Spätaffäre

Die Matrix ist absolut aussagekräftig

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27.03.2014. The Nation erinnert an den 1978 auf der Waterloo Bridge in London ermordeten bulgarischen Schriftsteller Georgi Markov. La vie des idées untersucht, was von Pierre Bourdieus Theorie über die "feinen Unterschiede" übrig blieb. Auf Youtube findet sich eine Bourdieu-Doku des Hessischen Rundfunks von 1981. Der Bayerische Rundfunk bringt Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" in 14 Teilen zu Gehör.

Für Sinn und Verstand

Im letzten Jahr, 35 Jahre seiner der Ermordung durch eine vergifteten Regenschirmspitze, verjährte der tödliche Anschlag auf den bulgarischen Schriftsteller Georgi Markov in London. Sein Cousin Luben versucht zwar immer noch, Beweise für die Verantwortung des Geheimdienstes SSS zu finden, aber Dimiter Kenarov erscheint das in seinem riesigen Text über Markov für The Nation nicht sehr aussichtsreich. "'In Bulgarien gab es keine echte Dekommunisierung, keine Lustration und die Geheimdienstakten des SSS wurde sehr spät geöffnet, um einen kontrollierten Übergang in die Demokratie zu erreichen', sagt der Journalist Hristo Hristov. 'Aber im Endergebnis wird die Gesellschaft immer noch durch die selben Apparate manipuliert, in denen die ehemaligen Mitgliedern des SSS präsent sind - in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien. Das ist der Grund, warum wir keine Erinnerung an Georgi Markov haben. Und die Erinnerung an Markov fehlt, weil es insgesamt keine Erinnerung an die Opfer des Kommunismus gibt." In Bulgarien sei es viel einfacher die Memoiren des ehemaligen kommunistischen Staatschefs Todor Schiwkow zu finden als Markovs Romane "Das Porträt meines Doppelgängers" oder "Die Frauen von Warschau".

Über dreißig Jahre ist es her, dass der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein Opus magnum "Die feinen Unterschiede" vorlegte. Zeit also, einmal zu überprüfen, ob seine Thesen zur Entstehung und Funktion des "Klassengeschmacks" sowie seine Konzepte und Begriffe auch heute noch Gültigkeit haben. "Klassifiziert kulturelles Kapital noch?" lautet denn auch die Überschrift der Besprechung eines Sammelbandes zum Thema in La vie des idées. Der Band beinhaltet auch aktuelle internationale Forschungsbeiträge, etwa zur Dominanz eines "traditionellen Geschmacks" der reichsten Einwohner von Sao Paulo, der jeglichen Avantgardismus ablehnt, oder "zu einem Vergleich zwischen Großbritannien und Dänemark, der sich unter anderem auch auf Forschungen in Serbien bezieht und zu zeigen versucht, dass in diesen sehr unterschiedlichen Kulturen nach wie vor eine wenn auch schwächer werdende legitime Wissenskultur existiert, mittels derer die Angehörigen der dominanten Gesellschaftsklassen sich weiterhin abgrenzen."

In einem flankierenden Gespräch bestätigt Herausgeber Philippe Coulangeon die erstaunliche Anpassungsfähigkeit von Bourdieus Analyseinstrumentarium auch an andere historische und kulturelle Kontexte. Natürlich könne man sagen, was in den Siebzigerjahren über soziale Positionen und gewisse Merkmale wie Geschmack, Lebensstil geschrieben wurde, heute nicht mehr funktioniere. Aber sie existierten immer noch, manifestierten sich allerdings nicht mehr in gleicher Weise. "Ich persönlich glaube, dass die Matrix absolut zutreffend und aussagekräftig ist, um gewisse Sachverhalte zu verstehen, auch wenn sich deren Erscheinungsformen stark verändert haben."

Für die Augen

Und sehen Sie, was wir hier gefunden haben: Eine Dokumentation des Hessischen Rundfunks von 1981 über Bourdieu und die "feinen Unterschiede". (43 Min.)




"Es war einmal Little Odessa..."

James Grays beeindruckend düsterer Debütfilm "Little Odessa" - ein Blick auf die russisch-jüdischen Einwanderer in New York mit Tim Roth, Maximilian Schell und Vanessa Redgrave - lief gestern Abend auf Arte. In die Mediathek ist er leider nicht gelangt. Dafür aber eine Dokumentation über das Zustandekommen dieses Films, in der Gray eine Menge über das New York seiner Kindheit und natürlich seinen Film erzählt. "Es war einmal... Little Odessa" (53 Minuten).
Archiv: Für die Augen

Für die Ohren

Als im Jahr 2000 Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" erschien, waren die Kritiker hin und weg. Sie erzählt in Lebensläufen und Geschichten von den Erfahrungen und den Gefühlen, mit denen wir auf Zeit, Epoche und deren Brüche reagieren. Auch das Hörspiel in 14 Teilen, das 2009 in der Bearbeitung und unter Regie von Karl Bruckmaier als CD-Sammlung bei Anje Kunstmann erschien, erntete großes Lob. Es folgt der Struktur der Chronik. Jedem Teil steht ein Minutensong voran, in dem ein Kluge-Zitat zu Techno, Electro oder Pop verarbeitet wurde. Im Kontrast dazu ziehen sich Klangeinheiten aus Wagners "Götterdämmerung" durch das Hörspiel. Alexander Kluge wirkt als Sprecher mit und reflektiert seine Geschichten. Außerdem sind Hanns Zischler, Hannelore Hoger, Elfriede Jelinek, Christoph Schlingensief, Wim Wenders, Romuald Karmakar, Volker Schlöndorff zu hören, im Bayerischen Rundfunk: Hier. (zusammen ca. 12 Stunden)

"Haben wir noch Gemeinsamkeiten", fragte 1964 der RIAS eine Gruppe von Schriftstellern aus dem Osten und Westen unmittelbar nach derm Mauerbau. Es sprechen aus Ost-Perspektive die Autoren Hermann Kant, Paul Wiens und Max Walter Schulz, den Westen repräsentieren Günter Grass, Heinz Kramer und Uwe Johnson. DRadio Kultur hat die Sendung aus dem Archiv geholt: Hier. (57 Min.)
Archiv: Für die Ohren