Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
02.02.2004. Outlook India und Wired feiern die Informatik-Inder. In Le Point ist Bernard-Henri Levy das Kopftuch schleierhaft - außer bei den Frauen des Propheten. Die New York Review of Books beobachtet die Rückkehr der Taliban nach Afghanistan. Folio widmet sich ganz dem world wide web und stellt Tim Berner-Lees neues semantic web vor. Der Merkur singt ganz zauberhafte NVA-Lieder. In Dissent untersucht Fawaz A. Gerges arabische Politik vor, während und nach dem Irak-Krieg. Der Nouvel Obs porträtiert den Philosophen Paul Ricoeur. Das TLS lobt die Evolution. Im Express erklärt Daniel Cohen: Globalisierung wäre gut, sie müsste nur klappen.

Outlook India (Indien), 09.02.2004

Nun liegt ein Buch vor über das, was Outlook "the best thing that came out of the Indian educational system" nennt, nämlich die Indian Institutes of Technology (hier die Website des Instituts von Delhi), die den Ruf Indiens in der Informationstechnologie begründeten. Sandipan Deb beschreibt in "The IITians" die Geschichten einiger Absolventen der Schulen, die häufig in den USA reüssierten. "Genährt mit Staatsgeldern sollten die 'IItians' den Tempeln des neuen Indien dienen", schreibt Chidanand Rajghatta, "aber aus Mangel an Herausforderungen (so die eigene Version) oder angezogen von fetteren Wiesen (so der Volksglaube) ging fast die Hälfte von ihnen in den Westen, meist in die USA. Hier erlebten sie von den Siebzigern bis zu den Neunzigern eine wahre Blüte und erreichten solche Höhen in Akademia, das sie eine Art Schwnidel bei Freunden und Kollegen auslösten. Und natürlich lösten sie bei den Zurückgebliebenen aus Neid und Missgunst aus."

Bei der Gelegenheit weisen wir gleich noch auf den Aufmacher von Wired hin: "How India became the capital of the computing revolution".

Empfohlen wird in Outlook auch der große Bildband "India The Definitive Images: 1858 to the Present" (mehr hier und hier).

Archiv: Outlook India
Stichwörter: Delhi, Neid

Dissent (USA), 01.02.2004

In Dissent betrachtet Fawaz A. Gerges, Professor für International Affairs and the Middle East am Sarah Lawrence College, das Verhalten der arabischen Staaten vor, während und nach dem Irak-Krieg und lässt dabei wenig Raum für Illusionen. "Die Irakkrise hat die arabische Liga diskreditiert und geschwächt. Noch schwerer wiegt, dass sie die alten Mythen von arabischer Einheit und Solidarität und die Bedeutung der arabischen Identität zertrümmert hat. Es ging nicht nur ein tiefer Riss durch die arabische Bevölkerung, sondern ein Großteil stimmte der Invasion und Besetzung ihres Bruderstaates durch eine Fremdmacht auch noch stillschweigend zu. Die arabischen Machthaber standen in den Augen ihres nervösen Volkes in voller Blöße da; letzteres beschuldigte sich noch untereinander mit erhobenem Zeigefinger für das Hängenlassen des Iraks und der irakischen Bevölkerung. Selbst jetzt noch, Monate nach Kriegsende, haben die arabischen Machthaber hinsichtlich ihrer Visionen für einen Irak nach dem Baath-Regime wenig zu sagen."

Paul Berman, dessen Buch "Terror und Liberalismus" demnächst auf Deutsch erscheint, hockt mit einem Freund in der Kneipe und muss sich einen Verräter an der Linken schimpfen lassen, der eine faschistische amerikanische Regierung unterstützt. Da bricht es aus ihm heraus: "'Du hast nicht die leiseste Ahnung, was Faschismus ist', sagte ich. 'Ich habe immer geglaubt, ein leidenschaftliches Bewusstsein für extreme Unterdrückung wäre der tiefste Wesenszug eines linken Herzens. Massengräber, dreihunderttausend vermisste Iraker, eine Bevölkerung, zerbrochen von fünfunddreißig Jahren, in denen Baathisten-Stiefel über ihre Gesichter trampelten - das ist Faschismus! Und du glaubst, ein paar korrupte Insider-Verträge mit Bushs Kumpeln bei Halliburton, ein bisschen rückschrittliches auf die Bibel pochen, Bushs lächerliche Steuerkürzungen und seine Goldgruben für die Superreichen sind davon nicht zu unterscheiden? Ununterscheidbar vom Faschismus? Von einer Politik des Abschlachtens? Die Linke ist angeblich dem Realitätsprinzip verpflichtet. Die Linke verkörpert angeblich die Fähigkeit, das große Bild zu sehen. Der Verräter an der Linken bist du, mein Freund ...'" In Amerika erscheint übrigens im Frühjahr Bermans neues Buch "The Passion of Joschka Fischer".

Außerdem: Michael Walzer (Bücher) nimmt den Irak-Krieg zum Anlass, die Frage nach dem gerechten Krieg weiterzudenken: kann es nach einem ungerechten Krieg eine gerechte Besatzung geben?

Archiv: Dissent

Express (Frankreich), 29.01.2004

Ein höchst interessantes Gespräch über den Begriff und die Realität des Globalisierung führt Sabine Delanglade mit dem linksliberalen (auch das gibt's in Frankreich!) Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen, der sich die "Altermondialisten" gleich mit ein paar ehernen Sätzen zu Feinden macht: "Die Feinde der Globalisierung irren sich, egal ob es sich um die Mullahs handelt, die die westlichen Werte zurückweisen, oder die Feinde des Kapitalismus, für die die Globalisierung eine Ausweitung des Klassenkampfs auf globaler Ebene bedeutet. Sie denken, dass die Globalisierung den Völkern ein Modell auferlegt, das sie ablehnen. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Die Globalierung erzeugt eine Erwartung - nämlich die eines geteilten Reichtums. Und das Drama ist, dass sie diese Erwartung nicht erfüllen kann." Im einzelnen legt Cohen seine Thesen in dem Buch "La Mondialisation et ses ennemis" dar.

Der Express bringt außerdem sehr ausführliche Auszüge aus einer neuen Einstein-Biografie von Francois de Closets "Ne dites pas a Dieu ce qu'il doit faire" (bei Le Seuil) und ein langes Gespräch mit Jack Nicholson.
Archiv: Express

Merkur (Deutschland), 01.02.2004

Jens Bisky beklagt ausführlich die Geschichtsvergessenheit der neuen Ostalgie: "Obwohl die 'ostdeutsche Identität' erst nach der Vereinigung entstand, bilden nicht die Erfahrungen von Revolution, Umbruch, Neuanfang, Krise ihren Kern, sondern Traumbilder, Erinnerungen und Relikte des Sozialismus. Der Eintritt in die Pionierorganisation scheint da wichtiger als der Austritt aus der Partei ... . In der Sprache der deutsch-deutschen Erinnerungsindustrie heißt das: Sigmund Jähn statt Bärbel Bohley, Spreewaldgurken statt Mauerstücke. 'Unsere Heimat' erklingt häufiger als jene unvergessenen Verse, die doch in den achtziger Jahren in NVA-Kasernen gesungen wurden: 'Tausend Meter Stacheldraht / Minenfelder im Quadrat / Weißt du, wo ich wohne? / Ja, ich wohne in der Zone'."

Jörg Lau widmet sich dem Mann, der die linke Öffentlichkeit aufgerollt hat "wie Wal Mart den Einzelhandel": Michael Moore. In ihm einen "Rebellen" zu sehen, geht für Lau "völlig daneben": "Er ist eigentlich ein Seelentröster. Er führt seinem Publikum eine zunehmend verwirrende Wirklichkeit immer wieder als das alte Narrenschiff vor, auf dem nun mal Habgier, Eitelkeit und Torheit regieren. Dass Moores Interventionen von einem Millionenpublikum - und vom deutschen Feuilleton, das sichtlich dankbar ist, endlich einmal mit der Masse gegen das böse Empire marschieren zu können - als linke, aufklärerische Politik missverstanden werden, ist das Zeichen einer intellektuellen und politischen Krise."

Weitere Artikel: "Eine 'Wissensgesellschaft' besteht nicht etwa aus lauter 'Wissenden', sondern vornehmlich aus Leuten, die nicht wissen, wie sie das Wissen ... noch zu durchschaubaren oder wenigstens überschaubaren Einheiten zusammenfassen sollen", eröffnet Christoph Türcke (mehr) seine Überlegungen zu dem Zauberwort "Hypertext", von dem sich seine Apologeten ein Lösung des Problems versprechen. Türcke fürchtet eine Gesellschaft von Lese-Krüppeln: "'Nicht-linear' lesen ist der Knüller für alle, die für eine etwas längere Novelle gar nicht mehr die Ausdauer haben. Unfähig, sich in den Text zu versenken, versenken sie sich in den Computer." Außerdem gestaltet Herfried Münkler die neue Weltinnenpolitik, liefert Ulrich Speck eine Kritik der rot-grünen Regierung und stellt Ulrike Ackermann fest, dass sich Russland seiner Vergangenheit entledigt.
Archiv: Merkur

New York Review of Books (USA), 12.02.2004

Der Drogenhandel floriert, die Warlords mehren ihre Macht, Hilfsorganisationen ziehen sich zurück - es sieht nicht gut aus in Afghanistan, berichtet Ahmed Rashid (mehr hier). Am beunruhigendsten erscheint ihm die Rückkehr der Taliban, die vor allem von Pakistans islamistischer Jamiat-e-Ullema gepäppelt werden. In den Madrassen und Moscheen von Quetta will Rashid sie zu Tausenden gesehen haben, mit ihren "unverwechselbaren schwarzen Turbanen, langen Bärten und ungekämmten Haaren". "Dass die Taliban zwei Jahre nach ihrer Niederlage wieder mit solcher Macht zurückkehren, zeugt hinreichend davon, dass die westliche Unterstützung und Strategie zum Wiederaufbau Afghanistan bisher gescheitert ist", meint Rashid. "In Kabul unterstützen die USA Karzais Regierung, doch auf dem Land haben es die USA versäumt, die Warlords in Frage zu stellen, ihre krasse Verletzung der Menschenrechte, ihren Heroinschmuggel, ihre Ablehnung der Zentralregierung und ihren Widerstand gegen die Demokratie."

Weitere Artikel: Sherwin B. Nuland betrachtet den schon etwas älteren Trend, Ärzte nicht mehr nur Krankheiten behandeln zu lassen, sondern auch schiefe Nasen und gerade Falten. Warren Gamaliel Harding genoss bisher den Ruf, der schlechteste aller amerikanischen Präsidenten gewesen zu sein. Leider, muss Russell Baker feststellen, räumt John W. Dean, einstiger Berater von Richard Nixon, in seiner Biografie mit einigen der tollsten Geschichten auf. Außerdem ist Harding entgegen anderslautenden Gerüchten nicht von seiner Frau ermordet worden. Marshall Frady empfiehlt das Buch "And the Dead Shall Rise", in dem der Journalist Steve Oney den Lynchmord an Leo Franck aufrollt, der - zu unrecht - beschuldigt worden war, eine dreizehnjährige Angestellte seiner Fabrik getötet zu haben.

Daniel Mendelsohn feiert die Verfilmung von Tony Kushners doch recht ambitioniertem Bühnenstück "Angels in America" durch Mike Nichols. Denn in dem Stück geht es nicht nur um Aids in den frühen Achtzigern, sondern auch um Juden, Mormonen und Schwarze, Haufrauen, Drag Queens, Reagan und Tocqueville, um den Teppich von Bayeux und die McCarthy-Ausschüsse und natürlich um Ethel Rosenberg.

Point (Frankreich), 29.01.2004

Mit seinem üblichen rhetorischen Feuer verteidigt Bernard-Henri Levy in seiner Kolumne das umstrittene Gesetz, das auch den Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs in der französischen Schule untersagt. Er verteidigt das Gesetz im Namen der sakrosankten Laizität aber auch im Namen der Mädchen selbst: "Der Schleier ist nicht ein religiöses, sondern ein politisches Symbol. Der Schleier ist nicht ein Zeichen der Frömmigkeit, sondern der Stigmatisierung und des Hasses. Eine Frau aufzufordern, sich zu bedecken, ihr - entgegen der Wahrheit der Texte - zu erzählen, dass das Tragen des Hidjab ein heiliges Gebot sei, ihr zu verschweigen, dass wichtige Kommentatoren im Gegenteil behaupten, der Hidjab sei das alleinige Privileg der Frauen des Propheten gewesen und dass es Anmaßung sei, ihrem Status nachzueifern - das heißt, diese Frau glauben zu machen, ihr Gesicht sei eine Beleidung Gottes, ihr Körper eine Quelle der Sünde, ihr Geschlecht eine Schande. Darum darf man sich nicht fürchten zu wiedeholen: Durch dieses Gesetz wird der Kampf gegen den Schleier zum Kampf für die Freiheit der Frauen." Vive la republique!
Archiv: Point

Spiegel (Deutschland), 02.02.2004

Ein Artikel erzählt die Geschichte des Berater-Booms in der deutschen Politik: "Zum Großangriff auf Deutschlands Amtsstuben bliesen Manager der Unternehmensberatung McKinsey am 30. März 2001". Da nämlich hatte die Zentrale "zum 'Kick-off Meeting' - so reden Unternehmensberater - ins Berliner Westin Grand Hotel geladen. Dort erhielten jetzt zahlreiche 'Meckis' (Branchen-Jargon) aus den Büros von Hamburg bis München ihre Instruktionen: 'Fast 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen in Deutschland in Staatshand', dozierte ein Berater. 'Zur Verbesserung von Effizienz und Effektivität in den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Sektors' müsse McKinsey seine Expertise anbieten. Damit jeder verstand, worum es ging, lieferte der Dozent anschließend gleich die Leitformel: 'Qualität der öffentlichen Dienste verbessern - Öffentliche Gelder einsparen' - und vor allem: 'Großen Markt für McKinsey entwickeln'." Dürfte nicht ganz leicht sein, nach Enron.

Weitere Artikel: Erklärt wird, warum Berlins Diplomaten nach dem Gefangenenaustausch zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz an eine wichtige Maklerrolle Deutschlands im Nahen Osten glauben, warum die Russen Kant ignorieren, warum immer mehr amerikanische Filmstudios in Berlin filmen. Im Interview spricht Romuald Karmakar über seine beiden Filme, die auf der Berlinale laufen ("Land der Vernichtung" und "Die Nacht singt ihre Lieder"), und verkündet sein Credo: "In meinen Filmen muss immer der Zuschauer entscheiden, wer der Arsch ist."

Der Titel berichtet von archäologischen Funden in ostdeutschen Kohlegruben und fragt: "Wurde der Mensch zum Geistwesen, weil er Unmengen an Fleisch verzehrte?"
Archiv: Spiegel

Folio (Schweiz), 02.02.2004

Folio widmet diese Ausgabe dem www. Sein Erfinder, so Stefan Betschon, ist Tim Berners-Lee. Der arbeitet gerade an seinem zweiten Baby, dem Semantic Web: "Das Web ist zurzeit vor allem ein Mechanismus zum Verteilen von Dokumenten", erklärt Betschon. "Die Computer machen sich nützlich, indem sie unermüdlich auch weit entfernte Dokumente apportieren. Wenn es aber um die Auswertung von Dokumenten geht, liegen ihre Fähigkeiten brach. Im Semantic Web sollen den Daten Metadaten beigegeben werden, die etwas über die Daten aussagen: der Inhalt von Webseiten soll maschinell verarbeitbar werden."

Wo es ums Internet geht, da darf der Perlentaucher nicht fehlen. Sieglinde Geisel war zu Besuch im nicht-glamourösen Berliner Büro und hörte den nicht-glamourösen Thierry Chervel nicht-glamouröse Dinge sagen: "Im Wesentlichen funktionieren wir wie eine Würstchenbude - oder wie die Beatles."

Claude Settele ist der Spam-Seuche auf der Spur, und zeigt deren psychoterrorisierende Wirkung auf: "Der Kampf gegen Spam schürt bei vielen Opfern Aggressionen. Im November 2003 wurde ein kalifornischer Programmierer verhaftet, nachdem er einem Spammer gedroht hatte, ihn ausfindig zu machen, zu erschiessen und zum Abschluss mit Bohrer und Eispickel sein Hirn zu bearbeiten." (Übrigens erfährt man hier auch, woher das Wort Spam höchstwahrscheinlich kommt).

Was UND Wann OR Wo: Gerald Jatzek und Franz Zauner durchforsten das Dickicht der Suchmaschinen und enthüllen einige Tricks der Seitenbauer, die so manch eine erfolglose Suche erklären: "Man kann gleichzeitig unsichtbar und interessant sein. Manche arbeiten einfach die meistgesuchten Begriffe in weißer Schrift auf weißem Grund in ihre Seiten ein. Das blinde Suchprogramm sieht so Stichwörter, die der menschliche Besucher nie zu Gesicht bekommt."

Weitere Artikel: Für Clay Shirky steht fest: Die Printmedien werden in Zukunft auf Spenden angewiesen sein. Harald Willenbrock beschreibt die Webseite parship.de, eine gigantische Liebesmaschine mit fast 535.000 Anschlussstellen - und Romantik. Watching Big Brother: Christian Sywottek stellt Maurice Wessling und die Netzwerk-Bürgerrechts-Organisation BOF vor. Daniel Weber porträtiert den Mann, der Ihr Handy zur Jukebox macht: Jürg Bühler, Chefdirigent bei Infowing. Christoph Drösser sieht der Musikindustrie dabei zu, wie sie auf moderne Probleme mit alten Lösungen reagiert. Andreas Heller fragt sich, warum man in Estland einfach alle bürokratischen Botengänge übers Internet erledigen kann (hier die estnische Regierungsseite auf Englisch), während man in der Schweizer Musterdemokratie per Mausklick nur Hundemarken bestellen kann. Und schließlich stellt Luca Turin den vollkommenen Blumenduft vor: "Beyond Paradise", komponiert von der "großartigen Künstlerin" Calice Becker für Estee Lauder.
Archiv: Folio

Nouvel Observateur (Frankreich), 29.01.2004

Heute nur Besprechungen im Nouvel Obs. Aude Lancelin porträtiert den Philosophen Paul Ricoeur (mehr), der - einst ein "Opfer der strukturalistisch-marxistischen Mode" und inzwischen 90-jährig - ein neues Buch vorlegt, das eine "spektakuläre Rückkehr zur Nachsicht" belegt: "Parcours de la reconnaissance" (Stock). "Was an Ricoeurs Weg erstaunt, ist, dass er stets gegen die Verführungen des typisch französischen Radikalismus gefeit war. 'Übe nie Macht in einer Weise über einen anderen aus, wie du es dir selbst verbitten würdest': Diese Regel sollte der Schüler von Jean Nabert und Gabriel Marcel schon früh ins Zentrum seiner Abscheu vor politischer Gewalt stellen."

In Frankreich ist es derzeit offenbar Mode, dass Schauspieler Romane schreiben. Warum nur, fragte der Obs einige der Neuromanciers, darunter Marlene Jobert, Bernard Giraudeau, Anny Duperey und Daniel Auteuil. Jobert, die ein Kinderbuch geschrieben hat, tat dies, weil ihre Töchter ihre "eigenen, erzählten Geschichten viel lieber mochten als vorgelesene", und Auteuil schätzt das Schriftstellerleben, in dem er seinen "eigenen Rhythmus bestimmen kann. Ich fange um acht Uhr früh mit einem Satz an und habe ihn um fünf Uhr nachmittags fertig, ohne dabei irgendwelchen Stress zu haben."

Vorgestellt wird außerdem ein Band mit dem Briefwechsel von Paul Eluard und Jean Paulhan zwischen 1914 und 1944 und eine Ausgabe der "Chronique de la Fronde" von Madame de Motteville (mehr, allerdings auf Englisch), die am Hof Louis XIII. lebte und über das Leben und die Intrigen im Palast schrieb (Mercure de France).

New Yorker (USA), 09.02.2004

Paul Goldberger durchleuchtet die "architektonischen Machenschaften" im Rennen um die Gestaltung von Ground Zero - die sich noch als äußerst "tückisch" erweisen könnten. "Im Augenblick sieht die Gestaltung eine peinliche Spitze vor, die teilweise auf frühe Pläne von David Child für eine symmetrische Kuppe, teilweise auf Daniel Libeskinds Vorschläge für eine asymmetrische Turmspitze zurückgeht sowie auf einen Entwurf des Ingenieurs Guy Nordenson, der sich ein Kabelsystem ausgedacht hat, das eine Gruppe von Windmühlen umschließen soll." Das habe so "weder etwas mit Libeskinds fesselnden Skizzen, noch mit Childs Ursprungskonzept zu tun. Es ist eine künstliche, aufgesetzte Mischung der Arbeit beider Architekten, die beide geglaubt hatten, die Gestaltung des Gebäudes selbst übernehmen zu können."

Weiteres: In einem ausführlichen Porträt stellt Hilton Als den karibischen Lyriker und Literaturnobelpreisträger Derek Walcott (mehr hier und hier) vor. Philip Gourevitch beschreibt den Aufstieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Kerry ("der steifste Kandidat im generell humorfreien demokratischen Vorwahlkampf"). Ben Grath kommentiert die jüngste wissenschaftliche Erkenntnis eines Zahnmedizinprofessors: die lernunterstützende Wirkung des Kaugummikauens ("Die wirklich bedeutenden wissenschaftliche Entdeckungen - wie Schwerkraft, Lachgas und Klettverschluss - scheinen immer zufällig gemacht zu werden"). Nancy Franklin beschreibt schließlich, warum es so schwer ist, sich von den Eltern zu lösen. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Last Words on Earth" von Nicole Krauss.

Besprechungen: Anthony Lane rezensiert die Autobiografie des Drehbuchautors Jozsef Esterhas, "Hollywood Animal", und in den Kurzbesprechungen wird unter anderem ein Buch über einen polnischen Offizier gelobt, der ab 1972 die Amerikaner mit hochgeheimen Papieren versorgte. David Denby fand, der "interessanteste Charakter" in Bertoluccis neuem Film "The Dreamers" sei die Pariser Wohnung, in der er spielt: "Ein Treibhaus - in dem die Luft leicht stickig werden kann." Und Peter Schjeldahl resümiert die gerade zu Ende gegangene Ausstellung "Here Is Elsewhere", die die libanesisch-britische Künstlerin Mona Hatoum aus den Beständen des Museum of Modern Art in Queens zusammengestellt hatte.

Nur in der Printausgabe: Porträts eines Obersts, der Häftlinge verteidigt, und eines Mannes, der von New York nach London ging, um dort die U-Bahn zu retten. Und Lyrik von Michael Ryan, Constance Merritt und Gerald Stern.
Archiv: New Yorker

Radar (Argentinien), 02.02.2004

In der spanischsprachigen Welt ist er der wohl derzeit am höchsten gehandelteste Schriftsteller: Enrique Vila-Matas aus Barcelona. Sein neuestes Buch, "Paris no se acaba nunca" hat vergangenes Jahr in Spanien regelrechte Begeisterungsstürme ausgelöst. Vereinfacht gesagt handelt es sich um eine Art Memoiren über die Pariser Lehrjahre des Autors. Sein Kollege Rodrigo Fresan hat Vila-Matas für Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12 interviewt. "Einverstanden, in all meinen Büchern kommen Schriftsteller vor und Bücher (...). Es ist, als ob für mich die Figur des Schrifstellers ein perfekter Behälter wäre, ein Glas, das meine ganze Sicht auf das Leben und den Sinn der Dinge enthält. Das ist mein Thema, das sind meine Themen. Es geht um die Art und Weise, wie Literatur überall auftaucht", gibt Vila-Matas zu Protokoll.

Außerdem in Radar: die Wiederentdeckung eines kuriosen US-Comics, mit dem 1959 die damals erst sechs Monate alte kubanische Revolution gepriesen wurde. Schöpfer der Bildgeschichte mit dem schönen Titel "The Man with the Beard!" war Stan Lee, der später mit Spiderman berühmt werden sollte. Zudem bespricht die Kulturbeilage die Ausstellung "Die Rückkehr der Giganten", die derzeit in Buenos Aires zu sehen ist. Dabei geht es um deutsche Malerei zwischen 1975 und 1985. Die Werke von Georg Baselitz, Markus Lüpertz, Jörg Immendorf und vielen anderen stammen aus der Sammlung der Deutschen Bank. Kritikerin Maria Gainza kommt zu einem zwiespältigen Urteil und fühlt sich "in eine Sackgasse gedrängt": gute Künstler seien das allemal, aber die Auswahl ihrer Werke lasse doch einiges zu wünschen übrig.
Archiv: Radar

Times Literary Supplement (UK), 30.01.2004

John McCrone hat sich durch einen Stapel von Büchern über das Funktionieren unseres Gedächtnisses geackert und weiß Tröstliches zu berichten: "Je intensiver Psychologen unsere Fähigkeit zur Erinnerung untersuchen, um so deutlicher wird, dass wir vergessen, verzerren, verändern, aussondern und generalisieren." Kein Wunder: "Von einem strikt biologischen Blickpunkt, ist der Begriff Erinnerung falsch. Gehirne sind nicht fürs Nachdenken und Rückblicken entwickelt, sondern für Absichten und Vorwegnahmen - um nach vorne zu blicken, nicht zurück, eher nach außen als nach innen; um zu selektieren, nicht um zu bewahren. Dafür hat die Evolution ihren Job gut gemacht."

Clive James hat sich die Nächte mit der Mafiaserie "Die Sopranos" um die Ohren geschlagen, die es jetzt endlich auf DVD gibt. "Das Gesetz existiert hier nur, um verspottet zu werden; Macht nur, um ausgespielt zu werden; Skrupel nur, um nachgeäfft zu werden. Es ist entsetzlich. Ich liebe es."

Charles Allen erzählt in seinem Buch "Duel in the Snows", wie Lord Curzon, Vizekönig von Indien, eine Invasionsarmee nach Tibet marschieren ließ, weil er glaubte, dass Russland dort gewaltige Waffendepots angelegt hatte. Waffen wurden natürlich nicht gefunden, und John Ure ist nicht nur aus gegebenem Anlass begeistert. Und Lucy Daniel lobt die von Terry Castles üppige, witzige und machtvolle Anthologie "The Literature of Lesbianism", die Texte über lesbische Frauen versammelt.
Stichwörter: Tibet, Lorde, Evolution, Sopranos

Economist (UK), 30.01.2004

Der Ausgang der Hutton-Kommission gibt dem Economist die Gelegenheit, der gescholtenen BBC den Gnadenstoß zu geben. Andrew Gilligans Bericht liege durchaus nicht unterhalb, sondern innerhalb des üblichen BBC-Niveaus: "Traurig, traurig, aber dieser Bericht ist typisch für einen Großteil des modernen britischen Journalismus: Die angeblichen Neuigkeiten werden so verdreht oder verfälscht, dass sie mit dem, was nach Meinung des Journalisten die eigentliche Wahrheit ist, übereinstimmen."

Hier sind sie, die Namen der russischen Präsidentschaftskandidaten: Volodya, Vova, Vovka, Vovochka, Vovik, Vovchik, Vladimir Vladimirovich, und VVP. "Wie sie ihn auch nennen, es gibt kein Zweifel, wer gemeint ist. Wladimir Putins Name ist der einzige, den es sich am Wahltag zu kennen lohnt."

Weitere Artikel: Im Gezerre um die unsichtbaren Massenvernichtungswaffen besteht der Economist auf einen feinen Unterschied: George Bush und Tony Blair haben übertrieben - nicht gelogen. In den Augen des Economist hat John Kerry nicht nur ein Mount-Rushmore-Profil, sondern auch politische Substanz. Die britische Hochschulreform findet der Economist lobenswert: Jetzt haben die Universitäten wenigstens eine Zukunft, die sie planen können. Bill Gates wird gleich mehrmals geschlagen: zum Ritter von Queen Elizabeth, aber vielleicht auch beim IT-Monopoly.

Außerdem zu lesen: Ein Nachruf auf den "unverhofften Überlebenden" einer pseudomedizinischen Studie, jetzt aber wohl doch toten Ernest Hendon und die Besprechung von John McWhorters Studie "Doing Our Own Thing", die sich - ohne Pedanterie - mit der zunehmenden Degeneration des Englischen beschäftigt.

Nur in der Printausgabe zu lesen: Im Aufmacher wird gefragt, ob John Kerry der Mann ist, der George Bush schlagen kann.
Archiv: Economist

New York Times (USA), 01.02.2004

Eine große Zukunft sagt Dwight Garner dem "Fountain at the Center of the World" (erstes Kapitel) voraus. Es würde mich tatsächlich nicht wundern wenn Robert Newmans Buch zu einer Art "Catch 22" (mehr) der Antiglobalisierungsbewegung werden würde", schreibt Garner. "Es liest sich so, als wäre Tom Wolfe (mehr) in den Kopf von Noam Chomsky (mehr) eingestiegen - elegant und wütend verbrennt es eine ganze menge Erde."
Und auch Richard Eder kommt aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. "Großartig, komisch und menschlich unerbittlich" schildere A. B. Yehoshua in "The Liberated Bride" (erstes Kapitel) die "brillante und verwunderliche" Reise eines israelischen Professors auf einen anderen nahen Planeten: die Welt seiner arabischen Studenten. Was den Roman so bemerkenswert mache, ist die einfache aber erstaunliche Beobachtung des Autoren. "Selten sind nicht die Fälle, in denen Juden Arabern helfen, selten ist dagegen, dass sich jemand helfen lässt."

Weitere Besprechungen: Der Ton ist alles in Elmore Leonards (mehr) vierzigstem Buch, konstatiert Ann Beattie, und natürlich ist "Mr. Paradise" (erstes Kapitel) wieder ein Krimi. Ironisch gehalten, aber mit ernsten Themen: Moral, Verantwortung, die Fehler der Geschichte. Und der brillanten Feststellung, dass "es oft dumme Leute sind, die über den Ausgang wichtiger Vorgänge entscheiden". Für bedeutsam hält James K. Galbraith David Cay Johnstons Untersuchung des amerikanischen Steuersystems, "Perfectly Legal" (erstes Kapitel). Und David Gates gratuliert Ezra Pound (mehr auf einer ertragreichen japanischen Seite). Mit der voluminösen Ausgabe seiner frühen Gedichte und Übersetzungen sei er endlich da angelangt, wo er schon längst hingehöre: an die Seite von Poe, Emerson, Frost und Stevens. Diesen Platz hat er sich auch mit Übersetzungen chinesischer Lyrik verdient. Zum besseren Verständnis ein Beispiel aus ''The River-Merchant's Wife: A Letter'': ''The paired butterflies are already yellow with August / Over the grass in the West garden, / They hurt me."
Archiv: New York Times