Magazinrundschau - Archiv

Guernica

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Magazinrundschau vom 19.12.2023 - Guernica

Unter dem donnerndem Applaus der Bevölkerung zogen im Jahr 2021 Containerschiffe in den Hafen der kenianischen Stadt Lamu ein, erinnern April Zhu and Theo Aalders. Der Hafen ist, wie die sogenannte Lamu-Garissa-Straße, Teil des gigantomanen Lamu Port-South Sudan-Ethiopia Transport Corridor (LAPSSET) "der nach den Worten der LAPSSET-Behörden 'das erste gigantische, integrierte, transformative und wegweisende Infrastrukturprojekt' in Kenia ist. Die Ortsnamen in der Abkürzung stehen für das Versprechen von Reichtum: Das Projekt soll die Ölfelder im Südsudan und in Turkana im Norden Kenias durch ein Netz von Autobahnen, Eisenbahnen und Pipelines mit dem Hafen von Lamu verbinden", schreiben Zhu und Alders. Nur - seit 2021 sind kaum mehr Schiffe in den Hafen von Lamu gelaufen, der Bau der Lamu-Garissa-Road steht still. Es gibt viele innenpolitische Gründe für das schleppende Vorangehen des Projekts, aber der größte ist die Unsicherheit - seit Jahren häufen sich furchtbare Angriffe der radikalislamischen Miliz Al-Shabaab, so die Journalisten, dabei war "Sicherheit" eines der Hauptversprechen der kenianischen Behörden: "Die peinliche Verzögerung bei der Entwicklung des Projekts - eine Peinlichkeit, die durch die ständigen Beteuerungen der Regierung und der LAPSSET-Beamten, dass die Unsicherheit kein Problem mehr sei, noch verstärkt wird - stellt das gesamte Projekt in Frage. In der Zwischenzeit sind die LAPSSET-Infrastruktur selbst und die Arbeiter, die sie bauen, zunehmend zu Opfern geworden. Im März 2022 stürmten militante Al-Shabaab-Kämpfer mit schwarzen Fahnen ein Camp der CCCC (China Communications Construction Company, die den Hafen von Lamu erweitert), wie ein Video zeigt, das mit einer GoPro-ähnlichen Kamera aufgenommen wurde. Auf den Aufnahmen zwingen sie die CCCC-Mitarbeiter, den Koran zu rezitieren. Diejenigen, die das nicht können, bekommen ein rotes Etikett mit der Aufschrift 'Kaafir' (Ungläubiger) digital über den Kopf geklebt, wie in einem Videospiel, und werden auf der Stelle hingerichtet. Mindestens vier Arbeiter wurden getötet. Nach Angaben von Kalume Kazungu, einem Reporter der kenianischen Tageszeitung Daily Nation, der größten Zeitung des Landes, wurden zwei chinesische Vorarbeiter entführt und später wieder freigelassen, einer davon mit abgehackten Händen. Vier Monate später versuchte ein weiterer Zeitungsartikel zu erklären, 'warum al-Shabaab keine Bedrohung mehr für den LAPSSET-Korridor darstellt'. Doch am 28. Dezember 2022 überfielen al-Shabaab-Kämpfer Reisende auf einer anderen Straße etwa fünfzig Meilen vom Hafen entfernt und töteten zwei von ihnen. Zwei Tage später detonierte ein Sprengsatz auf einer anderen Straße in der Nähe, alle vier Insassen starben, nur der verkohlte Toyota Hilux wurde gefunden. Eine Woche später, am 17. Januar, griffen bewaffnete Al-Shabaab-Kämpfer einen weiteren Baukonvoi an und töteten einen Menschen und verletzten fünf. Die Medienberichte über diese Anschläge haben einen merkwürdigen Ton: In keinem der Berichte werden die Namen der kenianischen Arbeiter genannt, die bei der Arbeit ums Leben kamen, aber einige beschreiben die zerstörten Fahrzeuge. In Verbindung mit den Verlautbarungen über die anhaltende Bedeutung des Projekts für die Regierung entsteht der Eindruck, dass die Lamu-Garissa-Straße mehr ist als nur ein Zeuge und ein Tatort. Die Straße fühlt sich wie ein Opfer an, das um jeden Preis geschützt werden muss."

Magazinrundschau vom 15.08.2023 - Guernica

Josh Kline, "Productivity Gains", 2016. (Brandon/Buchhalter) © Josh Kline. Photograph by Joerg Lohse; image courtesy the artist and 47 Canal, New York.

Der Künstler Josh Kline will Kunst nicht für die intellektuelle Elite machen, sondern für alle, vor allem für die, die der amerikanische Traum im Stich gelassen hat, erfährt Mengyin Lin im Interview mit Kline. In seiner Ausstellung "Project for a New American Century" im Whitney Museum integriert er die Körper und Gesichter derer, die in Ausstellungräumen meistens nicht vertreten sind: Fed-Ex Lieferanten, Kellner, Arbeitslose. Und das nicht nur theoretisch: Mit Hilfe von 3D-Technik kreiert Kline lebensechte Klone seiner Probanden. Mit seinen Modellen steht Kline in engem Kontakt, lädt sie zu seinen Ausstellungen ein und zeigt Videos ihrer Lebensgeschichten. Warum aber stellt er ihre Abbilder in Konstellationen aus, "die deren Menschlichkeit verfremden", will Lin wissen, man sieht "abgetrennte Gliedmaßen in einem Einkaufswagen, einen menschlichen Körper in einem verschnürten Recycling-Sack auf dem Boden". Das macht der Kapitalismus aus den Menschen und ihrer Arbeit, antwortet Kline: "Die Porträts von Menschen in den Recyclingsäcken - diese Arbeiten sind ein Weg, um zu veranschaulichen, wie sie zu einem Abfallprodukt in unserem Wirtschaftssystem werden. Ich komme auf diesen Begriff aus der Wirtschaftswissenschaft zurück: 'Humankapital'. Was bedeutet es, wenn Menschen als Kapital und nicht als menschliche Wesen behandelt werden? Es bedeutet, dass sie verbraucht und dann weggeworfen werden können. … Wenn Sie bei Applebee's kellnern oder Pakete für FedEx ausliefern, nehmen Sie eine Identität an, wenn Sie diese Uniformen tragen. Die Leute behandeln dich wie ein Produkt und nicht wie eine Person. Ich wollte einen Weg finden, diese Realität visuell darzustellen, damit sie beim Betrachter hängen bleibt."

Magazinrundschau vom 14.02.2023 - Guernica



Die Künstlerin und Architektin Cheryl Wing-Zi Wong hat eine Skulptur, "Current", neben dem Fuß- und Fahrradweg auf der erneuerten Tappan Zee Bridge über den Hudson River errichtet. Sie besteht aus zwölf Stahlbögen mit Glasflossen an den Spitzen der Bögen und LED-Leuchten an der Innenseite jedes Bogens. Denn, das ist das Wichtigste, "Current" ist eine interaktive, sich ständig ändernde Skulptur, so Wong im Gespräch mit Hua Xi, die gemeinsame Erfahrungen schaffen soll: "Tagsüber spiegelt sich das Sonnenlicht auf der Skulptur und in den zweifarbigen Glaslamellen, die je nach Tageszeit unterschiedliche Farben erzeugen. Auch die Schatten der Bögen, die auf dem Platz um die Skulptur herum tanzen, sorgen für Veränderungen. In der Dämmerung gehen die eingelassenen Lichter an und Lichtanimationen reagieren auf Bewegungen auf den Wegen, als würden die Vorbeigehenden auf den Tasten eines Klaviers spielen. Im Laufe der Jahres- und Tageszeiten ändert sich das immer wieder. ... 'Current' ist immer im Fluss, was besonders in den verschiedenen Jahreszeiten deutlich wird. Die Reaktionen können unvorhersehbar sein, besonders tagsüber, je nachdem, wo man steht und von wo aus man das Werk betrachtet. In jedem Augenblick, Sekunde für Sekunde, selbst wenn man nur einen Schritt nach links oder rechts macht, gibt es Nuancen."

Beim Einstellen des ersten Absatzes ist uns zufällig aufgefallen, dass in unserem Redaktionssystem noch ein Absatz zu Guernica vom Mai 2018  schlummert, den wir versehentlich nie veröffentlicht haben. Aber das Thema - Armut und Klassengesellschaft - ist noch so aktuell wie damals, darum veröffentlichen wir ihn eben heute: Auch mit sechzig Jahren ist Dorothy Allison so kampfeslustig und nonkonformistisch wie eh und je, freut sich Amy Wright, beim Schreib-Workshop an der Uni in Tennessee lautet die erste Aufgabe gleich: "Schreiben Sie etwas Unangebrachtes." Doch im Interview spricht Allison vor allem über die in den USA stets geleugnete Klassenstruktur, über Armut und Beschämung: "Kennen sie die berühmten Bilder aus dem Süden, auf denen Kinder mit schmutzigen Gesichtern stehen, alle mit dem Finger im Mund? Die reden nicht, weil sie nicht wissen, was sie sagen dürfen oder wie sie sich benehmen sollen. Wer arm ist, weiß immer, dass er als Person nicht so wertvoll ist wie jemand, der leicht und ungezwungen reden kann. Der Begriff der Klasse ist eigentlich ein Mittel zu Empowerment. Als ich marxistische Theorie las, war es, als hätte mir jemand eine Schaufel gereicht. Man konnte etwas tun. Man konnte sich aus dem Loch herausgraben. Man konnte sich verteidigen, denn nicht so wichtig zu sein wie andere, heißt, ständig in Gefahr zu sein. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin in einer gewalttätigen Arbeiterfamilie in den Südstaaten aufgewachsen. Kaum jemand war auf der High School. Als ich meinen Abschluss machte, galt ich als Freak. Für all meine Cousins stand fest, dass sie entweder Mechaniker werden oder zur Armee gehen. Mehr gab's nicht, außer noch die dritte Option, die den meisten dann auch widerfuhr, und das war der Knast."

Magazinrundschau vom 27.09.2022 - Guernica

Hua Xi unterhält sich für Guernica mit der afghanisch-kanadischen Künstlerin Hangama Amiri über deren sehr schöne, collagenhafte Wandteppiche, die von ihren Erinnerungen an Afghanistan erzählen. Einen Eindruck bekommt man auf der Webseite der römischen Galerie t293, die Ausstellung dort "basiert darauf, dass ich in der Umgebung eines Basars aufgewachsen bin. Als ich in Afghanistan war - zwischen 1994 und 1996, bevor die Taliban kamen - lebten wir in einem sehr kleinen Viertel in Kabul, dem Macroyan Kohna. Es bestand aus diesen von den Russen errichteten Gebäudekomplexen, in denen Familien der Mittelschicht lebten, und diese Gemeinden hatten auch kleine Märkte und Basare. Als ich aufwuchs, gingen wir oft auf den Basar, und die Erinnerung an die Läden und die Stoffe war meine erste Inspiration. Einer meiner Onkel war Schneider, und ich besuchte sein Geschäft immer morgens vor der Schule. In seinem Laden konnte ich sehen, wie die Leute arbeiteten: die Scheren, all die schönen Baumwollstoffe, die er von Nachbarn oder Kunden erhielt. Diese Idee der Gemeinschaft, die durch den Basar, durch Nachbarschaft entsteht, hat mich beeinflusst."

Wie Amiri arbeitet, kann man noch besser in diesem Youtube-Video sehen:

Magazinrundschau vom 11.01.2022 - Guernica

Fast jede Kultur hat Vorstellungen von Unreinheit. Die indische Autorin Shilpi Suneja erzählt in Guernica, wie sie erstmals damit konfrontiert wurde: Als sie ihre Regel bekam, auf einer Zugfahrt der Familie zur Großmutter, Dadi genannt. Dort angekommen, musste sie ihre Kleidung auswaschen und wurde in ein Gästezimmer eingesperrt. "Meine Großmutter, so verstehe ich heute, bewältigte mein Erwachsenwerden auf die gleiche Weise wie ihre Mutter, indem sie sich der Mythologie zuwandte. Ihre religiösen Texte sagten ihr, dass die Menstruation eine Strafe sei, und zwar eine Strafe für ein Verbrechen, das Frauen nicht einmal begangen hatten. Der Gott Indra hatte einen Brahmanen getötet, die schwerste aller Sünden, und er beschloss, seine Schuld mit dem Land, dem Wasser, den Bäumen und den Frauen zu teilen. Das Land wurde mit Wüsten und unfruchtbarem Boden verflucht, auf dem nichts wächst, das Wasser mit unangenehmen Blasen und Schaum, die Bäume mit Saft und Gummi, die nicht gegessen werden können, und die Frauen mit der Periode, die Schmerzen, Leiden und Stigmatisierung verursacht. In der hinduistischen Mythologie wurden die Frauen mit der Natur in Verbindung gebracht; wir wurden als elementar, gewaltig, fähig zur Schöpfung und Zerstörung, unberechenbar und unzähmbar bezeichnet. Während die christliche Ideologie davon ausgeht, dass die Frau dem Mann untergeordnet ist, werden wir in den alten indischen Texten als gleichwertig oder sogar als mächtiger als der Mann angesehen. Aber weil sie uns für fähig halten, listig zu sein, billigen sie auch die Notwendigkeit, uns zu bestrafen. Im Rigveda, dem ältesten vedischen Text, werden wir mit den 'Analphabeten der unteren Kaste' und den Tieren in einen Topf geworfen, die alle hin und wieder eine Tracht Prügel benötigen. Und das monatliche Bluten, zusammen mit körperlichen Schmerzen, Gefangenschaft, Demütigung und der Assoziation mit Schmutz und Unglück, fungiert als Schallschlag des Universums. Wenn diese Schande für unsere leiblichen Familien zu viel ist, empfiehlt das berüchtigte Manusmriti, das als erster Rechtstext des Hinduismus gilt, uns zu verheiraten, bevor wir zu menstruieren beginnen. Das ist die Geburtsstunde der Kinderehe."
Stichwörter: Unreinheit, Menstruation, Guernica

Magazinrundschau vom 01.12.2020 - Guernica

In einem Beitrag des Magazins erinnert Leah Hampton am Beispiel der Appalachen daran, dass das ländliche Amerika nie nur männlich war, wie die Mythologie behauptet: "Meine Oma zum Beispiel, wuchs als drittes von vier Kindern im östlichen Kentucky auf. Ihre Jugend spielte sich in engen Täler und Hütten mit Lehmboden ab, mit all den schlimmsten Vorstellungen von dieser Region. Oma war musikalisch, arm, komisch und bockig von Geburt. Meine Cousins lachen immer noch über sie: Verrückte Mabel, böse Mabel, Mabel, die seltsames Essen kochte, die sich Lieder ausdachte, sowohl vertraut als auch fremd. Ein Leben in der Hölle, und sie sang darüber … Zwei Jahrhunderte wurde uns beigebracht, die Männer dieser Gegen in den Vordergrund zu spielen, und das hat uns beschädigt, in unserer inneren Identität und darin, wie der Rest der Welt uns sieht … Stell dir die Appalachen vor oder irgendeine ländliche Gegend. Siehst du Frauen in dem Bild, Frauen am Klavier, die Jazz spielen? Überhaupt Frauen? Oder eher Holzfäller mit Äxten, Fiedler mit Geigen? … Wenn deine Vorstellung deutlich ins Männliche ausschlägt, dann bis du in bester Gesellschaft eines systematischen Denkens, das bis zu den Anfängen der Nation reicht. Im 19. Jahrhundert verfasste Davy Crockett aus Tennessee seinen 'Almanach', einen prominenten Text, der das ländliche Leben charakterisieren sollte. Er enthielt Geschichten unterschiedlicher Autoren über Schlangenzähmung, Faustkämpfe und das Navigieren nach Sternen. Die Storys lehrten die Männer der Appalachen, ihre eigene Toxizität zu verherrlichen, und andere Männer lernten sie dafür zu bewundern. Die Tradition ging weiter, ohne dass sie große verändert wurde."
Stichwörter: Appalachen, Geiger, Tennessee, Guernica

Magazinrundschau vom 24.11.2020 - Guernica

Dreiviertel aller Menschen, die aus Nordkorea nach China fliehen, sind Frauen. Ein Großteil von ihnen wird, meist ohne dass sie es zunächst ahnen, von Menschenhändlern Prostitutionsringen zugeführt. Annie Hylton hat nachgeforscht, wie dieser hohe Frauenanteil zustande kommt und ist auf die erschütternde Position von Frauen in der nordkoreanischen Gesellschaft gestoßen: "2018 veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht mit den Aussagen von 54 Frauen, die seit Kim Jong-Uns Machtaufstieg vor rund einem Jahrzehnt aus Nordkorea geflohen sind. Auch sprach die Organisation mit Beamten, die bis zu ihrer eigenen Flucht für die Regierung gearbeitet haben. Dem Bericht zufolge sind sexualisierte und gender-basierte Gewalt Alltag. Unter den Tätern befinden sich hochrangige Parteibeamte, Wärter in Gefängnissen und Gewahrsamsanstalten, Vernehmungsbeamte, Polizisten und Geheimdienste, Staatsanwälte und Soldaten. Im Juni 2018 besuchte ich Kim Seok-Hyan, eine Professorin am Insitut für Nordkoreastudien an der Ewha Womans University in Seoul. Bis dahin hatte sie seit 2010 etwa hundert nordkoreanische Frauen interviewt. Sie erzählte mir, dass 'jede' von ihnen Missbrauch durch Beamte beschrieben hatte. Die Hälfte der Frauen sagten ihr, dass sie auch zuhause Gewalt erlebt haben, die sie nie zur Anzeige gebracht hätten, zum Teil deswegen, weil ihnen das als so 'selbstverständlich' vorkam, dass ihnen eine Anzeige gar nicht erst in den Sinn gekommen sei, zum Teil aber auch, um so wenig Kontakt wie möglich zur Polizei zu haben, die gefährlich sein kann. Polizeibeamte sind dem Alltag der Leute sehr nahe, erklärte sie, und eine Frau hat häufig keine Wahl als 'zu versuchen, unterwürfig zu sein, um sich selbst zu schützen'. Anderenfalls, sagte sie, 'wird man getötet'."

Magazinrundschau vom 07.05.2019 - Guernica

Emily Fragos Einleitung zu ihrem Interview mit der Geigerin Hilary Hahn ist recht süßlich und überladen mit Superlativen, aber Hahn selbst erweist sich im Gespräch eigentlich als recht nüchterne Künstlerin, die auch genau über das nachdenkt, was sie tut - so spricht sie etwa über die Kunst der Interpretation: "Phrasieren ist das, was ein Schauspieler tut, wenn er einen Text bekommt ohne Information über eine Rolle, oder wenn er ein kompliziertes Gedicht einübt, das er zum ersten Mal vorträgt. Es gibt so viele Optionen. Ein Notentext ist nur ein relativer Indikator für den Willen des Komponisten. Diese Note ist ungefähr so viel höher als jene Note oder so viel länger als jene. Dies ist ungefähr das Tempo. Es ist fast unmöglich, jeden Tag dasselbe Tempo zu erzeugen, denn dein Puls ist nicht gleich. All dies sind Indikatoren, Zielvorstellungen."

Außerdem: Mary Wang besucht die Autorin und Illustratorin Leanne Shapton in ihrem Studio.
Stichwörter: Hahn, Hilary, Geigerin, Guernica

Magazinrundschau vom 21.06.2016 - Guernica

In Guernica schreiben Autoren aus aller Welt über die Städte ihrer Kindheit, ihrer Zukunft oder ihrer Sehnsucht. Ingrid Rojas Contreras kehrt nach Bogota zurück, das sie als eine Stadt der Autosuggestion erlebt. Die Alten erinnern sich an Zeiten, als noch Schnee in Kolumbien fiel, die Jungen hoffen auf ein Ende des Bürgerkriegs: "Die Stadtbewohner erzählen dasselbe wie die großen Tageszeitungen: Das Land steht am Rande des Friedens, selbst die größte Guerillagruppe, die FARC, könnte schon morgen das Friedensabkommen unterzeichnen. Die Gewalt ist eine Sache der Vergangenheit. Doch wenn ich in die Dörfer fahre, höre ich andere Geschichten. Eine Frau erzählt mir von ihrer hübschen Tochter: Als sie über den Dorfplatz ging, quittierte sie die aufreizenden Pfiffe mit Schimpfworten. Später lauerte der Mann, den sie beschimpft hatte, zusammen mit vier anderen Männern auf. Es waren alles Paramilitärs."

Unter anderem schreiben auch Kaya Genç über Istanbul, Xiao Luo über Peking, Salar Abdoh über Teheran, Rana Dasgupta über Delhi oder Frederic Tuten über New York.

Magazinrundschau vom 07.06.2016 - Guernica

In einem ausführlichen Interview mit Ratik Asokan spricht der Fotograf und frühere Magnum-Präsident Stuart Franklin über die Subjektivität in der Fotografie, den dokumentarischen Impuls und heutigen Fotojournalismus: "Fotos in Zeitungen sind heutzutage zutiefst tautologisch. Wenn es in einem Artikel darum geht, einen Krieg zu beenden, dann ist das Foto daneben eigentlich nur ein Poster mit der Parole 'Stoppt den Krieg'. Bei einer Geschichte über eine Cash-Krise in Barcelona, bekommen wir als einziges einen Bankautomaten in Barcelona zu sehen. Das Problem liegt im System. Auf der einen Seite gibt es das Foto mit einer Limonaden-Büchse, um die Gefahr gezuckerter Getränke zu illustrieren. Auf der anderen Seite wird alles Vernünftige im Fotojournalismus von der Kunstwelt weggeschnappt und wir sehen es nie wieder. Guy Tillims Bilder wurden von der Tate gekauft, aber nie der Öffentlichkeit gezeigt."

Außerdem: Dwyer Murphy rekapituliert das jahrelange Tauziehen um eine Auslieferung des mexikanischen Drogengangsters El Chapo an die USA, seine Fluchten aus dem Gefängnis und seinen anhaltenden Marktwert: "Univison und Netflix kündigten an, dass sie zusammen eine Serie für 2017 produzieren, mit dem 'El Chapo'. Telemundo entwickelt auch eine." Und der dänische Filmemacher Andreas Koefoed spricht über seine Dokumentation "At Home in the World", die einen zehnjährigen Flüchtlingsjungen aus Tschetschenien porträtiert.