem Krieg in der Ukraine und der kurz darauf ausgerufenen 'Zeitenwende' noch voran. Deckte sich die deutsche Gedenkgemeinschaft zeitlich sehr genau mit einer, maßgeblich von Michail Gorbatschow nach 1985 ermöglichten, Phase der Demilitarisierung und 'Friedensdividende', scheint die Betonung deutscher Schuld in Zeiten der Remilitarisierung allmählich unzeitgemäß zu werden."

New Lines Magazine (USA), 31.08.2023

Deutsche Medien behandeln Österreich als weit entferntes Ausland. Die abstoßende Szene, die die FPÖ produzierte, als Wladimir Selenski per Video im österreichischen Parlament sprach, wurde hier kaum thematisiert: Die Abgeordneten verließen ihre Plätze und stellten Schilder mit der Aufschrift "Platz für Frieden" auf (hier das Video, ab Minute 5.20). In unheimlicher Parallele zur AfD in Deutschland und dem Front national in Frankreich ist die FPÖ in Österreich inzwischen zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen, wohl auch weil sie den giftigen Fundus von Antiamerikanismus und Russlandliebe aus dem Mainstream an den rechten Rand zu ziehen vermochte, so wie die AfD in den Neuen Ländern. Nun "stellt sich die Frage, ob die ÖVP auf Bundesebene als Juniorpartner der FPÖ auftreten will", schreibt Liam Hoare, auch wenn sie damit den verhassten Herbert Kickl zum Bundeskanzler machen würde. "Die neuen ÖVP-FPÖ-Koalitionen in den Bundesländern Niederösterreich und Salzburg deuten darauf hin, dass das passieren könnte, ebenso wie der jüngste Rechtsruck der ÖVP bei Themen wie Zuwanderung und Umwelt. Gleichzeitig haben mehrere Kabinettsminister sowie der Präsident des österreichischen Parlaments, Wolfgang Sobotka, angedeutet, dass sie ein solches Szenario nicht zulassen würden. Langjährige Mitglieder der ÖVP haben gewarnt, dass die Partei zerfallen könnte, wenn Kickl Kanzler würde."

Elet es Irodalom (Ungarn), 01.09.2023

Die in Siebenbürgen lebende Dichterin, Redakteurin und Übersetzerin Noémi László spricht im Interview mit Andrea Lovász über das Bild und die Rolle des Dichters heute in der Öffentlichkeit. "Mut als Motiv hat mich stets sehr interessiert. Unter anderem, weil ich ein Feigling bin, aber das ist nichts Besonderes, denn die meisten Menschen, die auch nur ein Fünkchen normal sind, sind Feiglinge. Freilich bin ich gleichzeitig auch ein bisschen nicht normal, somit also auch mutig, sonst wäre ich nicht hier und da als Dichterin bezeichnet worden. Es ist eben nicht nur das Schreiben von Gedichten, was einen Menschen zum Dichter macht, sondern auch eine Art von Haltung, eine Art von Verhalten. Einen feigen Dichter kann ich mir nicht vorstellen, besonders jetzt, im Petőfi-Erinnerungsjahr."

Tablet (USA), 30.08.2023

Auf irgendeine Weise ist das Tablet Magazine an Kontoauszüge gekommen, die zeigen, welche Figuren aus der Fifa von Katar bestochen wurden, als es darum ging, dem Land die Fußball-WM zuzuschanzen. Gut 550 Millionen Dollar sollen an Bestechungsgeldern gezahlt worden sein. Armin Rosen nennt nicht allzu viele Namen, vielleicht auch aus juristischen Rücksichten, aber der größte Empfänger war Putins Sportfunktionär Witali Mutko, der über 100 Millionen Dollar bekommen haben soll. Aber Rosen konstatiert auch, dass Katar mit seiner Politik der Versklavung von Arbeitern (einige hundert Tote) und der Beeinflussung westlicher Öffentlichkeiten alles in allem prächtig durchgekommen ist. Vielleicht hat das Land auch ein paar Anzeigen in Zeitungen springen lassen? "Die amerikanische Presse, die andere Staaten des Nahen Ostens heftig kritisiert hat, war von Katars gut finanzierter PR-Offensive rund um die Fußballweltmeisterschaft weitgehend begeistert. Am 5. Dezember 2022 veröffentlichte der Newsletter 'Today's WorldView' der Washington Post eine gutgläubige Tourismuswerbung für die Golfmonarchie und schwärmte, dass 'Doha ein attraktives Reiseziel für Besucher aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika sein könnte'. Der demokratische Senator Chris Murphy aus Connecticut, der sich oft über die angeblichen Missetaten Israels und Saudi-Arabiens auslässt, lobte Katar als 'unseren besten Partner in der Region'. Geld spielt für Doha keine Rolle, wenn es darum geht, eine widersprüchliche Strategie voranzutreiben, nämlich eine pro-islamistische Monarchie zu sein, die sich gleichzeitig als zukunftsorientierter und fortschrittlicher Staat präsentiert, der dieselben Werte verkörpert wie die westlichen Demokratien… Das Land hat genug Geld, um sich Popularität zu erkaufen: Hier überschüttet es Al Gore und seine Partner mit einer halben Milliarde Dollar, um seinen scheiternden Kabelkanal zu kaufen, dort sagt es der Brookings Institution 14,8 Millionen Dollar zu und dann lässt es mal wieder führende Vertreter der jüdischen Gemeinde nach Doha einfliegen, oder es richtet eben mal das größte Sportereignis der Welt aus."
Archiv: Tablet

New Statesman (UK), 04.09.2023


Robert D. Kaplan wusste es schon vor 30 Jahren, als er über das ausgetrocknete Mali flog: "Die am meisten benachteiligten Länder Westafrikas waren ein Mikrokosmos, wenn auch in übertriebener Form, für die Unruhen, die uns rund um den Globus erwarten würden. Von Afrika können wir sicherlich etwas lernen", erinnert er uns im New Statesman. Überbevölkerung, Dürre, ethnische Konflikte, Korruption und Kriege werden einen gewaltigen Migrationsdruck auf Europa schaffen, das an diesen Entwicklungen nicht gerade unschuldig ist, warnt Kaplan. Was könnte die Lösung sein? Mehr Demokratie? So einfach ist es nicht, zuallererst sollte man genau hingucken, empfiehlt er: "Um diese Welt zu begreifen, ist es wichtiger, sich mit den Realitäten vor Ort zu befassen als mit politikwissenschaftlichen Abstraktionen. … Im Jahr 2006 machte ich mit Spezialkräften der US-Armee in Mali eine extreme Erfahrung. Dort erfuhr ich, dass die Stadt Timbuktu mit ihren Lehmziegelhäusern und gelegentlichen Satellitenschüsseln nicht, wie das Klischee besagt, das Ende der Welt ist, sondern ein Teil der modernen Welt, die ich hinter mir ließ, als ich tiefer und nördlicher in die Sahara vordrang. Ich war auf dem Weg nach Araouane, einem Ort mit wenigen Brunnen oder Einwohnern, der dennoch auf einer Landkarte verzeichnet war, als wäre er Cleveland. Aber niemand in Timbuktu, geschweige denn in der weit im Süden und Westen gelegenen Hauptstadt Bamako, hatte eine Ahnung, ob in Araouane noch Menschen lebten und wie es um ihre Sicherheit und Gesundheit bestellt war. Die Green Berets mussten das herausfinden, indem sie sich tatsächlich dorthin begaben. Sie rechneten damit, dass sie von Timbuktu aus vier Stunden bis nach Araouane brauchen würden. Wegen platter Reifen, überhitzter Autobatterien und wiederholtem Steckenbleiben im Sand dauerte es 11 Stunden. Araouane war ein Trümmerhaufen, in dem nur noch Frauen, Kinder und alte Menschen lebten, während die Männer auf den Karawanenrouten Banditentum und Handel betrieben. Mit der Einführung der Demokratie in Mali wurden die Politiker unter Druck gesetzt, die gesamten Hilfsgelder im bevölkerungsreichen Süden, in der Nähe der Hauptstadt Bamako auszugeben, wo die Wähler ihre Stimme abgaben. Dies war nur eine Art, wie Demokratie die unmöglichen Grenzen Malis noch unwirklicher machte. Die Situation in diesen Wüstengebieten hat sich seit meinem Besuch durch den Zustrom radikaler islamistischer Gruppen in gewisser Weise verschlimmert. Als die französischen Kolonialherren im 19. und frühen 20. Jahrhundert diese Grenzen zogen, platzierten sie die Hauptstädte so weit südlich und so nah an der Savanne wie möglich - zum Teil, damit die Städte lediglich eine nördliche Verlängerung der westafrikanischen Küste darstellen, wo sich die Kolonialtruppen meist aufhielten. Die Hauptstädte und die in ihrer Nähe lebenden Menschen sind eigentlich Teil der Sahelzone, einer ökologischen Übergangszone zwischen Wüste und Grasland. Doch aufgrund der vom Imperialismus gezeichneten Landkarte sind die Regierungen von Niger und Mali auf die Zuständigkeit für riesige Wüstengebiete angewiesen, die sich über die Sahara erstrecken und den größten Teil ihres Rechtsgebiets ausmachen. Niger ist so groß und leer, dass die libysche Grenze im Nordosten von der Hauptstadt Niamey weiter entfernt ist als die Großen Seen Nordamerikas vom Golf von Mexiko."
Archiv: New Statesman