"Das ist immerhin eine kleine Sensation: ein gemeinsamer Essay von
Jürgen Habermas und
Jacques Derrida über 'unsere Erneuerung'",
kommentierte am 31. Mai 2003 der
Perlentaucher. Die beiden riefen mal wieder zur Bildung einer
europäischen Öffentlichkeit auf, ihrem Alter geschuldet verwechselten sie allerdings Zeitungen mit Öffentlichkeit. Im Hintergrund tobten damals
niemals getoppte Demos in Europa: Der Krieg
gegen den Irak, wo immerhin ein Höllenhund vom Erdboden gefegt wurde, empörte das westliche Publikum um einiges mehr als von Putin gedecktes Giftgas in Syrien oder sein Krieg gegen die Ukraine. Und Habermas und Derrida meinten mit "europäischer Öffentlichkeit" noch ein "
Kerneuropa", ohne die Länder Osteuropas.
Eurozine bringt mit Hilfe der
Zeit-Stiftung eine Artikelreihe unter dem Titel "Lessons of War" (organisiert vom einstigen
Eurozine-Chef Carl Henrik Fredriksson), die zwanzig Jahre danach an Habermas' und Derridas Artikel anknüpft. Eröffnet wurde die Reihe von einem Text Daniel Cohn-Bendits und Claus Leggewies (
hier). Den jüngsten Essay
bringt Veronica Anghel, Forscherin an der Johns Hopkins School of International Studies, die über "die
Macht kleiner Länder" schreibt. Den starken Willen osteuropäischer Länder wie Georgien, Moldau oder eben die Ukraine
zum Westen zu gehören und nicht mehr als Manövriermasse und "
Pufferzone" betrachtet zu werden, liest sie als ein Symptom der einst auch von den beiden Philosophen geforderten
Dekolonisierung im Geiste: "Die Ukrainer haben sich für die europäische Identität entschieden, die Habermas und Derrida forderten. Nun ist es an der Zeit, dass Europa sich mit den Ukrainern identifiziert und auf den Ruf der Ukraine nach Vereinigung antwortet. Diese Entscheidung mag dem pazifistischen Argument von Habermas und Derrida im Zusammenhang mit der Irak-Invasion widersprechen. Aber sie steht im Einklang mit ihrer
übergeordneten Botschaft. Sollte Europa beschließen, dass eine freie und intakte Ukraine nicht mehr in seinem Interesse liegt, und aufhören, die Ukraine zu unterstützen, wird die Ukraine den Krieg verlieren. Das Ergebnis wird nicht eine fügsame Bevölkerung sein, die bereit ist, ihre Souveränität und ihr Territorium im Austausch für ihre persönliche Sicherheit aufzugeben. Vielmehr wird ein schwer bewaffnetes und kriegsgestähltes Land in sozialem und politischem Chaos versinken. In diesem Szenario gewinnt Russland, und
Europa verliert."