Im Kino

Chronik einer Doppelbewegung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
26.01.2022. Paul Thomas Anderson driftet in "Licorice Pizza" über die Beziehung zwischen einem 15jährigen Schauspieler und einer 25jährigen Fotografin im Los Angeles der Siebziger durch die verschiedenen Zustände des Verliebtseins: Generöse Jungsfantasie, Sittenbild einer Kulturindustrie im Umbruch - und ein exquisiter Straßenköter von einem Film. Wen Shipei tastet sich in seinem stylishen Neo Noir "Are You Lonesome Tonight?" durch atmende Räume, schummrige Bars und eine von Einzelgängern bevölkerte Welt.


Es beginnt schon in Bewegung, mit einer Bewegung, die sich an eine andere heftet, mit einem Begehren, das ebenso beweglich ist wie sein Objekt: Gary (Cooper Hoffman) läuft neben Alana (Alana Haim) her, genauer gesagt umschwirrt er sie, mal ist er vor ihr, mal hinter ihr, er redet auf sie ein, sie lacht ihn aus, und am Ende dieser ersten Bewegung des Films hat sie dennoch halb zugesagt, mit ihm auszugehen.

Keineswegs lässt sich die furiose Eingangsszene auf einen erfolgreiche Anmache reduzieren - das Date kommt und geht, aber das ist nicht der Punkt. Nicht die Chronik einer Beziehung entwirft "Licorice Pizza", sondern die Chronik einer Bewegung. Beziehungsweise die Chronik einer Doppelbewegung, die Chronik zweier Bewegungen durch das Los Angeles der 1970er Jahre, die des 15-jährigen Jungschauspielers (und später Jungunternehmers) Gary und die der 25-jährigen Fotografin Alana. Der Altersunterschied, gleich im ersten Gespräch thematisiert, ist eine der zentralen Triebkräfte der Bewegung, einer der Gründe dafür, warum sie nie zum Stillstand kommen oder zumindest in den konventionalisierten Bahnen einer klassischen romantischen Komödie kanalisiert werden kann.

Die Beziehung von Gary und Alana auf den auf Twitter und anderen Erregungsmedien erwartungsgemäß brutalstmöglich ausgeschlachteten hebephilen Beigeschmack zu reduzieren hieße freilich ebenfalls, die Bewegung gleich wieder still zu stellen. Tatsächlich geht es eher um verschiedene Dimensionen von Unreife, um eine junge Frau, die noch bei ihren Eltern wohnt und in einem Dead-End-Job festhängt, und ein noch jüngeres Großmaul, das glaubt, die Welt läge ihm zu Füßen und sich von diesem Glauben auch durch das jähe Ende seiner Schauspielkarriere nicht abbringen lässt. Alana wird von Garys Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein genauso angezogen wie Gary von Alanas ironischer Abgeklärtheit - und freilich auch von ihren erigierten Nippeln, die sich unter ihrem Oberteil abzeichnen; eine erotische Markierung, die bereits im ersten Poster des Films präsent war und "Licorice Pizza" durchaus als feuchten adoleszenten Jungmännertraum kennzeichnet.

Ein Traum zumal, der im fertigen Film keineswegs durch ein böses Erwachen desavouiert wird. Vielmehr zeigt Paul Thomas Andersons Film, wie reichhaltig und generös eine Jungsfantasie sein kann, wenn sie nicht auf Vollzug und Eroberung angelegt ist, sondern frei und ungebunden mäandern darf. "Licorice Pizza" ist ein exquisiter Straßenköter von einem Film: er schnuppert mal hier und mal da und gelegentlich auch in einigermaßen fragwürdigen Winkeln, und vor allem lässt er sich leicht ablenken: Ein Blick ins Schaufenster, und schon wird Gary zum Wasserbettenverkäufer, ein Blick auf ein Wahlplakat, und schon wird Alana nicht nur zur Wahlhelferin in einer Senate-Campaign, sondern ihrem eigenen Selbstverständnis nach gleich zu einer Politikerin. Aber er beißt nicht, dieser Straßenköter, und außerdem schaut er in seinen warmen 35mm-Farben so putzig aus, dass man ihm unmöglich ernsthaft böse sein kann.



Kurz und gut: ein Film, der den Stillstand scheut. Manchmal verlaufen die beiden Bewegungen, die sein Zentrum bilden, parallel, wie etwa in der ersten Flirtszene; manchmal führen sie zueinander, wie etwa, wenn sie zur Polizeistation rennt, wo er mit Handschellen an eine Wartebank fixiert ist, oder wenn sie vom Motorrad fällt und er über eine Wiese auf sie zu rennt, um sie zu trösten; und manchmal führen sie auseinander, etwa wenn er auf einer Party für einmal doch mit einer Gleichaltrigen knutscht und sie frustriert im Bikini durch das nächtliche Los Angeles flüchtet, wieder einmal nach Hause zur Familie, die ihrerseits den ganzen Film über bewegungslos auf der Coach liegen bleibt. Für Gary und Alana hingegen ist Bewegung auch dann, wenn sie nirgendwo hinführt, das einzige, alternativlose Medium ihrer Existenz und auch ihrer Liebe, und der Film ist darin mit ihnen uneingeschränkt solidarisch.

Soll heißen: Die Bewegungen von Gary und Alana sind, fast eins zu eins, die Bewegungen des Films. Anderson blickt nicht von außen auf seine Figuren, sondern macht sich gleich mit ihrem Driften. Mit ihrem von einem perfekt kalibrierten Popmusiksoundtrack beflügelten (wie das Einsetzen von Gesang Menschen plötzlich schweben lässt - ein simpler Zaubertrick, der freilich auch beim zehnten Mal noch funktioniert) Driften durch die verschiedenen Zustände des Verliebtseins, und auch mit ihrem Driften zu Fuß durch die Autostadt LA - wenn doch einmal ein Wagen zur Hand ist, ist grad zufällig Ölkrise und das Benzin alle, aber selbst das stellt den Film nicht still: die Schwerkraft übernimmt und Traumfrau Alana erweist sich neben allem anderen noch als begnadete Rückwärtspilotin.

Ohne je die zentrale Begehrensstruktur aus den Augen zu verlieren ist "Licorice Pizza" vieles nebenbei: Stadtbild, Zeitbild, schließlich auch noch Sittenbild einer Kulturindustrie im Umbruch. Gary selbst verdankt seine kurze Showbiz-Karriere den letzten Ausläufern des Old Hollywood, aber in der Zeitung wird bereits "Deep Throat" beworben. Toll die verstohlenen Blicke, die sich Gary und Alana angesichts dieser Anzeige zuwerfen, wie überhaupt "Licorice Pizza" als Historienfilm immer dann funktioniert, wenn er seine durchaus zahlreichen popkulturellen Exkurse - der immer wieder gezogene Vergleich mit Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood" ist nicht an den Haaren herbei gezogen, aber am Ende vermutlich nicht allzu ergiebig - auf die Gefühlswelt der beiden Hauptfiguren bezieht: als ein weiteres Bewegungsmoment.

Eher bemüht wirken hingegen ein paar Szenen, die sich an einem in engerem Sinne kritischen, revisionistischen Blick auf die Vergangenheit versuchen, wie etwa eine nicht unbedingt aus den richtigen Gründen unangenehme Nebenhandlung um einen Restaurantbesitzer mit Asiatinnenfetisch, oder auch Sean Penns ziemlich missglückte Parodie (eher: Denunziation) eines alternden William Holden. Sich über die Vergangenheit zu erheben ist immer einfach und billig, merkt man dann, aber zum Glück sind das nur kurze Irritationen in einem Film, der sich ansonsten der Vergangenheit nicht zuwendet, weil er sie maßregeln, sondern weil er sich in ihr verlieren will.

Lukas Foerster

Licorice Pizza - USA 2021 - Regie: Paul Thomas Anderson - Darsteller: Alana Haim, Cooper Hoffman, Sean Penn, Tom Waits, Bradley Cooper, Griff Giacchino, Will Angarola - Laufzeit: 133 Minuten.

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Im Gefängnis verblassen langsam die Erinnerungen an die Verbrechen, die man begangen hat, berichtet Xue Ming (Eddie Peng) aus dem Off. Die Vorgeschichte des drahtigen Installateurs mit dem ernsten Gesicht erzählt Wen Shipei in seinem Debüt dementsprechend als vorsichtiges Herantasten an die Vergangenheit. Mehrmals setzt die Erzählung neu an, springt in der Zeit hin und her und rekonstruiert etwa die Hintergründe einer Schießerei, indem sie sie nacheinander aus verschiedenen Perspektiven zeigt.

Die verschachtelten Rückblenden des stylishen Neo Noirs "Are You Lonesome Tonight?" beginnen mit einem Autounfall. Xue Ming überfährt aus Versehen auf der Landstraße einen Mann und begeht Fahrerflucht. Kurz darauf repariert er unter einem Vorwand die Klimaanlage von Liang Ma (Sylvia Chang), der Witwe des Toten. Reumütig kehrt er immer wieder zu der ahnunglosen älteren Frau zurück. Man folgt ihm gespannt, weil seine fast schlafwandelnden Annäherungen leichtsinnig und unberechenbar wirken. Einmal läuft er nachts an einer Massenschlägerei vorbei und stürzt sich ohne Rücksicht auf Verluste ins Getümmel, scheinbar nur, weil er nichts besseres mit sich und seiner Schuld anzufangen weiß.

Bald beginnt sich die Situation zu ändern. Der Verstorbene war in zwielichtige Geschäfte verwickelt, wurde tatsächlich nicht überfahren, sondern erschossen, und Liang Ma scheint über seinen Tod auch gar nicht so traurig zu sein. Gelöst zieht sie an einer Zigarette und erzählt dabei, wie ihr Mann ihr zu Lebzeiten das Rauchen verboten hatte. Wie der angebundene Ochse, der sich am Anfang des Films von seinem Seil löst, sehnen sich auch die Menschen auf die ein oder andere Weise nach Freiheit.

Der Titel ist einer vor allem durch Elvis populär gewordenen Ballade entnommen, die hier mehrmals als Coverversion zu hören ist. Es geht darin um Trennung und Einsamkeit, was gut zu einem Film passt, der sich letztlich wenig für Zwischenmenschliches und umso mehr für die Verlorenheit des Einzelnen interessiert. Etwa nach der Hälfte der Laufzeit bewegt sich die Geschichte in eine andere Richtung. Als Xue Ming eine Tasche voller Geld findet, geht es plötzlich nicht mehr um Liang Ma, sondern um einen Auftragskiller und einen Polizisten, die ihm beide auf den Fersen sind. Auch diese Figuren werden nicht psychologisch durchleuchtet, sondern bleiben Umrisse von Genre-Archetypen.



Wir befinden uns in einer dunklen, urbanen, von Einzelgängern bevölkerten Welt, die entscheidend von ihren Locations bestimmt wird: leere Bars, enge, scheinbar endlose Gassen mit flackernden Neonröhren oder finstere Wälder, in denen irgendwas verbuddelt wird. Wen konstruiert weite, mächtige und atmende Räume, die das Gefühl vermitteln, dass sich in ihnen noch viele andere Geschichten abspielen könnten. Immer wieder schwenkt die Kamera weg von den Protagonisten und etwa hin zum aufgeregten Treiben auf einer Polizeistation oder einer Gruppe von Jungs, die an einem ranzigen Pool heimlich rauchen.

So wie sich die Figuren nach Freiheit sehnen, versuchen sich auch die Bilder zu entfesseln. Gleich vier Kameramänner sind im Einsatz und die Reize des Films liegen tatsächlich weniger in seiner grob skizzierten, lediglich als nötiges Grundgerüst dienenden Story als in seiner visuellen Verführungskraft. Eine Szene wird schon dadurch aufgewertet, dass ein Feuerwerk erscheint oder eine laut tönende Drachenparade vorbeizieht. Mit zittrig schwebenden Bewegungen werden wir in ein immer abstrakteres, von roten, gelben und grünen Farbflächen beherrschtes Setting gezogen. Und doch bleibt der Film stets im Genre verwurzelt. Eine finale Verfolgungsjagd in einer weitläufigen Fabrikhalle im Gegenlicht ist nicht nur ein Tanz der Schatten, sondern funktioniert auch als klassischer Spannungsmoment.

Nicht nur wegen des gedankenversunkenen Helden fühlt man sich in den besten Momenten wie in einem unheimlichen Traum. Der Film mag ein bisschen sprunghaft und mechanisch wirken, weil er wenig von seinen Figuren oder seiner Geschichte her gedacht ist, aber in seinen Bildern pulsiert doch oft etwas Geheimnisvolles. Obwohl man sich auf recht ausgetretenen Pfaden befindet, bekommt man deshalb immer wieder den Eindruck, dass es am Ende eines dunklen Tunnels oder hinter einem im Wind flatternden Vorhang noch etwas Spannendes zu entdecken gibt.

Michael Kienzl

Are You Lonesome Tonight? - China 2021 - Regie: Wen Shipei - Darsteller: Eddie Peng, Sylvia Chang, Wang Yanhui, Jiang Peiyao, Zhang Yu, Chen Yongzhong - Laufzeit: 95 Minuten.