Im Kino

Gewebe der Wirklichkeit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
06.01.2016. Zwei Filme für die Oskarsaison: Alejandro González Iñárritus grandioser Kunstporno "The Revenant" sucht die äußerste Realität und ein verloren gegangenes Erfahrungsspektrum. Tom Hoopers Transgenderdrama "The Danish Girl" führt in eine entweltlichte Welt, in der die Abblende regiert.


Lange hatte es bei den frühlingshaften Temperaturen der letzten Wochen so ausgesehen, als müsste man für ein zünftiges Winterfrosterlebnis in diesem Jahr ins Kino gehen. Neben "Star Wars - Die Macht erwacht" und Quentin Tarantinos "The Hateful Eight" (Kinostart Ende Januar) kommt dafür besonders Alejandro González Iñárritus Survival-Western "The Revenant" in Frage: Basierend auf der wahren, von Michael Punke im Roman "Der Totgeglaubte" frei erzählten Geschichte des Trappers Hugh Glass (im Film: Leonardo DiCaprio), der bei einer Expedition im Jahr 1823 von einem Bären angefallen und für tot erklärt wurde, den Angriff tatsächlich aber überlebt und sich schwerverletzt 300 Kilometer weit durch die Wildnis geschlagen hatte, ist Iñárritus transzendent überhöhter Film bestens geeignet, einem selbst noch im warmen Kinosaal virtuelle Frostbeulen zu bescheren.

Auf kleine Gesten lässt es Iñárritu, der im Gegenwarts-Autorenkino auf ausgestellte Virtuosität vielleicht versessenste Filmemacher, gar nicht erst ankommen. "The Revenant" ist große Strapaze, transzendente Schmerzüberhöhung, existenzialistische Erfahrung, Erhabenheitsporno und Kunstwollen mit der Brechstange. Oder kurz: Heilige Kino-Kathedrale, auf eine Weise hochgepitcht, dass es bei der Pressevorführung mitunter zu Abwehrreaktionen in Form von glucksendem Gegiggel kam, da "The Revenant" sich, seiner Figur und seinem Publikum als demonstrative Extremzustand-Erfahrung im Pathos heiligen Ernsts wirklich nichts schenkt.

Auch die ersten Berichte und Kritiken lesen sich so. Wohl von Produktion und Verleih lanciert, geht es vor allem um Produktionsaspekte, die zugegeben hinreichend beeindruckend sind: Gedreht mit der neuen, ungewöhnlich klare Bilder hervorbringenden Digitalkamera Alexa 65, deren beträchtlicher Sensorgröße nachgesagt wird, nicht nur an die Qualität von klassischem 70mm-Material heranzureichen, sondern auch eine höhere Lichtempfindlichkeit im Vergleich zu Filmmaterial aufzuweisen, ohne bei dunklen Szenen Artefaktrauschen hervorzurufen, entstand der Film im wesentlichen in Wildnis und klirrender Kälte unter Naturlicht-Bedingungen. Kameramann Emmanuel Lubezki erklärt in Interviews, dass die Alexa 65 ein besonders immersives Erlebnis begünstigt, bei dem die Leinwand als trennende Membran ein Stück weit aus dem Bewusstsein verschwindet (was tatsächlich der Fall ist); und DiCaprio lässt die Academy indirekt wissen, dass die Dreharbeiten tatsächlich so strapaziös waren, wie es nunmal ist, wenn man in Kanadas Wintermonaten mit wenig Kleidung durch den Wald robbt oder gleich im kalt dampfenden Flusswasser landet. Und selbstredend kommen alle auf den (Entwarnung: digital, aber beeindruckend bewerkstelligten) Bären zu sprechen, der in einer der intensivsten Sequenzen DiCaprio, nein, nicht etwa vergewaltigt, wie es gelegentlich hieß, aber auf eine Weise minutenlang in die Mangel nimmt, die um Leib und Leben des Weltstars fürchten lässt.



Uninteressant ist dieses Diskursrauschen nicht, aber es handelt sich dabei um Sensationsgeklimper, das im Segment des technisch hochavancierten Arthouse-Blockbusters aus Werbezwecken notwendig geworden ist. Vielsagend ist es aber doch, zumal Aspekte der Produktion auch im Fall des zweiten großen Winterfilms der Saison, "The Hateful Eight", den bisherigen Diskurs beherrschen. Beide Filme spielen vor zivilisationsabgeschiedener Kulisse in der amerikanischen Wildnis des 19. Jahrhunderts, doch anders als "The Revenant" ist Tarantinos Western auf 70mm und im seit den 60ern nicht mehr genutzten Ultra Panavision 70 gedreht. Beide versprechen ein Erfahrungssubtrat, das ein physisch besonders anspruchsvoller Produktionsaufwand glaubhaft in Aussicht stellt (und auch beim neuen "Star Wars" legte man Wert auf die Feststellung, dass er auf 35mm gedreht wurde und digitale Effekte, im Verhältnis zum Genre-Standard, zögerlich einsetzt).

Falls der Befund also stimmen sollte, dass im Zuge der Vergadgetisierung des Alltags die äußere Realität abhanden kommt (oder sie zumindest im Erfahrungsspektrum ihre privilegierte Position verliert) und die Welt sich zusehends insofern verfenstert, als wir an ihr mehr und mehr über Displays teilhaben, dann stellen die hartnäckigen Intensitäten eines Films wie "The Revenant" vielleicht so etwas wie eine outgesourcte, nostalgisch-melancholische Reverenz dar; beziehungsweise eine (unter aktuellen technischen Bedingungen) maximale Totemisierung dessen, was den westlichen Industrienationen in ihren (selbstredend: zum Glück) relativen Behaglichkeitszonen als Erfahrungsfundus abhanden gekommen ist: Die Geworfenheit in eine erbarmungslose, für den Mensch und seine Bedürfnisse zunächst nicht gemachte Welt vor deren Bändigung durch den (europäisch gedachten) Zivilisationsprozess, der in "The Revenant" nur in schlammig-holziger und mit sichtlichem Genuss texturreich ausgeschmückter Frühform ins Bild tritt. Umso wichtiger werden die Umstände der Produktion, um diese Erfahrungsgüte vorab zu beglaubigen - begleitet von der Versicherung, dass der technische Apparat beim Filmerlebnis zum Verschwinden gebracht werde.

Als Kinoerfahrung ist das, man kann es nicht anders sagen: zutiefst beeindruckend und über weite Strecken von hypnotischer Qualität (solange man keine glucksend-giggelnde Ulknudel ist). Was auch am körperlichen Spiel Leonardo DiCaprios liegt, mit dessen Grind und Schorf und schiefen Zähnen man im Verlauf des Films auf intime Weise bekannt wird, mehr noch aber an Emmanuel Lubezkis Kameraarbeit, dessen im Lauf der letzten zehn Jahre verantworteten Filme man als eigenständig auteuristischen Zusammenhang begreifen müsste: Der Look des späten Terrence Malick ist zum nicht unwesentlichen Teil ihm zuzuschreiben, daneben war er für so ziemlich jeden weiteren relevanten Arthouse-Blockbuster der letzten Jahre verantwortlich und verfeinerte und intensivierte dabei sein Konzept einer einerseits scheinbar frei schwebenden, andererseits von einer ganz eigenen Gravitas gebundenen, das Gewebe der Wirklichkeit auf immer neuen Bahnen neu durchdringenden Kamera (auch "Gravity" stammt von ihm). Iñárritus "Birdman" und nun "The Revenant" stellen die vorläufigen Höhepunkte dieses Projekts einer aufs Neue entfesselten Kamera dar: In "The Revenant" interessiert Lubezki vor allem die dynamische Opposition von extremer Nähe und extremer Ferne - seine Kamera umschmiegt die Figuren auf beinahe obszöne Weise, nur um immer wieder umzuschlagen in brillante Landschafts-Panoramen, die dem Postkarten- und Jugendzimmer-Kitsch aus der Ferne zwar zuwinken, sich in ihn aber nicht verstricken.

Einzig schade, dass Iñárritu seinen Film über dann doch zu sehr kunstwollende Rückblenden mit Spiritualitätsgehuber auflädt: Da wird dem Trapper eine Hintergrundgeschichte angedichtet, die ihn als Grenzgänger zwischen Pionieren und indigener Bevölkerung in Szene setzt, der mit einer Frau unter den Native Americans gelebt hatte, die bei einem von Weißen durchgeführten Massaker ums Leben kam. Wenn DiCaprio im Rückblick vor Schädelstätten sinniert und seine tote Gattin über ihm schwebt, wirkt das wie Westentaschen-Spritualität für sensorisch Arme. Dem Quasi-Actionfilm mit klar definiertem Bewegungvektor, der "The Revenant" (darin, als Schnee-, Zufuß- und Zentimeter-für-Zentimeter-Film, dem Wüsten-, Auto- und Meile-für-Meile-Film "Mad Max: Fury Road" gar nicht mal unähnlich) über weite Strecken auch ist, stehen diese Ausflüchte ins verquast Esoterische etwas im Wege. Zum Glück reicht die Wucht, die der Film entwickelt, locker aus, diese Sequenzen in den Hintergrund zu rücken.

Thomas Groh

The Revenant - USA 2015 - Regie: Alejandro González Iñárritu - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Tom Hardy, Domnhall Gleeson, Will Poulter, Forrest Goodluck, Paul Anderson - Laufzeit: 156 Minuten.

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Hinter dem kleinen, rechteckigen Fenster räkelt sich eine nackte Frau auf einem Stuhl, blickt lasziv ins Nichts, streichelt sich mit den Händen über Gesicht und Brüste. Vor dem kleinen, rechteckigen Fenster sitzt ein angezogener Mann auf einem Stuhl, blickt gebannt auf die Frau - und streichelt sich ebenfalls mit den Händen über Gesicht und (die noch flachen) Brüste. So ist das Dispositiv "Peep Show" nicht gedacht. Das basiert normalerweise auf der absoluten Trennung von (männlichem) Blick und (weiblichem) Körper. Wenn Einar Wegener (Eddie Redmayne) die anonyme, als Blickobjekt käufliche Schöne betrachtet, dann konfrontiert ihn das dagegen mit seinem eigenen Leib. Beziehungsweise, ähnlich wie in Lacans Theorie des Spiegelstadiums, mit dessen Makel: Der Maler fühlt sich als Frau, muss aber vorläufig noch in einem männlichen Körper leben.

Einar Wegener lebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Dänemark und Frankreich. Bevor er sich dazu entschloss, sich einer der ersten vollständigen chirurgischen Geschlechtsumwandlungen zu unterziehen, erfand er als Behelfslösung die Zweitidentität Lili Elbe: Unter diesem Namen wurde in den 1910ern eine schlanke, hochgewachsene Dame in die Pariser Künstlerszene eingeführt - an der Seite von Einars Frau Gerda Wegener (im Film: Alicia Vikander), die ihrerseits ebenfalls Malerin war und nicht zuletzt mit ihren Elbe-Porträts einigen Ruhm erlangte. Eine historisch verbürgte Geschichte über die Komplexität geschlechtlicher und sexueller Erfahrung, der sich "The Danish Girl" freilich, darauf wurde von verschiedenen Seiten (zum Beispiel hier) hingewiesen, nicht in vollem Umfang stellt - unter den Tisch fällt in der Filmversion unter anderem Gerda Wegeners lesbisches Begehren.

Freilich hat eine Kritik, die strikt identitätspolitisch argumentiert, immer etwas polizeiartig Autoritäres an sich, weil sie Filme auf Repräsentationsverhältnisse und Sprecherpositionen scannt, aber sich kaum für Bilder und Darsteller interessiert. Und zum Beispiel auch die schönen Szenen zu Filmbeginn übersieht, die sich der Erfindung / Entdeckung der Lili Elbe widmen. Wie die großartig exaltiert, wirbelwindhaft aufspielende Vikander dem manchmal etwas zu bemüht virtuos, aber schon auch einnehmend intensiv aufspielenden, 1000 kleine Ticks kultivierenden Redmayne Frauenkleider anlegt, zuerst nur als Notlösung, weil ein anderes Model nicht verfügbar ist. Wie dann beide Spaß an der Sache finden, wie sie gemeinsam das Gehen auf Stöckelschuhen üben, wie sie ihm / ihr beim Schminken hilft. Wie die beiden sich schließlich als weibliches Doppel in die Öffentlichkeit wagen, nervös und aufgeregt. Zwischendurch schlüpft Redmayne wieder in Männerkleidung und, nun wieder als Einar, auch mit seiner Frau ins Bett.

Aber was wird daraus, aus dem Sex, auch aus der Liebe der beiden, wenn Lili Elbe Permanenz beansprucht, wenn irgendwann nicht mehr Kleider, sondern Geschlechtsteile ausgetauscht werden? Die ersten 20, 30 Minuten des Films entwerfen das berückende Modell eine Zweierbeziehung mit offenem Horizont: Alle sozialen, sexuellen, künsterischen Rollen stehen in jedem Moment auf dem Spiel; jede Berührung, jeder Schritt, jeder Blickwechsel ist potentiell eine neue Erfahrung. Jede Berührung vor allem. Denn Lili Elbe ist das Werk nicht eines, sondern zweier Menschen. Komplett verliert sich die filigrane Eindringlichkeit dieser frühen Szenen, die unbedingte Intimität, die sich zwischen Redmayne und Vikander herstellt, auch im weiteren Film nicht.



Aber sie wird von allen Seiten umstellt. In stilistischer Hinsicht ist sie das von Anfang an. Vor allem, weil der Regisseur Tom Hooper auf die ebenso naheliegende wie fatale Idee verfällt, seinen Film über zwei Maler auch ganz besonders "malerisch" zu gestalten. Das heißt: Es gibt jede Menge pittoreske Ton-in-Ton-Kompositionen, Hausfassaden zerfließen allerliebst in ihren Wasserspiegelungen, die Boheme-Welt erscheint als eine endlose Abfolge überkandidelter Fassnachtkostümparty-Stillleben. Bilder, die mit allerlei dekorativem Krust vollgestellt sind und gleichzeitig eine sonderbar leere, entweltlichte Welt entwerfen.

Solange Redmayne und Vikander weitgehend für sich sind, ist auch das nicht ohne Reiz, schließlich schaffen die beiden tatsächlich eine eigene, andere, offensiv künstliche und gerade darin wahrhaftige Welt. Sobald allerdings das Biopic- und Historienfilmartige stärker durchschlägt, verliert "The Danish Girl" rapide an Intensität. Hoopers Arbeit mit Schauspielern ist, das hatte auch seine auf ähnliche Weise zwiespältige "Les Miserables"-Version gezeigt, nicht uninteressant, weil er ein Gespür für das richtige Maß an Exzentrik hat; als Erzähler allerdings ist er einerseits schrecklich pedantisch und andererseits ein allzu konventioneller Rhetoriker. Es geht nicht um Menschen, die in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort leben, sondern um Punkte, die gemacht werden wollen; und die dann auch so aussehen: gemacht.

Der Punkt "Homophobie" zum Beispiel: Zwei Rumtreiber mit französischem Akzent attackieren Lili im Park! Aber schnell abblenden, bevor es schmutzig wird... Oder der Punkt "medizinische Grausamkeiten, die glücklicherweise der Vergangenheit angehören": Lili wird, zwecks Austreibung von Weiblichkeit, auf einem Behandlungstisch festgeschnallt! Bösartiges Gerät nähert sich dem zitternden Körper, der in Aufsicht, lang ausgestreckt, dem Insektenforscherauge dargeboten wird. Dazu wummert der (leider durchweg unerträgliche) Soundtrack besonders unglücksverheißend; dann aber doch gleich wieder eine Abblende, gerade noch rechtzeitig.... Geschichte vollstreckt sich, geschmackvoll geframt, an Menschen.

Lukas Foerster

The Danish Girl - GB, USA 2015 - Regie: Tom Hooper - Darsteller: Eddie Redmayne, Alicia Vikander, Adrian Schilling, Amber Heard, Emerald Fennell, Matthias Schnoenaerts - Laufzeit: 119 Minuten.