Magazinrundschau

Nicht gucken!

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10.03.2009. Die Realität existiert! Aber nur, wenn wir nicht hinsehen, behauptet der Economist. Vanity Fair sucht das Wikinger-Gen im isländischen Mann. Wir bekommen vielleicht ein bezahltes und ein freies Internet, meint James V. DeLong in The American. Im Believer trauert der Autor und Filmemacher C.S. Leigh um eine stinkende menschliche Erfahrung. Im Espresso feiert Naomi Klein außergewöhnliche Politik mit Elektrosäge. Italien verrottet, ruft MicroMega. Blindheit ist die reinste Form des Blicks, versichert Claude Lanzmann im Nouvel Obs. Joseph Stiglitz fordert in der Nation: The polluter pays! Die New York Times sieht Würstchen bei der Lektüre von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten".

Vanity Fair (USA), 01.04.2009

Einen faszinierenden, ethnologischen Einblick in die Befindlichkeit des isländischen Manns gibt uns Michael Lewis. Er reiste nach Island mit der Frage im Kopf: Wie ist es möglich, dass eine 300.000köpfige Fischernation sich als globaler Finanzspieler neu erfinden konnte? Es ist, kurz gesagt, das Wikinger-Gen. Nehmen Sie zum Beispiel Stefan Alfsson. Er hatte Fischerei studiert und wurde mit 23 Jahren Kapitän eines Fischerboots. Mit 30 Jahren nahm er Abschied und wurde Devisenhändler bei der Landsbanki. Stefan erzählt von einem älteren Mann, der eine Zeitlang sein Kapitän war und ihm Dinge übers Fischen beigebracht hat, die man nicht auf der Universität lernt. "'Sie haben sieben Jahre lang jede Nuance des Fischhandels gelernt, bevor Sie von diesem großen Kapitän lernen konnten?', fragte ich. 'Ja.' 'Und selbst dann haben Sie noch viele Monate zu Füßen dieses großen Meisters gesessen, bevor Sie das Gefühl hatten, Sie wüssten, was Sie tun?' 'Ja.' 'Wie konnten Sie dannn glauben, Sie könnten Banker werden und auf den Finanzmärkten spekulieren, ohne einen Tag Ausbildung?' 'Das ist eine gute Frage', sagt er. Er denkt eine Minute nach. 'Zum ersten Mal an diesem Abend fehlen mir die Worte.'"

Außerdem lesenswert: William Langewiesches spitze Reportage über die Entführung des französischen Luxusdampfers Le Ponant durch somalische Piraten. Das schlimmste, was man nach der Lektüre von ihnen sagen kann, ist, dass sie die französische Küche nicht zu würdigen wussten.
Archiv: Vanity Fair

Espresso (Italien), 06.03.2009

Der kleine Mann hat genug vom Kapitalismus, wie ihn der Weltwährungsfonds predigt. Das beobachtet die kanadische Publizistin Naomi Klein (hier auf Englisch) von Argentinien bis Rejkjavik mit einer gewissen Genugtuung: "Was diesen globalen Protest [gegen den deregulierten Kapitalismus] eint, ist die Ablehnung der Lehre von der 'außergewöhnlichen Politik' - einen Begriff, den der polnische Politiker Leszek Balcerowicz prägte, um zu beschreiben, wie Politiker in einer Krise die Legislative ignorieren und unpopuläre 'Reformen' durchsetzen. Dieser Trick wird langsam alt, wie Südkoreas Regierung kürzlich entdeckte. Im Dezember wollte die regierende Partei die Krise dazu benutzen, ein umstrittenes Freihandelsabkommen mit den USA durchzuboxen. Indem sie die Politik der verschlossenen Türen ins Extreme trieben, schlossen sich die Abgeordneten im Parlament ein, um in Ruhe abzustimmen. Die Türen wurden mit Schreibtischen, Stühlen und Sofas verbarrikadiert. Die Opposition wollte das nicht hinnehmen. Mit Vorschlaghämmern und einer Elektrosäge brachen sie durch die Barrieren und veranstalteten ein zwölftägiges Sit-In. Die Abstimmung wurde verschoben, eine weitere Diskussion ermöglicht - ein Sieg für eine neue Art von 'außergewöhnlicher Politik'."
Archiv: Espresso

American (USA), 03.03.2009

Amerikanische Zeitungsaktien haben 2008 83 Prozent an Wert verloren! Nach einer kurzen Geschichte des Niedergangs der amerikanischen Presse in den letzten Jahren, zitiert der Jurist James V. DeLong den NYT Chefredakteur Bill Keller, der kürzlich erklärt habe, dass er den oft mit religiöser Inbrunst verkündeten Satz 'Information will gratis sein' niemandem mehr abkaufe. Damit stehe er nicht alleine. "Die LA Times sprach von der Notwendigkeit, für die Presse eine Ausnahme vom Kartellgesetz zu machen, damit Zeitungen gemeinsam vereinbaren können, dass sie ihre Produkte nicht mehr einfach weggeben, und verschiedene Kolumnisten haben zugestimmt. Vor hier an teilen sich die Dinge. Entweder entwickelt das Nachrichtengeschäft erfolgreich ein kostenpflichtiges, auf Eigentumsrechten basierendes Modell, das auf Abonnenten oder Anzeigen basiert, oder nicht. Wenn es ihm gelingt, entwickelt sich das vorher beschriebene Szenario mit nationalen, lokalen und spezialisierten Absatzgebieten. Innovative Informationssammelservices werden entstehen, die mit AP konkurrieren, vor allem in den spezialisierten Gebieten, und die kreative Seite der Schumpeterschen Balance wird die Zerstörung des alten Printmodells begleiten. Wir bekommen möglicherweise ein bezahltes und ein freies Internet, mit einer großen Menge an interessanten Crossovers und Interaktionen."
Archiv: American

La vie des idees (Frankreich), 05.03.2009

1818 fand in New York ein Prozess statt, der sich mit einer seltsamen Frage befasste: Ist der Wal ein Fisch oder nicht? Alexandre Brunet bespricht ein Buch des amerikanischen Historikers Graham Burnett, der aus dieser Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlern, Walfängern und Kaufleuten eine faszinierende Studie über die Geschichte der Naturwissenschaften vor dem Darwinismus gemacht habe ("Trying Leviathan"). Die Kontroverse sei ideal, um zum Zeitpunkt der Entstehung der Naturwissenschaften die Verflechtung ökonomischer, religiöser und wissenschaftlicher Argumente zu beobachten. "Für Burnett ist dieser Prozess eine traumhafte Gelegenheit, erneut zu beweisen – wenn es denn nötig wäre –, dass die Vorstellung einer ungehindert triumphierenden Naturwissenschaft in den ersten Jahren der amerikanischen Republik äußerst übertrieben ist: Weit davon entfernt ein Goldenes Zeitalter der Wissenschaft zu sein, zeichnet sich das frühe 19. Jahrhundert vielmehr durch eine tiefe epistemologische Unsicherheit aus. Diese Periode ist schlicht jene, in welcher die entscheidende Kontroverse zwischen Volksglaube, religiösen Überzeugungen und sich formenden wissenschaftlichen Kenntnissen stattfindet."

Economist (UK), 06.03.2009

Die Realität existiert! Aber nur, wenn wir nicht hingucken, berichtet der Economist. Bewiesen wurde das jetzt von Kazuhiro Yokota von der Osaka Universität und von Jeff Lundeen und Aephraim Steinberg von der University of Toronto. Beide haben die Richtigkeit von Hardys Paradox nachgewiesen. "In den 1990er Jahren entwarf ein Physiker namens Lucien Hardy ein Gedankenexperiment, das die berühmte Interaktion zwischen Materie und Antimaterie - wenn ein Teilchen sein Antiteilchen trifft, zerstören sie sich gegenseitig in einer Energieexplosion - in Unsinn verkehrt. Dr. Hardys Entwurf ließ die Möglichkeit offen, dass in einigen Fällen, wenn die Interaktion nicht beobachtet wird, Teilchen und Antiteilchen aufeinander einwirken und dennoch überleben konnten. Da man der Interaktion nicht zusehen durfte, konnte natürlich niemand bemerken, ob sie stattfand. Darum heißt das Ergebnis Hardys Paradox."
Archiv: Economist
Stichwörter: Toronto

Salon.eu.sk (Slowakei), 03.03.2009

In Tschechien, Ungarn und der Slowakei wurden in letzter Zeit Gesetze zur "Bändigung der Medien" verabschiedet. Salon hat eine (englischsprachige) Presseschau aus diesen Ländern zusammengestellt. So sorgt man sich in Ungarn über einen Gesetzentwurf, der es der Nationalen Medienbehörde erlaubt, schon beim Verdacht auf einen Rechtsbruch Redaktionsbüros zu durchsuchen und Computer und Originaldokumente zu beschlagnahmen. Aus der Slowakei, wo das neue Mediengesetz – anders als in Ungarn – von der Opposition heftig bekämpft wurde, berichten einige Journalisten von ihren Erfahrungen mit dem seit über einem Jahr existierenden "Recht auf Erwiderung", das jedem, der sich in der Presse zu Unrecht dargestellt fühlt, gestattet eine "Korrektur" an gleicher Stelle veröffentlichen zu lassen, unabhängig davon, ob die Bitte gerechtfertigt ist oder nicht. "Unsere schlimmsten Befürchtungen sind aber nicht eingetroffen", meint Petr Sabata, Redakteur der Tageszeitung Pravda. "Die meisten können aus formalen Gründen abgelehnt werden." Am schlimmsten ist es in der Tschechischen Republik. Hier müssen Journalisten, die Material veröffentlichen, dass ihnen von Polizei oder Anwälten zugespielt wurde, mit hohen Strafen rechnen. In einem offenen Protestbrief an den Präsidenten Vaclav Klaus schrieben einige Verleger: "Journalisten können nur in den Besitz von Dokumenten gelangen, die bereits das Sicherheitssystem passiert haben und somit jedermann zugänglich sind."
Archiv: Salon.eu.sk
Stichwörter: Tschechien, Jedermann, Slowakei

New York Review of Books (USA), 26.03.2009

Jonathan Raban schreibt über Kelly Reichardts Film "Wendy and Lucy", die Geschichte eines Mädchens, das in einer Kleinstadt im Nordwesten der USA strandet. Ihr Auto ist kaputt, ihr Geld fast zu Ende, sie wird verhaftet, weil sie Dosenfutter für ihren Hund Lucy klaut und dann geht Lucy auch noch verloren. Wendy (Michelle Williams) sucht sie so überlegt, dass "man ihre fundamentale Kompetenz erkennt: hier ist jemand, der einen Job ganz besonders verdient. Aber es gibt keine Jobs in dieser Stadt und überhaupt, wie Wendy zu dem Sicherheitsbeamten von Walgreen sagt: 'Du kriegst keinen Job ohne Adresse.' Worauf er antwortet: 'Du kriegst keine Adresse ohne Adresse. Du kriegst keinen Job ohne Job. Es ist alles festgelegt.' Eine Wirtschaft am Rand des Zusammenbruchs ist sowohl das Thema des Films als auch Reichardts Regieästhetik. 'Wendy und Lucy' hat 200.000 Dollar gekostet, und das Notizbuch, in dem Wendy ihre Ausgaben notiert, könnte Reichardts eigenes sein. Alles ist auf das absolute Minimum reduziert. Die Filmmusik hat ein Thema mit acht Noten und Variationen, erst in der Eingangsszene von Wendy gesummt, dann von einem fernen Synthesizer aufgegriffen. Diese skelettartige Melodie, vage liturgisch in meinen Ohren, ist so einprägsam wie nur je ein Soundtrack, an den ich mich erinnern kann (er wurde von Will Oldham komponiert, einem Musiker und Schauspieler aus Kentucky)."

Daniel Mendelsohn schreibt über Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten": "Der große Erfolg dieses Buchs, die Art, wie Littell uns in Aues mentale Welt zieht, hat viel zu tun mit der Technik, die er benutzt, das heißt, wie er Szenen größten Horrors (oder Szenen, in denen die Charaktere kühl entsetzliche Taten diskutieren oder planen) einfügt, mit immer größerer Dringlichkeit, je weiter der Roman fortschreitet, in alltägliche, sogar langweilige Abschnitte, Gespräche über kleinliche Militärintrigen und offizielles Gekabbel und so weiter und so weiter, dabei das Grausame und das Banale in einer beunruhigenden, überzeugenden Art zusammenwebend - so dass das Banale das Grausame irgendwie normalisiert und das Grausame das Banale ansteckt."

Außerdem: Amartya Sen überlegt, ob wir einen "neuen Kapitalismus" oder eine "neue Welt" brauchen. Elisabeth Dew resümiert dreißig Tage Obama. Cass R. Sunstein schreibt über die Federalist Papers. Besprochen werden Jackie Wullschlagers Chagall-Biografie, Bücher von und über Reinhold Niebuhr und eine Biografie über Donald Barthelme.

Nouvel Observateur (Frankreich), 05.03.2009

Anlässlich des Erscheinens seiner Erinnerungen "Le Lievre de Patagonie" (Grasset) spricht der französische Regisseur Claude Lanzmann über seine jüdische Identität. Am wichtigsten für ihn und seine Arbeit sei gewesen, dass er immer Teil davon und Außenseiter zugleich war. So hätte er seinen Film "Shoah" niemals machen können, wenn er selbst deportiert worden wäre. Mit der Frage amerikanischer Juden, die er wegen dessen Finanzierung ansprach, was seine "Message" sei, habe er nichts anfangen können. "Sie haben erwartet, dass ich ihnen sage: 'Nie wieder' oder 'Liebt einander'. Kurz, eine christliche Botschaft. Oder vielleicht eine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Warum ist das geschehen? Warum ist es Juden passiert? Diese Frage ist absolut obszön. Alle Begründungen, die man anführt, sind vielleicht notwendig, aber nicht ausreichend. Wie begründet man die Ermordung von eineinhalb Millionen Kindern? Ich musste mich mit aller Kraft der Fassungslosigkeit stellen, der Weigerung zu verstehen. Ich war wie ein Pferd mit Scheuklappen, habe nicht nach rechts und nicht nach links geschaut, sondern mich mit dem konfrontiert, was ich die 'schwarze Sonne' der Shoah nenne. Das war die einzig mögliche Verfahrensweise, diese Blindheit ist die reinste Form des Blicks, die Klarsicht selbst."

Believer (USA), 01.03.2009

Der Autor und Filmemacher C.S. Leigh denkt über die Zukunft des Kinos und vor allem des Cinephilen nach. Das ist sehr ehrenwert, aber nicht recht überzeugend. Laut Leigh machen Regisseure wie Michel Gondry, Paul Thomas Anderson, Charlie Kaufman oder Sofia Coppola "Filme, die man sich [zu Hause] ansehen und dabei viele Dinge tun kann, die wir heute so tun, während wir uns Filme angucken, die aber dennoch unsere Aufmerksamkeit erfordern." Hm. Früher soll alles besser gewesen sein, damals in den Kellerkinos: "Wir strömten in Scharen dorthin. Manchmal musste man drei Treppen zum Kino hochgehen und hatte immer noch das Gefühl, man sei im Souterrain. Man konnte Süßigkeiten und Getränke kaufen und es gab immer eine Raucherecke. Es war eine stinkende menschliche Erfahrung. Man konnte auch eine sehr unterschiedliche Beziehung zu einem Film entwickeln, je nachdem, wo und mit wem man ihn sah. Das Publikum in einem Universitätskino in L.A. reagierte feierlich, fast begräbnishaft auf Pasolinis 'Salo' (sie schienen sich unsicher zu sein, ob sie gerade Zeuge eines Films oder einer Straftat geworden waren); später sah ich denselben Film im Pariser Accatone mit einem Publikum, das nicht aufhören konnte zu lachen."

Außerdem: Der britische Filmemacher Mike Leigh spricht im Interview über seine Arbeit mit Schauspielern und ein Projekt, das er wahrscheinlich nie verwirklichen kann, weil er dafür nie genug Geld zusammenbekommen wird: ein Film über den Maler William Turner, der teure Außenaufnahmen erfordern würde. "Wir reden hier von einem Mann, der sich an den Mast eines Schiffes gebunden hat, um einen Sturm zu malen."
Archiv: Believer

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.02.2009

Die Angst vor dem Anderssein ist so alt wie die menschliche Zivilisation selbst. Versteht man unter Zivilisation eine vom Menschen geschaffene Welt, die ihn vor den Gefahren beschützen soll, die in der Natur, außerhalb seiner Zivilisation auf ihn lauern, so gehört auch das Anderssein zu diesen potentiellen Gefahren. Ein Umdenken setzt erst in der Zeit der Aufklärung ein, als der "Barbar" - in einem neuen Kontext und auf der Suche nach einer neuen Zivilisation - interessant wird. Allerdings macht der Theaterwissenschaftler Laszlo Limpek auf das Paradoxon dieser Wende aufmerksam: Das Anderssein war im 18. Jahrhundert nicht an sich interessant, sondern nur insofern, als es für die "neue" europäische Ideologie wertvoll, um nicht zu sagen, brauchbar war: "Dies ist das Beispiel eines Anderssein-Kults, in dem der Diskurs über das Anderssein viel wichtiger ist, als die tatsächliche Emanzipation des Andersseins. Das (Nach-)Denken über das Anderssein ist nämlich vor allem eine Identitätssuche (boshaft formuliert: Selbstbestätigung), und nicht die Akzeptanz des Andersseins als solchen, weshalb die Rede darüber völlig ausreicht, eine praktische Verwirklichung der theoretischen Deklarationen ist nicht nötig."
Stichwörter: Emanzipation, Zivilisation

The Nation (USA), 23.03.2009

Joseph Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger, hat ganz klare Ansichten zur Sanierung der Banken in den USA - er will sie verstaatlichen: Und überhaupt "gibt es ein Grundprinzip in der Umweltökonomie. Und das heißt 'the polluter pays'. Wer die Umwelt verschmutzt, muss für die Reinigungskosten aufkommen. Amerikanische Banken haben die globale Wirtschaft mit Giftmüll verpestet, es ist nur gerecht und wirksam, wenn sie früher oder später gezwungen werden, die Reinigungskosten zu übernehmen. Solange der Banksektor das Gefühl hat, dass ihm schon ausgeholfen wird, sogar dann, wenn er das Desaster selbst geschaffen hat, hat er einen moralischen Freibrief. Nur wenn der Sektor selbst die Kosten seiner Taten übernimmt, wird Effizienz wiederhergestellt."

In der gleichen Nummer konstatieren Barbara Ehrenreich ("Arbeit poor") und Bill Fletcher, dass dem Kapitalismus wohl nicht mehr zu helfen sein wird. Man muss also über Sozialismus nachdenken. Die beiden geben zwar zu, "keinen Plan" für den Weg in den Sozialismus zu haben, aber sie sind überzeugt, dass "die Kernidee des Sozialismus Bestand hat: Leute tun sich zusammen und klären, wie sie ihre Probleme oder zumindest einen großen Teil ihrer Probleme gemeinsam lösen können. Wir - nicht der Markt oder die Kapitalisten oder irgendwelche Überplaner - nehmen unser Schicksal in die Hand."

Und Samuel Moyn schreibt über Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten": "Im Gegensatz zur Ansicht der meisten ausländischen Kritiker (und vielleicht Littells Selbstverteidigung) ist die wahre Prämisse des Romans nicht, dass Aue wie andere Täter ist. Er steht vielmehr für den Nationalsozialismus als ganzes."
Archiv: The Nation

Guardian (UK), 07.03.2009

Die Schriftstellerin Jeannette Winterson stattet dem Buchladen Shakespeare and Company in Paris einen Besuch ab, den George Whitman mittlerweile an seine Tochter Sylvia übergeben hat, in dem man aber immer noch übernachten darf, wenn man sich bereit erklärt, zwei Stunden in dem Laden zu arbeiten und ein Buch pro Tag zu lesen. "Sylvia lebte in dem Laden, bis sie sieben war, nach der Scheidung ihrer Eltern ging sie mit ihrer Mutter nach England auf die Schule. Sie wollte das Geschäft gar nicht übernehmen, aber sie wurde hineingezogen und hat es zu ihrem Leben gemacht. 'Als ich ankam, hatten wir nicht einmal ein Telefon, und Penguin drohte, uns nicht mehr zu beliefern, weil wir die Rechnungen nicht gezahlt hatten. Ich lief durch ganz St. Michel auf der Suche nach einer Telefonzelle, um die Buchhaltung in Essex anzurufen.' Sie verehrte ihren Vater, und ist bemüht, sein Erbe weiterzutragen - aber auf ihre Art. 'Dad war stinksauer, als ich eines der Betten herausnahm und einen Computer installierte. Als ich ihm erzählte, dass wir ein Literaturfestival und einen Verlag gründen wollten, fragte er: Und wer soll für all die Leute kochen?'"

Weiteres: Das öffentliche Sterben der krebskranken Jade Goody im kameraverrückten Großbritannien erinnert Gordon Burn sehr an Dave Eggers "Herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität" ("Bin ich auf Sendung? Habe ich schon euer Herz gebrochen? War meine Geschichte traurig genug?"). Besprochen werden unter anderem T.C. Boyles Roman über Frank Lloyd Wright, "The Women", und Barney Hoskyns' freundliche Tom-Waits-Biografie "Lowside of the Road".
Archiv: Guardian

MicroMega (Italien), 06.03.2009

In Turin trafen sich kürzlich Wissenschaftler und Intellektuelle, um den "Fall Italien" zu verhandeln. Es ist alles ganz furchtbar, musste Angelo d'Orsi erfahren. "Auch Luciano Gallino hielt in seinem großartigen Vortrag nicht hinter dem Berg. Er zeichnete das Bild eines verrotteten Landes, von Umweltkatastrophen verheert, von der organisierten Kriminalität geführt (die mittlerweile ein Drittel des nationalen Territoriums kontrolliert), ein Land, in dem die Schwarzarbeit floriert (mehr als 18 Prozent, sagen manche, andere schätzen die Quote auf 30 Prozent) und damit eine entsprechend hohe Rate an Steuerflucht produziert, ein Land der Flüchtigen und der Schwarzbauten, ein Land, das sich jeder Regelung widersetzt, ein Land, in dem es dreierlei Gesetze gibt: unnütze (die meisten), schädliche (sie werden angewendet) und nützliche wie wertvolle (die aufgrund des allgemeinen Desinteresses ständig missachtet werden). In erster Linie fällt mir da die Verfassung unserer Republik ein, die in vielen wichtigen Teilen immer noch nicht verwirklicht worden ist, und die nicht erst seit heute unter Beschuss steht, vor allem ihres demokratischen und fortschrittlichen Charakters wegen."
Archiv: MicroMega

Times Literary Supplement (UK), 06.03.2009

Richie Robertson geht anhand eines Buchs über Hitlers private Bibliothek der Frage nach, ob der Diktator womöglich ein Bücherwurm war. Mit Literatur und Philosophie hatte er jedenfalls nicht viel im Sinn: "Bemerkenswert ist Hitlers Bibliothek vor allem wegen der Bücher, die sie nicht enthält. Schopenhauer und Nietzsche fehlen, was den Verdacht bestätigt, dass Hitler sie nur aus zweiter Hand kannte. Es gibt eine schöne Fichte-Edition, ein Geschenk von Leni Riefenstahl, um Hitler nach einem unglücklichen Zusammentreffen versöhnlich zu stimmen, aber die enthaltenen Anmerkungen sind von jemand anderem. ... Ein weiterer frappierender Mangel zeigt sich in der Literatur. Oechsner zufolge besaß Hitler alle Wild-West-Abenteuergeschichten von Karl May, alle Detektivromane von Edgar Wallace und viele Liebesgeschichten von Hedwig Courths-Mahler (einer deutschen Barbara Cartland), aber nichts, was die Einbildungskraft auf unbekannte Wege führen konnte. In Hitlers mentaler Welt scheint es keinen Platz für Imagination gegeben zu haben." Kritisch fügt Robertson hinzu, dass Teile des Bandes "Hitler's Private Library" nachlässig geschrieben seien. Hitler hingegen habe zumindest den Wert von Nachschlagewerken gekannt.

Point (Frankreich), 05.03.2009

In seinen Bloc-notes macht Bernard-Henri Levy gegen die für April angekündigte Durban Review Conference in Genf mobil, die Folgeveranstaltung jener skandalösen "UN-Weltkonferenz gegen Rassismus" 2001 im südafrikanischen Durban, die sich zu einer Plattform hasserfüllter Agitation gegen Israel und die Juden entwickelt hatte. "Alles, was man über die Organisation dieser neuen Konferenz weiß, alles, was an Absichten aus dem Büro des von Libyen geleiteten 'Vorbereitungskomitees' durchsickert, besonders im Vorentwurf der bereits jetzt schon vor allem mit Hilfe der pakistanischen, kubanischen und iranischen – ah, die großen Demokraten! – Vizepräsidenten verfassten 'Abschlusserklärung', lässt das Schlimmste befürchten. (...) Im Interesse des Kampfs für die schöne und noble Sache, die der Antirassismus darstellt, aus Respekt vor all jenen, von Fanon bis Mandela, die seinen Geist bestimmt haben, muss man – sehr schnell, sehr entschieden und ohne Appell – die Farce von Durban II ablehnen."

(Am kommenden Donnerstag findet um 11 Uhr im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung übrigens eine Pressekonferenz der Initiative "Boykottiert Durban 2!" mit diversen Referenten statt. Moderieren wird Perlentaucher Thierry Chervel.)
Archiv: Point

Spectator (UK), 06.03.2009

Melanie Philipps prophezeit die religiöse Vereinigung "dunkler Kräfte gegen die freie Welt": Still und heimlich würden sich nämlich Mitglieder der anglikanischen Kirche mit extremen Islamisten und der antizionistischen Rechten gegen den gemeinsamen Feind Israel verbünden. Der Antisemitismus sei dabei verbreitet bis in die höchsten Ämter der kirchlichen Hierarchie, ist sich die Autorin sicher: "Viele werden tief schockiert sein, dass die Englische Kirche Personen mit derartigen Einstellungen beherbergt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die Kirchenhierarchie gegen sie handelt. Extreme Feindseligkeit gegenüber Israel ist die standardmäßige Position unter Bischöfen und Erzbischöfen; während es die etablierte Linie ist, dem Islam die Hand zu reichen und zu versuchen, ihn zu integrieren und zu besänftigen. Während Christen auf der ganzen Welt unter erzwungener Konversion, ethnischen Säuberungen und Mord durch islamische Hände leiden, äußert die Kirche nicht ein Wort des Protests. Stattdessen steht der interreligiöse Dialog auf der Tagesordnung ... Israels Krieg gegen die Hamas hat einen entscheidenden Effekt gehabt. Es gibt nun die weitverbreiteten Wahrnehmung, dass Israel ein für allemal besiegt werden muss - dann würden die Islamisten sich beruhigen."
Archiv: Spectator

Virginia Quarterly Review (USA), 09.03.2009

Aus dem Archiv ausgegraben: Ein Artikel von John Hammond Moore über die bewegte Geschichte des Cocktails. Dieser, so zitiert Moore den Schriftsteller H. L. Mencken, sei für viele Nicht-Amerikaner "der größte Beitrag des 'American Way of Life' zum Heil der Menschheit". Zwar bleibt der wahre Ursprung des Wortes "Cocktail" unklar, seit rund zweihundert Jahren wird es jedoch in seiner heutigen Bedeutung verwendet, lernen wir: "Das Wort 'Cocktail' wurde ... in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall in den Vereinigten Staaten benutzt, um eine Auswahl gemischter Getränke zu beschreiben. Eine der ersten gedruckten Erwähnungen erschien im Mai 1806 in einer Zeitung aus Hudson, New York. Dem Redakteur des Balance zufolge ist ein Cocktail eine stimulierende Flüssigkeit, bestehend aus Alkoholika jeglicher Art, zusammen mit Wasser, Zucker und Magenbitter. Dieser wurde gewöhnlich als 'bittered sling' bezeichnet und sei besonders zu empfehlen für jeden demokratischen Kandidaten in einem öffentlichen Amt, da jeder, der ein Glas davon hinunterbekomme, bereit sei, alles zu schlucken."
Stichwörter: Cocktails, Wasser

New York Times (USA), 08.03.2009

David Gates lässt kaum ein gutes Haar an Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten". Der von seiner Schwester besessene Held und Nazi Max Aue, der sich an einer Stelle ein Würstchen in den Hintern schiebt und es später seiner Mutter und seinem Stiefvater als Mahlzeit serviert, "ist einfach zu sehr Freak und sein angebliches Trauma zu speziell und gekünstelt, als dass wir es ernst nehmen könnten. Wenn er uns eine moralische Gänsehaut mit dem Argument einjagt, 'Sie hätten auch getan, was ich getan habe', tanzen Visionen von Würstchen vor unserem Auge."

Besprochen werden außerdem eine Reihe von Büchern aus oder über China: Yiyun Lis grimmiger Roman "The Vagrants" über das China der siebziger Jahre (erstes Kapitel), Yu Huas Roman "Brothers" (erstes Kapitel), Xinrans Interviewbuch "China Witness. Voices From a Silent Generation" und James Fallows Reportagen aus China für Atlantic Monthly, "Postcards from tomorrow square" (erstes Kapitel).
Archiv: New York Times
Stichwörter: Littell, Jonathan, Mutter, Trauma