Magazinrundschau
Eine Ahnung euphorischer Revolte
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
New York Review of Books (USA), 19.12.2019

Weiteres: Anna Deavere Smith liest Colson Whiteheads Roman "The Nickel Boys". Und Langdon Hammer vertieft sich in die Dolphin-Briefe von Elizabeth Hardwick und Robert Lowell.
Merkur (Deutschland), 01.12.2019

Zu spät, ruft Moritz Rudolph den Rechtspopulisten im Osten zu, die sich hinter Pegida oder dem AfD-Slogan "Vollende die Wende" scharen: "Der Osten versucht sich also noch einmal an jener Revolte, um die er sich damals leichtfertig bringen ließ. Die Tragik besteht aber darin, dass der Augenblick, in dem sie möglich war, vorbei ist und sich nicht künstlich wiederherstellen lässt. Es gab nur diesen einen geschichtlichen Moment, aber den ließ man ungenutzt verstreichen. Seither geistert die Revolte als Zombie durchs Land und findet keine Erlösung."
Elet es Irodalom (Ungarn), 29.11.2019

New Yorker (USA), 09.12.2019

Außerdem: Dexter Filkins berichtet über die Spaltung der indischen Gesellschaft unter Narendra Modis Hindu-Nationalisten. Emily Nussbaum begegnet dem Rassismus der Reagan-Ära in Damon Lindelofs HBO-Serie "Watchmen" nach Alan Moores Graphic Novel von 1986. Anthony Lane erzählt die Geschichte des Gin. Calvin Tomkins stellt den Künstler David Hammon vor. Kevin Young liest Ralph Ellison. Hua Hsu hört Dance Music über Dance Music von Burial. Und Anthony Lane sah im Kino Tom Harpers Film "The Aeronauts".
Spex (Deutschland), 27.11.2019
Vor zehn Jahren fühlte der 2017 verstorbene Poptheoretiker Mark Fisher mit seinem Buch "Kapitalistischer Realismus" der allgegenwärtigen Alternativlosigkeit des Kapitalismus kulturkritisch auf den Zahn, Kristoffer Cornils betrachtet im zweigeteilten Spex-Essay (hier der zweite Teil) die Gegenwart mit Fishers Theorien im Hinterkopf: Seit Fishers in der Kulturanschauung gewonnenen Diagnose einer allgemeinen Depression gab es in der Popkultur zwischenzeitig zwar eine Ahnung euphorischer Revolte, doch seitdem hat sich der Typus des Psychopathen in der Bewegtbildproduktion merklich Raum verschafft. Psychopathen "haben sich als treibende Kraft in der kulturellen Verhandlung sozialer Verhältnisse etabliert, wenn nicht sogar als Fetischsubjekte einer Gesellschaft, die sich ihr heißes, triebgesteuertes und emotional doch kaltes Handeln gut und gerne zum Vorbild nehmen könnte. ... Die diskursive Verschiebung deutet zumindest an, dass ein soziales Umdenken im Gange ist. Wie würde etwa 'American Psycho' enden, wenn er heute gedreht würde? Schätzungsweise könnte das entlarvende und allzu billige Ende ('Es war alles nur eine Wahnvorstellung!') wegfallen. Und vermutlich hieße der Film dann auch anders. 'Joker' zum Beispiel. Der schließlich lässt in seiner neuesten Version von Todd Phillips gleich eine ganze Stadt in Flammen aufgehen und grinst dazu. Beruhte der kapitalistische Realismus noch auf der Einsicht, dass dieses System das Geringste aller Übel sei, so hindert das die neuen Psychopath_innen nicht daran, den größtmöglichen Schaden anzurichten. Das ist ein Trend, der kaum mehr mit Fishers ebenfalls anhand von Film und Fernsehen formulierten Thesen zu vereinbaren ist. Denn die Psychos ergeben sich nicht ihrer Ohnmacht vor der Allmacht des Systems, sondern setzen sich mit destruktivem Wahn darüber hinweg."
Außerdem: Diversität ist zum modischen Schlagwort für neoliberale Kosmetik geworden, eine günstige Strategie für große Unternehmen, sich selbst in ein gutes Licht zu stellen, meint Neneh Sowe im großen Kommentar. Und: "Diversität markiert bestimmte Gruppen immer als 'anders', egal ob positiv oder negativ, da sie immer von einer Norm ausgeht. ... Schwarze Menschen, PoC und andere marginalisierte Personen werden nur zum Zweck des Selbstmarketings eingestellt und gefördert, nicht etwa aus der Einsicht, dass verschiedene Blickwinkel wichtig und relevant für gesellschaftliche Gerechtigkeit sind. Warum sich ernsthaft mit Rassismus auseinandersetzen?"
Novinky.cz (Tschechien), 26.11.2019

London Review of Books (UK), 05.12.2019

Weiteres: Patricia Lockwood verbeugt sich vor der irischen Schriftstellerin Edna O'Brien, die ihren neuesten Roman aus der Perspektive eines von Boko Haram entführten nigerianischen Mädchen erzählt. Joanna Biggs schreibt über Ben Lerners Roman "The Topeka School"
En attendant Nadeau (Frankreich), 27.11.2019

HVG (Ungarn), 25.11.2019

New York Times (USA), 01.12.2019

In der aktuellen Ausgabe des Magazins berichtet Gideon Lewis-Kraus von Michael Apteds 1964 begonnener Langzeitdokuserie "Up", die demnächst zuende geht. Apted begleitete vierzehn Menschen aus unterschiedlichen sozio-ökonomischen Verhältnissen von ihrem 7. bis zu ihrem 63. Lebensjahr: "Mit Kindern zusammen zu sein heißt, einen bangen Frieden auszuhalten zwischen der Möglichkeit der Gegenwart und der Unausweichlichkeit der Zukunft. Unsere größte Hoffnung für unsere Kinder ist, dass sie die Freiheiten eines offenen Schicksals genießen und ihre Wünsche frei entfalten dürfen, dass die Umstände ihrer Geburt und Erziehung sich als Chancen erweisen, nicht als Last. Unsere größte Angst ist, dass ihnen Kräfte den Weg versperren, gegen die sie machtlos sind. Zugleich können wir nicht aufhören, in ihren Gesichtern und Gesten nach Hinweisen auf ihre Zukunft zu suchen, ihren Charakter, ihre Geschichte, ihr Schicksal. Und was wir für die Kinder in unserer Mitte in die Zukunft projizieren, kann kaum je getrennt erscheinen von dem, was wir, uns selbst betreffend, in die Vergangenheit projizieren. Das sind die Spannungen, die 'Up' auf dem Weg zu längsten Doku der Filmgeschichte belebt und geformt haben. Im ersten Teil der Serie erinnert der Erzähler den Zuschauer daran, 'dass der Betriebsrat und der Vorstand des Jahres 2000 jetzt gerade sieben Jahre alt sind', während die Kinder vor unseren Augen in körnigem Schwarzweiß Fangen spielen. 'Dies', so schließt die Episode, 'war ein Ausblick auf die Zukunft Großbritanniens.'"
Außerdem: Jamie Lauren Keiles befragt den Komiker Adam Sandler zu seiner ernsthaftesten Rolle. David Marchese interviewt Pete Townshend zum Vermächtnis des Rock 'n' Roll. Und Peter C. Baker denkt über schlafende Tesla-Fahrer im Autopilot-Modus nach.