Magazinrundschau - Archiv

La vie des idees

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Magazinrundschau vom 04.06.2019 - La vie des idees

Die Krise der Demokratie in Brasilien war die Koinzidenz einer Krise der traditionellen Parteien, besonders auch der Linken, und der Entstehung neuer Kommunikationstechniken - der sozialen Medien -, die es Jair Bolsonaro gestatteten, die Bevölkerung direkt, ohne die verhassten Mittler wie Medien anzusprechen, schreibt die brasilianische Politologin Tatiana Roque in einem längeren Essay. Sie sympathisiert zwar deutlich mit der brasilianischen Linken, kritisiert sie aber auch, weil sie die Impulse nicht verstanden hätten, die aus der demonstrierenden Bevölkerung vor der fatalen Weltmeisterschaft von 2014 kamen: "Die Revolte zielte auf alle traditionellen politischen Organisationen und galt nicht der Arbeiterpartei oder der Regierung Dilma Rousseffs allein. Aber da man nichts weiter als eine diffuse Wut gegen das System sah, haben viele Analytiker der Linken beschlossen, der Bewegung dieser sozialen Akteure zu misstrauen, und ebenso wenig trauten sie ihrer horizontalen Art sich zu organisieren, die einer gewissen institutierten Politik so fremd war. Die Linke hat es also nicht geschafft, diese Revolte für sich anzunehmen."

Magazinrundschau vom 28.05.2019 - La vie des idees

Sibeth Ndiaye ist eine der beeindruckendsten Figuren aus dem direkten Umkreis von Emmanuel Macron. Sie war seine Wahlkampfleiterin, nun ist sie seine Regierungssprecherin. Es war eine Freude, wie sie in der Wahlsendung von France 2 am Sonntag den Vertreter des Front national permament aus dem Konzept brachte, indem sie den Front national als "Front national" und nicht neumodisch als "Rassemblement national" bezeichnete (hier ein Ausschnitt aus der Sendung). Ndiaye trägt neuerdings einen Afro, der ihr in den sozialen Medien übelste rassistische Beschimpfungen eingetragen hat. Ary Gordien erzählt in einem Artikel, der von akademisch-antirassistischem Sprech nicht ganz frei ist, was es mit der Afro-Frisur auf sich hat, die unter Weißen, aber auch vielen Schwarzen immer noch als allzu wild gelte. Durch die "Nappy"-Bewegung - eine Zusammensetzung aus "natural" und "happy" - sei der Afro nach seiner großen Zeit um 1970 wieder in Mode gebracht worden: "Dank der 'Nappy'-Bewegung muss man vielleicht nicht mehr schwarz sein oder viel mit Schwarzen zu tun haben um zu begreifen, was es schwarze Frauen kostet, lange und glatte Haare zu haben. Ohne die Ungleichheiten sozialer Stellung oder der Hautfarbe aufzuheben, kann die Bewegung zu einer Anerkennung und Normalisierung einer physischen Differenz beitragen, die eigentlich keine Bedeutung hat, aber immer noch schockiert."

Magazinrundschau vom 16.04.2019 - La vie des idees

Ophélie Siméon führt ein sehr interessantes Gespräch mit dem britischen Wirtschaftshistoriker David Todd über wirtschaftlichen Liberalismus, Freihandel versus Protektionismus und die komplizierten Interaktionen dieser Ideen mit der Idee der Nation. Todd benennt dabei einen wichtigen Aspekt in der Entstehung Großbritanniens: "Nach Oliver Cromwell, der von 1649 bis 58 an der Macht war, praktizierte England einen Merkantilismus bis zum Anschlag. Es gibt keine Universal-Definition des Merkantilismus, aber in diesem Kontext ging es darum, Importe zu reduzieren und Exporte zu maximieren. Es gab vielfältige Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen: sehr hohe Einfuhrzölle, Schifffahrtsbestimmungen, die den englischen Handel auf englische Schiffe beschränkten, Prämien für die Ausfuhr von Manufakturprodukten und so weiter. Der Wunsch, an diesem System und dem der englischen Kolonien teilzuhaben, war für Schottland eines der Hauptmotive für den Act of Union, der im Jahr 1707 die Geburt Großbritanniens markierte."

Magazinrundschau vom 09.04.2019 - La vie des idees

Am 21. und 22. Februar fand an der höchst renommierten Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris ein von Jan Gross eröffnetes Kolloquium statt, in dem polnische Historiker jüngste und zum Teil offenbar recht faszinierende Studien zum Geschehen des Holocaust in ihrem Land vorstellten - auch die schmerzhaften Fragen polnischer Kollaboration und Bereicherung wurden thematisiert. Das Kolloquium wurde von einer Gruppe polnischer "Patrioten" um den Pater Stanislaw Jeż massiv gestört. Judith Lyon-Caen erzählt, wie hier zwei extrem unterschiedliche Ideen von Öffentlichkeit aufeinander prallten: "Das Vorgehen des Historikers ist für den 'Patrioten', der den 'Ruf' seines Vaterlandes verteidigt, nicht nachzuvollziehen und zu akzeptieren. Das Kolloquium wird dadurch zwar nicht zum Austragungsort von 'Standpunkten' - denn die Historiker lehnen diese Logik ab und wollen die Interventionen der Gruppe begrenzen - sondern von Publikationspraktiken, die eine Logik des 'Standpunktes' aufzwingen. Den Forschern gegenüber führen sich die Patrioten nämlich nicht nur mit Gesten und Schreien auf - sie sind mit Kameras und Aufnahmegeräten ausgerüstet, um deformierte, gehässig kommentierte Ausschnitte des Kolloquiums im Internet zu posten und so der Welt zu beweisen, dass in Paris, so der Titel des Magazins Gazeta Polska, 'ein antipolnischer Sabbat' abgehalten wurde, der von französischen Staatsgeld finanziert war."

Magazinrundschau vom 26.03.2019 - La vie des idees

Ist die amerikanische Verfassung "garrosianisch"? So lautet der Begriff für jene heute dominierende Schule amerikanischer Verfasssungshistoriker, die in der Verfassung in Anlehnung an den Namen eines späteren Abolitionisten ein Dokument sehen, das die Sklaverei befürwortet. So spricht der erste Artikel von "freien Personen " und "anderen Personen". Diese Umschreibungen werden in der Regel als implizite Anerkennung der Sklaverei gedeutet, schreibt Michaël Roy. Das Wort "Sklave" fällt in der Verfassung zwar kein einziges Mal, die Sklaverei aber wurde indirekt anerkannt, um die Südstaaten zu gewinnen. Der Forscher Sean Wilentz dreht diese Lesart in seinem Buch "No Property in Man" allerdings genau um: "Wilentz sieht in den Umschreibungen der Verfassung nicht den Ausdruck eines Unbehagens oder die Spur eines Verzichts der abolitionistischen Delegierten bei der Verfassungsversammlung in Philadelphia, sondern im Gegenteil den Beweis ihrer politischen Intelligenz und Entschlossenheit: das herabsetzende Wort 'Sklaverei' nicht im Text vorkommen zu lassen, kommt der Aberkennung der Legitimität dieser Institution auf nationaler Ebene gleich. Von 'Personen' statt von 'Sklaven' zu sprechen heißt, die geknechtete Bevölkerung zu humanisieren und das Prinzip der 'property in man'  zu verweigern. Wilentz stellt die bisherige Sichtweise auf den Kopf und setzt eine abolitionistische Präsenz ins Licht, die bisher in der Geschichte der jungen Republik vernachlässigt wurde." Die New York Times hat das Buch schon im Herbst besprochen.

Außerdem in La Vie des Idées: Giulia Fabbianos leider etwas impressionistischer Essay über die Ereignisse in Algerien.

Magazinrundschau vom 19.03.2019 - La vie des idees

Sehr interessant lesen sich Tristan Guerras Ausführungen über das Buch "Populism : A Very Short Introduction" von Cas Mudde undt Cristóbal Rovira Kaltwasser, das gerade in französischer Übersetzung erscheint und das auch auf Deutsch vorliegt ohne dass es die größeren, vom Perlentaucher ausgewerteten Zeitungen zur Kenntnis genommen hätten. Das Buch scheint eine griffige und fruchtbare Definition des Populismus-Begriffs vorzulegen, der sich stets aus drei Elementen speise: Da sei erstens die Vorstellung von einem homogenen Volk, dem zweitens ebenso homogene, aber anmaßende Eliten gegenüber stünden. Als drittes kommt der Wille des Volks, die "volonté générale", hinzu, die nach dieser Vorstellung möglichst direkt gegen die Eliten durchzusetzen ist. "Die Entgegensetzung von Volk und Elite geschieht im Populismus auf äußerst manichäische Weise: Gut gegen Böse. Während dieser Gegensatz im Sozialismus auf dem Klassenbegriff und im Nationalismus auf dem der Nation beruht, ist er im Populismus im wesentlichen moralisch. Für die Populisten liegt das Wesen des Volks in seiner Reinheit und Echtheit, während die Eliten unrein sind." Interessant ist, dass die Autoren den Populismus als "dünne Ideologie" definieren: Er hat eigentlich keine Inhalte, muss entweder beim Sozialismus, dem Nationalismus oder auch dem Liberalismus andocken, um Inhalte zu formulieren. Darum könne es ebenso einen Links- wie einen Rechtspopulismus geben.

Magazinrundschau vom 19.02.2019 - La vie des idees

Bazin mit Katze. Abbildung aus der Bazin-Ausgabe der Editions Macula 
In Frankreich erscheint eine Ausgabe mit den gesammelten Schriften des großen Filmkritikers und Ermöglichers der Nouvelle Vague André Bazin. Diese Schriften lagen mit Ausnahme einer Textsammlung, die Bazin zu Lebzeiten zusammenstellte, nur in den Zeitschriften vor, in denen er sie ursprünglich publiziert hatte. Bazin ist eine jener einflussreichen Gestalten, die letztlich kaum einer gelesen hat. Ariel Suhamy sagt Bazin darum ein zweites Nachleben voraus, besonders weil es Bazin stets um die Flüchtigkeit des Mediums zu tun war - ein heute wieder höchst aktuelles Thema. Er habe Filmkritik als Soziologie gedacht, das Publikum, an das sich Kino wende, sei stets mitzudenken. Das Kino selbst war für ihn "ein ständig sich weiterbewegender Filmstreifen", der sich permanent entwickle und dessen Entwicklungen vom Kritiker zu erfassen seien, "nicht um sich daran anzupassen, sondern um sie zu prägen: Unbestechlich messe der Kritiker jedes einzelne Werk an dieser notwendigen Entwicklung der kinematografischen Sprache, bis hin zum möglichen Verschwinden dieser Kunst, die möglicherweise nur eine glückliche ästhetische Episode ist, eine 'optische Illusion der Geschichte, flüchtig wie ein von der Sonne gezeichneter Schatten in der großen Evolution der mechanischen Reproduktion'. Daher auch das Interesse Bazins am entstehenden Fernsehen, dem er, gefesselt durch seine Krankheit, eine große Zahl Kritiken widmete."

Zu dem Artikel gehört ein Video-Gespräch mit dem Herausgeber Hervé Joubert-Laurencin. Hinzuweisen ist auch auf ein Bazin-Heft der Zeitschrift Critique.

Magazinrundschau vom 05.02.2019 - La vie des idees

Sehr ansprechend klingt, was Maxime Triquenaux über Robert Darntons neues Buch "Un tour de France littéraire - Le monde du livre à la veille de la Révolution" erzählt. Darnton ist seit langem der vielleicht renommierteste Historiker des Lesens, der die Entwicklung des Buchdrucks vor allem am französischen Beispiel untersucht. Für die englischsprachige Ausgabe des Buchs hat er übrigens eine wunderbare Website angelegt. "Diese Tour de France setzt sich - wie die Tour de France der Handwerksgesellen oder sogar in 'Asterix' - aus einer Abfolge von Etappen zusammen, die jeweils einen bestimmten Aspekt des Buchhandels beleuchten. Pontarlier, eine Grenzstadt, eröffnet den Fokus auf Schmuggelnetzwerke. In Lyon, einer Hochburg des Druckwesens seit dem 16. Jahrhundert, geht es mehr um die Raubdruckunternehmen, die die Pariser Monopole angreifen (etwa die Encyclopédie). Loudun dagegen, eine kleine Stadt, die über keinen große Markt verfügt, erlaubt einen Blick auf die Praxis der Kolportage. Eine angenehme Vielfalt, die die große Präzision der Studie um echtes Lesevergnügen ergänzt."

Magazinrundschau vom 22.01.2019 - La vie des idees

Der brasilianische Urbanist und Ökonom João Sette Whitaker liefert im Gespräch mit Olivier Compagnon und Anaïs Fléchet interessante, wenn auch für Außenstehende nicht immer völlig verständliche Hintergründe zur politischen Lage in Brasilien, die zum Wahlsieg des Extremisten Jair Bolsonaro führte. Eine Menge dunkler Kräfte waren da im Spiel, etwa die beiden kriminellen Kartelle, die über die Favelas von Rio de Janeiro herrschen, und das dritte Kartell, das Sao Paolo im Griff hat, dann die traditionelle Rechte, die gegen Dilma Roussef putschte, die evangelikalen Kirchen und die Korruption, ohne die auch Silva Lulas Partido dos Trabalhadores (PT) nicht auskam. Aber immerhin, so Whitaker: Während sich bei Bolsonora und der Rechten keine konstruktive Idee erkennen lässt, hat die Linke immer noch ein Projekt. Leicht wird es nicht: "Die Konfrontation wird sehr hart, denn sie findet nicht mehr auf demokratischer Basis statt. Brasilien steht vor dem Zusammenbruch seines Rechtssystems. Dafür ist nicht Bolsonaro verantwortlich, sondern die Rechte, die den Coup d'Etat von 2016 anführte, aber auch Sergio Moro, der sich Bolsonaro anschloss, nachdem er Lula, seinen Hauptrivalen, ins Gefängnis gebracht hatte. Das höchste Gericht Brasiliens verbirgt seine politischer Richtung nicht mal mehr und hält Lula um jeden Preis im Gefängnis. Lula konnte noch nicht mal alle Rechtsmittel einlegen, was verfassungswidrig ist. Und angesichts all dieser Angriffe auf die Demokratie tun die Medien so, als sei nichts geschehen."
Stichwörter: Brasilien, Bolsonaro, Jair, Putsch

Magazinrundschau vom 02.01.2019 - La vie des idees

Nicht, dass das Thema nicht ein bisschen abgenudelt wäre: das Paris der Existenzialisten. Aber vielleicht mag es auch anregend sein, einen neuen Blick auf das letzte Jahrzehnt zu werfen, in dem Pop noch nicht existierte und die Impulse noch von Paris ausgingen. Ohne die Existenzialisten wäre das Folgende schließlich auch nicht möglich gewesen. Adèle Cassigneul ist begeistert von Agnès Poiriers Buch "Left Bank - Art, Passion, and the Rebirth of Paris 1940-50", das die Stadt in bester angelsächsischer Erzähltradition lebendig mache: "Sie leben in engen Hotelzimmern und weisen sämtlich die Institution der Familie  und Ehe (Anhäufung von Besitz und Kindern) zurück. Man ist erstaunt, mit welcher Entschiedenheit sie Abtreibung befürworten, vor allem Sartre, der in den Temps modernes offen darüber spricht und viele damals noch illegale Abtreibungen finanziert. Agnès Poirier zeigt die Verbindungen zwischen den Protagonisten und die sexuelle Offenheit, die ihre Beziehungen prägte. Das ging nicht ohne Schmerz und Heuchelei ab (die Männer waren oft verheiratete, hatten Kinder und sammelten gleichzeitig Mätressen). Und auch nicht ohne Kritik. Die Kommunisten liebten es, die 'bourgeoise Dekadenz' der Existenzialisten anzuprangern."