Magazinrundschau

In der peripheren Pfütze

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.03.2015. Al Ahram stellt erste Pläne für die neue Hauptstadt Ägyptens vor. Im Guardian ahnt David Graeber, warum wir immer noch arbeiten müssen: Um die verdammten Hippies unter Kontrolle zu halten. In Ceska pozice erklärt der der tschechische Philosoph Václav Bělohradský, warum man mit Populisten reden muss. Im Espresso stellt Roberto Saviano den salvadorianischen Autor Oscar Martinez vor. Der Rolling Stone schickt eine Reportage aus dem Irak, Longreads fährt durch Spitzbergen und Guernica erzählt vom Leben einer berufstätigen Frau in Teheran.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 19.03.2015

Die Regierung in Kairo will eine neue Hauptstadt bauen, weil das alte Kairo langsam aus allen Nähten platzt. Niveen Wahish hat schon einige Informationen über das Projekt zusammengetragen: "Die neue Hauptstadt soll 700 Quadratkilometer östlich von Kairo einnehmen, an einem zentralen Punkt zwischen Groß-Kairo und dem Roten Meer, und sie soll fünf Millionen Menschen beherbergen. Allein die erste Phase wird 45 Milliarden Dollar kosten. ... Die zukünftige Stadt soll nicht nur Verwaltungs- und Geschäftsgebäude beherbergen, sondern auch einen Flughafen, einen Themenpark, der viermal so groß wie Disneyland in Kalifornien sein soll, und einen Touristenturm. Außerdem 1,1 Millionen Wohneinheiten und 40.000 Hotelzimmer."

Amira Howeidy denkt darüber nach, was die beiden Städte, die alte, die nach europäischem Vorbild gebaut wurde, und die neue Hauptstadt, wohl unterscheiden wird: "Ob diese neue Hauptstadt nun gebaut wird oder nicht, klar ist, dass Dubai City heute der Maßstab für Modernität und Geschmack ist. "Realität zwingt sich von selbst auf und die Geschmäcker haben sich geändert", sagt Ahmad Al-Bindari, ein Architekturhistoriker und Fotograf. "Downtown Kairo hat seine besten Jahre hinter sich und Shopping Malls wie in den Golfstaaten sind populär. Es gibt also ein Bedürfnis danach, auch wenn nur ein Teil der Ägypter dieses Bedürfnis befriedigen kann." Die Frage ist, fügt er hinzu, braucht Kairo wirklich den größten Wolkenkratzer in der Wüste und das größte Disneyland?"

Außerdem: Nehad Selaiha berichtet vom 13. Festival des Jeunes Createurs in Kairo.
Archiv: Al Ahram Weekly

Guardian (UK), 21.03.2015

1960 waren die meisten Menschen überzeugt, dass wir bis zum Jahr 2000 nicht mehr arbeiten müssten, den Mars besiedelt und den Krebs bekämpft hätten. Aber von wegen! Der Anarcho-Anthropologe David Graeber hat herausgefunden, was schiefgelaufen ist, und er verrät es Stuart Jeffries sogar: "Was geschah zwischen Apollo-Mondlandung und heute? Grabers Theorie zufolge kam in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren eine große Angst auf, die Angst vor einer Gesellschaft prolliger Hippies mit viel zu viel Freizeit. "Bei dem Gedanken, dass die Roboter die Arbeiter ersetzen könnten, flippte die herrschende Klasse aus. Die dachten wohl: Mein Gott, mit den Hippies ist es ja jetzt schon schlimm, aber stellt euch nur vor, die ganze Arbeiterklasse hat keine Beschäftigung mehr! Man kann nicht sagen, wie bewusst das alles ablief, es wurden aber in der Forschung Entscheidungen getroffen zu Prioritäten gesetzt." Zum Beispiel in der Medizin und Biowissenschaft: "Krebs? Ist immer noch da." Dagegen gab es die dramatischsten Durchbrüche mit Medikamenten wie Ritalin, Zoloft und Prozac - und die sind, wie Graeber schreibt, "alle maßgefertigt, damit uns der neue Druck nicht ganz, also nicht dysfunktional, in den Wahnsinn treibt"."

George Benjamin gratuliert seinem Komponistenkollegen Pierre Boulez zum neunzigsten Geburtstag und sieht dessen Bedeutung gerade auch in seinem schmalen Oeuvre: "Ich nehme an, dass er nicht gerade ein leichtes Verhältnis zu seiner Muse pflegt. Er ist ein Mann mit einem ungeheuer feinsinnigen und kritischen Geist. Seine Intelligenz ist so extrem und fordernd, sein Gehörsinn so sensibel und genau, dass das Komponieren für ihn stets eine anstrengende Erfahrung sein musste. Die Welt heute braucht aber auch keine große Zahl an Stücken mehr, wie sie sie sagen wir zu Haydns Zeit brauchte. Was wir brauchen, sind wesentliche Aussagen, singuläre und einzigartige Arbeiten. Und für die hat er ohne jede Frage gesorgt."

Hier seine Mallarmé-Komposition "Pli selon Pli":

Archiv: Guardian

Ceska pozice (Tschechien), 22.03.2015

Einigen Unmut erregte der tschechische Philosoph und Soziologe Václav Bělohradský bei den Intellektuellen des Landes, als er kürzlich auf dem Parteitag der Bewegung ANO des Oligarchen Andrej Babiš als Redner auftrat. Im Gespräch mit Petr Kamberský verteidigt er seine Haltung: "Ich praktiziere politische Philosophie als Dialog mit der Macht, nicht mit der Ohnmacht. Politische Philosophie, die konsequent als Dialog mit der Ohmacht begriffen wird, ist Revolutionsphilosophie. (…) Aber ich führe den Dialog mit der Macht, wirke absichtlich in ihrem Schatten. Meiner Überzeugung nach ist die Demokratie ein System, in dem jede Form der Macht eine potentiell positive, kreative Kraft ist." Als politische Bewegung fange ANO die naive antipolitische Wut der Tschechen ein, "doch vielleicht kann sie ihr eine politische Richtung geben und sie in politische Energie verwandeln. (…) Ich nehme das Wort Populismus nicht nur negativ wahr, es ist auch eine Innovation der Demokratie. Der Philosoph und Dissident Daniel Kroupa interpretiert "Populismus" als Nutzung von Massenvorurteilen zur Erreichung eines politischen Konsenses. Ich glaube, auch das ist Populismus, aber nicht nur. Ich glaube, was Populismus charakterisiert, ist das Überspringen gewohnter Kommunikationsmodelle, des strukturierten Informationsflusses, der Verhandlungshierarchien, der Bürokratie und so weiter. Natürlich gefährdet das auch die Machtteilung, aber gleichzeitig setzt es eine große positive Energie frei."
Archiv: Ceska pozice

Rolling Stone (USA), 13.03.2015

Matthieu Aikins schildert in einem unglaublichen, bitteren Reportage die verfahrene Lage im Irak und den nahezu aussichtslosen Kampf gegen den IS. Die irakische Armee ist zusammengebrochen, der Staat zerfällt unter den Händen sektiererischer Mullahs und korrupter Politiker: "Der Irak ist zu einem Milizenstaat geworden, die Militäroperationen führen häufig dieselben vom Iran unterstützten Kommandeure durch, die gerade noch gegen das amerikanische Militär kämpften. Und während die Milizen im Kampf gegen IS durchaus Erfolge vorweisen können, haben sie auch die konfessionelle Natur des Konflikts verstärkt, womit die Aussichten auf eine Versöhnung zwischen Sunniten und Schiiten in weitere Ferne rücken." Zunehmend fallen den Milizen auch amerikanische Waffen in die Hände: "Beabsichtigt oder nicht, wenn die amerikanische Regierung die paramilitärischen Gruppen unterstützen, deren Exzesse schon an die schlimmsten Vorfälle im Jahr 2006 heranreichen, riskiert sie, eben jene Gewalt und Korruption weiter zu verbreiten, die im vorigen Jahr den IS erst hat groß werden lassen."
Archiv: Rolling Stone

El Pais (Spanien), 20.03.2015

Wenn Zahlen sprechen könnten. Alejandro Bolaños informiert über neueste Entwicklungen in Spanien: "Die Investitionen ausländischer Unternehmen in spanische Firmen ist 2014 um 9,8 Prozent auf 17 Milliarden 626 Millionen Euro gestiegen, ein Anstieg, der sich vor allem dem gewachsenen Appetit amerikanischer Unternehmen verdankt, in Spanien Firmen zu erwerben, zu verstärken oder zu gründen. Nach Angaben des spanischen Wirtschaftsministeriums haben in den USA ansässige Firmen am meisten investiert (3 Milliarden 516 Millionen), gefolgt von Luxemburg (2 Milliarden 489 Millionen) und Großbritannien (1 Milliarde 667 Millionen). Deutschland investierte im selben Zeitraum 391 Millionen. "Man darf Investitionen nicht wegen ihres Ursprungs stigmatisieren. Luxemburg wird nicht als Steuerparadies angesehen, und Investitionen innerhalb der Europäischen Union lassen sich nicht begrenzen“, unterstrich der zuständige Staatssekretär bei der Frage nach den Investitionen aus Luxemburg, wo Unternehmen aus ganz Europa wegen der entgegenkommenden Haltung der Steuerbehörden ihren Sitz haben."
Archiv: El Pais

New Yorker (USA), 30.03.2015

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker besucht Judith Thurman Menschen, deren Muttersprache ausstirbt. Sie sind die Letzten, die diese Sprache sprechen: "Am Ende dieses Jahrhunderts werden ca. 50 Prozent aller Sprachen auf der Erde nur noch in Archiven existieren. Laut "Catalogue of Endangered Languages (ELCat)", einer Initiative von Linguisten der Universitäten Hawaii, Manoa und Eastern Michigan, sind seit 1960 an die 30 Sprachfamilien verschwunden, durchschnittlich macht das eine ausgelöschte Sprache alle vier Monate. Die Muttersprache von mehr als drei Milliarden Menschen gehört zu einer der folgenden 20, in der Reihenfolge ihres Vorkommens: Mandarin, Spanisch, Englisch, Hindi, Arabisch, Portugiesisch, Bengali, Russisch, Japanisch, Javanesisch, Deutsch. Wu Chinesisch, Koreanisch, Französisch, Telugu, Marathi, Türkisch, Tamilisch, Vietnamesisch und Urdu. Englisch ist die Lingua franca des Digitalzeitalters, und diejenigen, die sie als zweite Sprache sprechen, übertreffen ihre Muttersprachler um hunderte Millionen. Überall auf der Welt geben Menschen ihre angestammte Sprache zugunsten der dominanten Sprache der Bevölkerungsmehrheit auf. Eine Assimilation, die viele Vorteile bringt, da das Internet sich ausbreitet und die Jugend vom Land in die Städte zieht. Aber der Verlust einer über Jahrhunderte gewachsenen Sprache und ihrer einzigartigen Kosmologie könnte Konsequenzen haben, die wir nicht erkennen, bis es zu spät ist."

Außerdem: Das Leben als endlose Folge von jump cuts - Daniel Zalewski porträtiert die unter Amnesie leidende Künstlerin Lonni Sue Johnson. Und Seymour M. Hersh erinnert an das Massaker der US-Truppen im vietnamesischen My Lai, dessen Umstände ihn seit 1971 nicht loslassen.
Archiv: New Yorker

Eurozine (Österreich), 20.03.2015

Almir Koldzic und Áine O"Brien schreiben in der neuesten Nummer von Index on Censorship, online auf Eurozine, über Medienprojekte in Flüchtlingslagern, die immer wichtiger werden, um Flüchtlingen selbst Medien zu geben und die internationale Öffentlichkeit wach zu halten: "Mehr als 50 Millionen Menschen sind heute laut UNHCR auf der Flucht. Aber wenige Medienbilder zeigen die Details und täglichen Herausforderungen eines Lebens im Flüchtlingscamp. Darum gibt es immer mehr Versuche von Flüchtlingsorganisationen, Flüchtlingsgeschichten zu erzählen und ihre Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Wie der britische Autor AA Gill sagt, der für seine Artikel aus Lagern ausgezeichnet wurde: "Heiß ist immer nur die Geschichte der Konflikte selbst, aber der komplexe, gnadenlose Kopfschmerz, den diese nicht gewollten, deplazierten, verarmten Leute bereiten, hat nicht die Dynamik globaler Politik und den Glamour von Rauch und Leichen und Kalaschnikows.""
Archiv: Eurozine

Pitchfork (USA), 19.03.2015

Das "Blurred Lines"-Urteil, das Pharrell Williams und Robin Thicke schuldig befand, einen Song von Marvin Gaye plagiiert zu haben, und die Musiker um 7,4 Millionen Dollar erleichterte, hat in der Musikwelt gehörige Wellen geschlagen. Damon Krukowski von der Band Galaxie 500 teilt zwar die Auffasung des Gerichts, hält die Strafe in ihrer Höhe aber für völlig unangemessen: Er fordert eine Gesetzesnovelle, die den kreativen Gebrauch von urheberrechtlich relevantem Material ähnlich moderat und fair regelt wie das bereits bei Coverversionen der Fall ist, für die es keine eigens angeforerte Genehmigung bedarf, solange der Urheber nach Tarifvorgaben am Umsatz beteiligt wird. Krukowski erhofft sich davon auch eine neue Freisetzung von Kreativkräften: "Als sich Sampling zum ersten Mal durchsetzte, wurden die gesampleten Künstler nicht bezahlt, genau wie zuvor die Hersteller von Pianolas im frühen 20. Jahrhundert die Komponisten der gespielten Werke nicht bezahlt haben. Doch als die Gerichte darum gebeten wurden, Sampling rechtlich zu regeln, sprachen sie sich zugunsten der Urheberrechtsinhaber statt der Innovateure aus. Fälle wie das 1991 gefällte Urteil gegen Biz Markie beendeten die Ära des entfesselten Samplings mit einem Schlag und machten es damit im weiteren nahezu unmöglich, mit Samples gespickte Alben wie Public Enemys "It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back" oder "Paul"s Boutique" der Beastie Boys zu produzieren."
Archiv: Pitchfork

Espresso (Italien), 19.03.2015

Ein Tipp für deutsche Verleger. Roberto Saviano stellt in seiner neuesten Kolumne den in Deutschland noch unbekannten salvadorianischen Autor Oscar Martinez vor, dessen Buch "Los migrantes que no importan" (englisch "The Beast", Auszug) die Hölle der mexikanisch-amerikanischen Grenze und der Migration Jugendlicher aus Honduras und El Salvador erzählt. Nebenbei aber, so Saviano, ist Martinez ein großer Autor und repräsentiert eine neue Tendenz der lateinamerikanischen Literatur, die literarische Reportage: "Chronik und Erzählung reichen nicht mehr aus: Es geht darum, Fakten aufzuzeigen und sie mit erzählerischen Mitteln anzuprangern. Als ich ihn fragte, wer seine literarischen Vorbilder seien, nannte er den argentinischen Journalisten Rodolfo Walsh und die mexikanische Autorin Marcela Turati. Die lateinamerikanische Literaturtradition wird nicht mit Verachtung gesehen, sondern als etwas, das den eigenen Weg gar nicht berührt. Der magische Realismus gilt nicht mehr. Es geht nicht mehr darum, die Realität zu verzerren, sondern die Verzerrungen der Realität darzustellen." Hier eine Besprechung von Martinez" Buch aus den Letras Libres von 2013, und hier ein Interview mit dem Autor in npr.org.
Archiv: Espresso

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.03.2015

Im Hotel Astoria erinnerte der Schriftsteller Lajos Parti Nagy in einer Rede zum diesjährigen Nationalfeiertag am 15. März an die Revolution und den Freiheitskampf der Ungarn gegen die Habsburger 1848-49 bis zur heutigen Situation: "Wenn unsere Heimat es nicht schafft, zu den europäischen Gesellschaften zurückzufinden, die nicht zulassen, dass ein Drittel den Hungertod stirbt, die nicht zulassen, dass ihre Kinder vertrieben oder zu Untertanen verdummt werden, die nicht bereit sind, Angst zu haben und auch nicht zulassen, dass ihre Landsleute Angst haben, dann werden wir in der Tat in der peripheren Pfütze stecken bleiben und Ungarn wird in der Tat zur glorreichen "Kabineufoire" der Gutsherren. Das wird nicht einmal mehr tragikomisch sein, nur tragisch. Doch auch wenn ich mir das gut vorstellen kann, bin ich nicht bereit, dies auch zu akzeptieren."
Stichwörter: Ungarn, Parti Nagy, Lajos, 1848

Film Comment (USA), 13.03.2015

Schön blöd, wie untätig die großen Hollywoodstudios auf die Zeitenwende durch die Digitalisierung reagieren, meint Roger Smith in einer zornigen Abrechnung: Während die Zeichen der Zeit ganz offenkundig seit geraumer Zeit auf Streaming stehen, versuchen sie, mit der bis heute nicht befriedigend durchgesetzten Blu-Ray eine Wiederholung der Erfolgsgeschichte der DVD zu lancieren, deren beträchtliche Profite überhaupt erst die heutigen Mega-Budgets der Blockbuster ermöglicht haben. Dabei bricht dieser Markt seit Jahren weg, schreibt Smith. Das wird Folgen für die Arthouse-Filme haben, die Hollywood immer noch produziert, fürchtet er: "Die enormen Mengen von Ausschussware, die zahlreichen negativen Trends und die offenkundige Hilflosigkeit der Chefetagen in den Studios werden ihren übergeordneten Firmen schon in absehbarer Zeit ernsthafte Probleme bereiten. Wenn dies eintritt, werden die ersten Opfer nicht die Großproduktionen sein, sondern die "kleinen" Filme - da bin ich mir sicher. Weiterhin vermute ich, dass die jetzige Generation von Studiochefs in zehn Jahren oder etwas später ähnlich eingeschätzt werden wird, wie die Mogule der 50er und 60er Jahre von den Filmemachern und Produzenten der 70er - Dinosaurier, die sich nicht vorstellen konnten, dass ihr Way of Life kurz davor stand, weggefegt zu werden."
Archiv: Film Comment

Aeon (UK), 13.03.2015

Wie kommen Menschen auf der Basis derselben Informationen zu völlig verschiedenen Überzeugungen? Weshalb hängen Menschen Verschwörungstheorien an, die längst durch Gegenbeweise widerlegt sind? Kurz: Warum glauben wir, was wir glauben? Es ist unser jeweiliger intellektueller Charakter, der bestimmt, was wir aus Informationen machen, meint der britische Philosoph Quassim Cassam. Dass wir uns vieler dieser Charakterzüge nicht bewusst sind, liegt in der Natur der Sache: "Die Gutgläubigen halten sich selten für gutgläubig, und die Engstirnigen finden sich nicht engstirnig. Die einzige Hoffnung, die wir haben, in solchen Fällen unsere Selbstignoranz zu überwinden, ist die Einsicht, dass andere Menschen - Kollegen, Partner, Freunde - unseren intellektuellen Charakter vermutlich besser kennen als wir. Doch auch das hilft nicht immer. Schließlich könnte es sein, dass es einer unserer intellektuellen Charakterzüge ist, nicht auf andere Menschen zu hören. Manche Defekte sind eben unheilbar."
Archiv: Aeon

Guernica (USA), 16.03.2015

Die iranische Journalistin Habibe Jafarian schildert eindrücklich, was es bedeutet, als berufstätige Frau in Teheran zu leben, und erklärt, warum sie trotz allem nicht wie die meisten ihrer Freunde das Land verlassen will: "Ich bleibe, weil ich, wie meine Mutter immer betonte, meine eigene Frau und mein eigener Mann bin. Nicht nur muss ich mich als alleinstehende Frau Kopf an Kopf mit Männern messen; nicht nur sitze ich manchmal bis nachts um 11 am Schreibtisch um eine Deadline einzuhalten; nicht nur werde ich dann auf dem Heimweg verfolgt und angepöbelt, weil eine Frau so spät nicht mehr unterwegs sein sollte...; sondern ich werde auf der anderen Seite des sozialen Spalts auch von meinem eigenen Milieu dafür verurteilt, dass ich überhaupt bleibe, dass ich mir die Mühe mache, den Kampf auszutragen. Denn dies ist ein Kampf. Und wenn Frauen wie ich nicht bleiben, dann wird sich niemals etwas verändern."
Archiv: Guernica
Stichwörter: Iran, Teheran, Schreibtische

Longreads (USA), 24.03.2015

Colin Dickey, im Rahmen des Künstlerprogramms The Arctic Circle unterwegs auf einem Schiff durch die arktische Inselwelt von Spitzbergen, landete bei seinem letzten Halt in einer Geisterstadt: Pyramiden, einst ein sowjetisches Utopia, eine um eine Kohlenmine gebaute Stadt, komplett mit Theater, Bücherei, Kunst- und Musikstudios, einer Sportanlage und einer Kantine, die 24 Stunden am Tag geöffnet war. Profitabel war die Mine jedoch nie. 1998 verließen die letzten rund 300 Einwohner Pyramiden, das inzwischen von den Möwen übernommen wurde, erzählt Dickey in einer sehr schönen Reportage: "Wenn man durch diese Gebäude geht, hat man den Eindruck, ein giftiges Gas sei durch sie hindurch geströmt und habe in Minuten jeden getötet. Es gibt überall Spuren von Leben - Schalen auf Tischen, Filmrollen in der Vorführkabine, verstreute Musikinstrumente - all das neben der unausweichlichen Tatsache des Verfalls und der Verlassenheit. Im Gymnasium lagen Sportgeräte, die nie wieder benutzt würden, Bücher, die nie wieder gelesen würden. Der nördlichste Swimmingpool der Welt ist jetzt leer. Der nördlichste Flügel der Welt ist jetzt schwer verstimmt. Der triumphale Blick der sowjetischen Denkmäler trifft jetzt nur noch auf Leere."
Archiv: Longreads

Wall Street Journal (USA), 20.03.2015

Fünf Dogmen des Islam müssten revidiert werden, um den Islam wirklich zu reformieren, schreibt Ayaan Hirsi Ali in einem Vorabdruck aus ihrem neuen Buch "Heretic: Why Islam Needs a Reformation Now": die Behauptung von Mohammeds halbgöttlichem Status, die wörtliche Lektüre des Koran, die Behauptung der Überlegenheit des Jenseits über das Diesseits, die Scharia, das Recht individueller Muslime, die Befolgung islamischer Gesetze zu erzwingen, und der Imperativ des Heiligen Kriegs. "Mir ist klar, dass diese Argumente vielen Muslimen unbehaglich sind. Manche werden sich durch meine Mahnungen beleidigt fühlen. Andere werden beharren, dass ich nicht qualifiziert sei, diese komplexen theologischen Fragen zu diskutieren. Aber dies ist kein theologisches Buch. Es ist eine Intervention in der Debatte über die Zukunft des Islams. Das größte Hindernis für den Wandel in der muslimischen Welt ist gerade die Unterdrückung jenes kritischen Denkens, das ich hier versuche." Sie betont außerdem, dass sie keine "Islamophobe" sei und beschreibt, wie schwer der Schritt aus der Religion für sie selbst war: "Künftige Generationen von Muslimen brauchen einen sichereren Weg. Sie sollten die Moderne begrüßen können, ohne sich einzuigeln, oder in kognitiver Dissonanz oder gewaltsamer Ablehnung zu leben."

New York Times (USA), 22.03.2015

Im aktuellen Magazin der New York Times schaut Jeneen Interlandi auf unser Empathievermögen, besucht Neurowissenschaftler in aller Welt und fragt: Gibt es so etwas wie ein Empathiezentrum im Gehirn und lässt es sich beeinflussen? "Unsere Fähigkeit, uns mit anderen Gedanken und Gefühlen zu identifizieren, ist mit einer Handvoll untereinander verbundener Hirnregionen assoziiert, das sogenannte "theory of Mind"-Netzwerk. Bestimmte Aufgaben, wie die mentale Verfassung anderer erkennen oder moralische Urteile über ihre Taten fällen, können wir bestimmten Teilen dieses Netzwerkes zuordnen. Doch das Bild bleibt unvollständig. Wo sind die Fähigkeiten zur Beurteilung vernünftiger Argumente und zum Nachempfinden mit Gefühlszuständen lokalisiert? Und wie wird aus solchen neuralen Verschaltungen Verhalten? Wie kommt es, dass Verständnis von Gefühl nicht zwangsläufig auch zu Mitgefühl wird? Wieso ist Empathie zwischen verschiedenen Gruppierungen ungleich schwieriger? … Eine Studie von 2012 offenbarte, dass Araber und Israelis die gleiche Neuroaktivität zeigten, gleich ob sie über die Leiden von ihresgleichen oder das der anderen Gruppierung lasen. Wenn sie jedoch über das Leid von Südamerikanern lasen, einer Gruppierung also, mit der sie nicht im Konflikt standen, war ihre Neuroaktivität geringer. Was das Gehirn betrifft, dürfte das Gegenteil von Liebe nicht Hass sein, sondern Gleichgültigkeit."

Außerdem: Rachel Cusk teilt ihre Erfahrungen als Mutter von Teenagern. Und Joe Rhodes hört Alabama Shakes aus Athens, Alabama - groovy!
Archiv: New York Times