Essay

Hitlers Kinder? Eine Antwort auf Götz Aly

Von Wolfgang Kraushaar
25.03.2009. Die 68er-Bewegung im Schatten der NS-Vergangenheit. Zur Analogiekonstruktion des NS-Historikers Götz Aly.
(Wolfgang Kraushaar antwortet mit diesem Artikel auf Götz Alys Essay "Der Muff von vierzig Jahren" vom 23. März. D.Red.)


I.

Von Anfang an hat es im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung nicht an Zerrbildern, tollkühn anmutenden Analogien und Zuschreibungen gefehlt, die kaum etwas anderes als die Stigmatisierung eines neuen, nur schwer einzuschätzenden politischen Gegners bezwecken sollten. Zu nennen sind die Springer-Presse, die die linken Rebellen an der FU unablässig als Krawallmacher, Rabauken und Wiedergänger der SA meinte demaskieren zu können, Parteipolitiker, nicht zuletzt Sozialdemokraten, die auf Kurt Schumachers Warnung vor den "rotlackierten Nazis" verwiesen, um damit auszudrücken wie ähnlich und im Grunde genommen austauschbar radikale Linke und Rechte seien.

Dabei fehlte es nicht an der sich wissenschaftlich gebenden Begleitmusik. Als exemplarisch für eine Reihe von Publikationen, mit denen offenbar der Vormarsch linker Theorien eingedämmt werden sollte, kann der von dem Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch herausgegebene Band "Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft" angesehen werden. (1) Er stellte sie in eine Parallele zur chiliastischen, im 16. Jahrhundert aktiven Bewegung der Wiedertäufer, um ihr Erweckungsbedürfnis und ihre Realitätsverweigerung brandmarken zu können. Dabei übernahm er die von Otto-Ernst Schüddekopf geprägte Formel der "Linken Leute von Rechts", mit denen er nun die "Neue Linke" meinte diskreditieren zu können. (2) Die Protagonisten der APO waren für ihn weder neu noch links, sondern totalitär und gefährlich wie die politischen "Brandstifter und Mörder" des 20. Jahrhunderts, sie waren für ihn nichts anderes als "Gesinnungskriminelle". Bereits Scheuch, der noch zwei Jahre zuvor zu den erklärten Gegnern der Notstandsgesetzgebung gehörte, setzte also die Rebellen der 68er-Bewegung ohne erkennbare Hemmungen mit den Propagandisten der Vernichtungspolitik totalitärer Regime gleich. (3) Und in einer Monographie, in der es sich die Neue Linke gefallen lassen musste, mit der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) auf eine Stufe gestellt zu werden, wurde mit dem Titel "Hitlers und Maos Söhne" bereits die Figur der Generationenabfolge als Erklärungsansatz bemüht. (4)

An dieses Muster knüpfte auf dem Höhepunkt der von der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) im Herbst 1977 ausgelösten Sicherheitskrise eine Autorin an. Es war die britische Publizistin Jillian Becker, die die ebenso provokative wie griffige Formel "Hitlers Kinder" ins Rampenlicht stellte. Sie hatte damit jedoch nicht primär die 68er-Bewegung, sondern in erster Linie mit der RAF eines ihrer Folgeprodukte charakterisieren wollen. (5) Wie stark die anfänglichen Vorbehalte, dieses Interpretationsmuster auch nur auf eine terroristische Gruppe angewendet zu sehen, gewesen sind, lässt sich bereits an der ein Jahr später veröffentlichten deutschen Übersetzung erkennen. Der Fischer Verlag, in dem dann auch Alys "Unser Kampf" erschien, war offenbar so sehr besorgt, damit das Publikum zu sehr vor den Kopf zu stoßen, dass er den Titel erst einmal mit einem Fragezeichen versah. (6) Und auch diese Rücksichtnahme schien den damaligen Rezensenten keineswegs auszureichen. So hatte etwa der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen den von Becker gewählten Titel in einem vielbeachteten, bereits nach Erscheinen der britischen Originalausgabe publizierten Spiegel-Essay schlicht als ein "Unglück" bezeichnet. (7)

Bereits in ihrer Engführung auf die RAF bot Beckers Interpretationsfigur "Hitlers Kinder" Kritikern zahlreiche Angriffsflächen. Stellte sie nicht einen Kurzschluss dar, eine Pseudothese, die alle Optionen in negativer Hinsicht bot? Und führte die Rückbindung an die Nazi-Generation nicht zu einer familienpsychologischen Reduktion?

Andererseits hat es in den letzten Jahren nicht an konkreten Forschungsergebnissen gemangelt, in denen eine ganze Reihe der bereits von Becker herausgestellten weltanschaulichen Verkehrungen für einzelne prominente Aktivisten der 68er-Bewegung hat nachgewiesen werden können. Einige Befunde der jüngeren historischen Forschung können belegen, wonach sich mit Antizionismus und Antiamerikanismus prekäre Kontinuitätselemente zur älteren Generation nachweisen lassen. Am deutlichsten ist das an zwei Bruchstellen geworden, die einen gravierenden Einstellungswandel zu Beginn und zum Ende der 68er-Bewegung markieren.

Die pro-israelische Haltung linker Studentenorganisationen, die sich in zahlreichen Kontakten, insbesondere Besuchsdelegationen und Kibbuz-Aufenthalten niedergeschlagen hatte und zum Teil auch in Israel selbst jahrelang als Vorreiter für eine Politik der Aussöhnung verstanden worden war, wich genau im Juni 1967, in der Zeit also, in der sich, ausgelöst durch die tödlichen Schüsse auf Benno Ohnesorg, eine bundesweite Studentenbewegung herauskristallisiert hatte, einer mehr als nur kritischen, häufig grundsätzlich ablehnenden, sich mehr und mehr in einer einseitigen Parteinahme für die Sache der Palästinenser manifestierenden Position. (8) Durch den sich Anfang Juni abspielenden Sechs-Tage-Krieg hatte sich das Verhältnis des SDS zum Staat Israel massiv verändert. So wie die Hochschulgruppe der SPD seit Anfang der 1950er Jahre eine Vorreiterrolle für die Wiedergutmachung der Nazi-Verbrechen am jüdischen Volk und die Anerkennung des Staates Israel gespielt hatte, so nahm sie nun - nachdem sie 1961 aus der Mutterpartei hinausgeworfen worden war - die Aufgabe einer Avantgarde für die um staatliche Unabhängigkeit kämpfenden Palästinenser wahr. Aggression und Expansion lauteten die insgeheimen Stichworte zur Charakterisierung der israelischen Politik. Zionismus wurde unter Abstraktion von seinen historischen Entstehungsbedingungen mit Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus gleichgesetzt. Das war eine an Eindeutigkeit kaum noch zu überbietende Feinderklärung an den Staat Israel und die dort lebenden jüdischen Bürger. Im Kern ging es ab dem Sommer 1967 plötzlich darum, Israel das Existenzrecht zu verweigern. Das war der erste Bruch. Der zweite zeichnete sich im Herbst 1969 ab.

Insbesondere in der Westberliner Szene mehrten sich die Anzeichen für einen militanten Antizionismus. Ihre Parole schien die Umwandlung eines berühmten, von dem Hamburger Kommunisten Heinz Neumann 1929 formulierten Kampfaufruf zu sein: "Schlagt die Zionisten, wo ihr sie trefft!" (9) So jedenfalls lautete die Parole im wichtigsten Szene-Blatt, der durchschnittlich in einer Auflagenhöhe von 10.000 Exemplaren erschienenen Agit 883. Es kam zu ersten Überfällen und Anschlägen. Im Herbst erfolgte dann ein freilich missglückter Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin. (10) Die Bombe war am 9. November 1969 im Inneren des Gebäudes deponiert worden. Ihr Zeitzünder war genau auf jenen Augenblick eingestellt worden, als sich auf dem davor gelegen Hof mehrere Hundert Menschen versammelt hatten, um der jüdischen Opfer zu gedenken, die 31 Jahre zuvor von den Nazis verfolgt, gedemütigt und umgebracht worden waren. (11)

Ganz offensichtlich war eine Aktivistengruppe aus der Zerfallsmasse der 68er-Bewegung dazu übergegangen, neue Formen einer gewaltsamen Eskalationsstrategie auszuprobieren. Indem Jüdische Gemeinden zu "Agenturen des zionistischen Staates Israel" erklärt wurden, gehörten sie plötzlich mit zur "Kampfzone" des Nahostkrieges. Das Kapitel "Stadtguerilla", das bereits ein halbes Jahr vor Gründung der RAF begonnen hatte, war unter bundesdeutschen Vorzeichen schlichtweg identisch mit einem antisemitischen Anschlag.

Als im Frühsommer 2007 damit begonnen wurde, des 40. Jahrestages der Ermordung Benno Ohnesorgs zu gedenken, hatten derartige Ergebnisse zu einer nachhaltigen Irritation geführt. In der Wochenzeitung Die Zeit war der Journalist Jens Jessen dem nachgegangen: "Die verstörendste Frage, die sich an die 68er stellen lässt, ist die Frage, ob sich hinter ihrer linken Aufbruchsrhetorik nicht am Ende ein heimliches Treueverhältnis zu dem nazistischen Weltbild ihrer Eltern verborgen habe." (12) Das Jahrzehnte lang gepflegte Selbstverständnis der Rebellen, sie hätten als Antifaschisten in einer faschistisch geprägten Gesellschaft agiert, könnte demzufolge also auf einem Trugschluss basieren. Der in ihren Reihen verbreitete Antizionismus und Antiamerikanismus stünde dazu jedenfalls in einem eklatanten Widerspruch und nährte den Verdacht, dass sich dahinter insgeheim eine deutsche Kontinuität verbergen würde. Vielleicht seien "Traditionen", die auf der Oberfläche abgewehrt wurden, in Wirklichkeit "unbewusst tradiert" worden. Damit waren einige der von Jillian Becker aufgeworfenen Fragen erneut ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt worden.


II.

Nun hat im letzten Jahr eine Publikation die historischen Hintergründe und Wirkungszusammenhänge der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik auf eine bislang beispiellose Weise zu skandalisieren vermocht. Bei dem von dem Ex-Aktivisten und späteren NS-Historiker Götz Aly (13) verfassten Werk, das seitdem die Gemüter so sehr bewegt hat, dürfte es sich jedoch eher um ein Pamphlet als um - wie noch zu zeigen sein wird - eine historische Studie handeln. (14) Bereits mit dem ostentativ an Hitlers berüchtigte Autobiografie anknüpfenden Titel "Unser Kampf" sollte ganz offensichtlich eine Provokation bewirkt werden. Zugleich verrät der Titel eine Anmaßung. Hier maßt sich einer an, in der ersten Person Plural für eine Bewegung und damit im Nachhinein für einen Kollektivzusammenhang, den der 68er, sprechen zu können.

Durch die Absicht, die Geschichte der 68er-Bewegung vornehmlich unter dem Dach der NS-Vergangenheit zu erörtern, sollte der Gedanke nahe gelegt werden, dass diese am angemessensten als Ableger der NS-Bewegung betrachtet werden könne. Aus der Perspektive einer Generationenkonstruktion erschienen die "33er" als die Eltern und die 68er als deren Abkömmlinge, als "Hitlers Kinder". Im Grunde genommen hatte es sich der Autor zur Aufgabe gemacht, alles zu unternehmen, um die "68er" als in der Wolle gefärbte "33er" und insofern als Wiedergänger der schlimmsten Variante des Totalitarismus darstellen zu können. Dieser auf einer monströsen Gleichsetzung basierende Ansatz geht jedoch - wie anfangs gezeigt worden ist - auf eine längere Tradition zurück und ist weder neu noch originell.

Alys Band kommt als Enthüllungsbuch daher. Er ist eine Mischung aus historischer Recherche und autobiografischer Rückbetrachtung. Von seinem partikularen Blickwinkel aus meint er immer aufs große Ganze schließen zu können. Dabei kann er die Kernzeit der Studentenbewegung gar nicht aus eigener Anschauung kennen. Denn er ist erst relativ spät dazu gestoßen. Als er im Wintersemester 1968/69 an die Freie Universität kam, hatte diese ihren Rang als Geburts- und Zentralort der 68er-Bewegung bereits eingebüßt. Seine Erfahrungen sind die eines zu spät gekommenen Linksradikalen, der zu Beginn der siebziger Jahre vom Otto-Suhr-Institut aus den "Hochschulkampf" zu betreiben und in der Gefangenen-Hilfsorganisation Rote Hilfe die RAF zu unterstützen versucht hat. Dabei macht er seine Sicht zum Maß aller Dinge. Partielle Ausschnitte geraten ihm zum Panorama, aus dem er in kühner Manier meint die Essenz der 68er-Geschichte ablesen zu können.

Die bis dahin zur 68er-Bewegung publizierten Werke qualifiziert er pauschal als "Veteranenliteratur" ab, deren Autoren nichts anderes als die im Kontext der damaligen Bewegung hervorgebrachten Druckerzeugnisse zur Kenntnis genommen hätten. Mit seiner eigenen Publikation beansprucht er als erster Quellen des Bundesamtes für Verfassungsschutz genutzt zu haben. (15) Er stützt sich zudem maßgeblich auf Zeugnisse, die von Professoren wie Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal stammen, die nach ihrer Rückkehr aus der Emigration in Konflikt mit ihren linken Studenten, darunter Dutschke, Rabehl und andere Wortführer des SDS, geraten waren und auf von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studien des Allensbacher Instituts für Demoskopie zum Thema "Student und Politik". Der Eindruck einer ausgewogenen Quellenbasis ist insgesamt jedoch trügerisch. Die bedeutendste Quelle seiner Darstellung ist seine eigene Erfahrung als Student der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin. Dadurch gerät seine Studie wegen des subjektiven Zeitfensters und der damit einhergehenden Obsessionen bereits in ihrem empirischen Ansatz in eine gehörige Schieflage.

Aly ist dafür bekannt, dass er Historiker-Kollegen wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Fehler hochnäsig als Dilettanten abkanzelt. So warf er etwa dem Sozialgeschichtler Hans-Ulrich Wehler, der in Deutschland vielen als Doyen moderner Geschichtsschreibung gilt, vor, dass er seine Darstellungen nicht am Quellenmaterial überprüfe, weil er sich in den Archiven die Hände nicht schmutzig machen wolle. (16) Angesichts dieses Hochmuts muss es umso überraschender erscheinen, dass es in Alys eigenem Buch vor Fehlern nur so wimmelt. So schreibt er etwa, dass der SDS 1947 gegründet worden sei ( Seite 40) oder die Partei der Grünen wegen ihrer Unfähigkeit, die DDR und die Wiedervereinigung zu begreifen, 1992 aus dem Bundestag herausgeflogen sei. (Seite 13) Das eine geschah ein Jahr, das andere zwei Jahre früher. Noch gravierender war seine Behauptung, dass mit Karl-Heinz Kurras jener Polizist, der die tödlichen Schüsse auf Ohnesorg abgegeben hatte, 1970 in zweiter Instanz zu zwei Jahren Haft verurteilt worden sei und davon vier Monate abgesessen habe. (Seite 27) Das war frei erfunden. Kurras war in allen drei Prozessen (1967, 1970, 1971) freigesprochen worden und hatte deswegen nie auch nur eine Minute in Haft verbracht. (17) Des weiteren stieß seine voller Empörung vorgetragene Behauptung, die 68er hätten sich nicht um die in ihrem Jahr stattgefundenen Gerichtsverfahren gegen NS-Straftäter gekümmert, unter Fachleuten auf dezidierten Widerspruch. (18)

Auch seine im Tremolo der Entrüstung vorgebrachte Klage, Richard Löwenthals am 8. Juni 1967 im Auditorium maximum der Freien Universität gehaltene Rede über "Studenten und demokratische Öffentlichkeit" fände sich "in keiner der umfangreichen Dokumentationen" (Seite 94), weil die von einstigen Linksradikalen herausgegebenen Quellensammlungen nichts anderes als "selbstlegitimatorische Tendenzgeschichte produzierten", hielt einer Überprüfung nicht statt. Aly hatte die von Siegward Lönnendonker, Tilman Fichter und Jochen Staadt erstellte FU-Dokumentation, in der die Rede abgedruckt ist, selbst in seiner Bibliografie angeführt. (Seite 241) (19) Als es sich die Bundeszentrale für politische Bildung nicht nehmen ließ, Alys fehlerhafte Provokation in ihr Buchprogramm aufzunehmen, löste das in der Öffentlichkeit Kopfschütteln aus. (20) Das vorrangige Problem seiner Publikation liegt jedoch nicht in sachlichen Fehlern. Diese wären, sofern sie erkannt würden, auch leicht korrigierbar. Es ist eher die Methode, der sich Aly bedient, die nicht korrigierbar ist, weil sie die Voraussetzung seiner gesamten Darstellung ausmacht.

Aly behauptet in seinem Buch gleich zu Beginn, die "deutschen Achtundsechziger" seien in hohem Maße von den Pathologien des 20. Jahrhunderts getrieben worden. Ihren Eltern, den "Dreiunddreißigern" ähnelten sie damit "auf elende Weise" (Seite 7). Als Beleg führt er dafür die Verachtung des Pluralismus, ihre Vorliebe für Kampf und Aktion an, ihren Größenwahn, ihre Rücksichtslosigkeit, den ausgeprägten Hang zum Personenkult, Selbstermächtigung, einen zum Furor entgrenzten Veränderungsdrang sowie eine "Lust an der tabula rasa und der Gewalt".

Die 68er hätten "an die Erbmasse der rechtsradikalen Studentenbewegung der Jahre 1926 bis 1933" (Seite 10) angeknüpft und nach 1945 "das nazistische Restgift in sich" (Seite 69) getragen. Aly scheut sich aus diesem Ansatz heraus auch nicht, Personalisierungen und enge Parallelisierungen zwischen Dutschke und Hitler bzw. Dutschke und Goebbels vorzunehmen. So behauptet er, ähnlich wie der Wortführer des SDS habe der spätere Propagandaminister der Nazis "sein akademisches Publikum zur Bildung revolutionärer Bewusstseinsgruppen" (Seite 180) aufgefordert.

Als Kronzeuge für seine Sichtweise dient ihm der damalige Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger. Dem Mann, der bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war, sich im Reichsaußenministerium zum stellvertretenden Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung hochgedient und in dieser Funktion dem Reichspropagandaministerium zugearbeitet hatte, attestiert er, dass er im Umgang mit den rebellierenden Studenten "besorgt und besonnen" gehandelt habe. (Seiten 33-38) Das mag punktuell vielleicht sogar der Fall gewesen sein. Dieses Urteil trägt jedoch in keiner Weise dem Umstand Rechnung, dass Kiesinger auf Vorwürfe, die in jener Zeit seine eigene NS-Vergangenheit betrafen, höchst unsouverän reagiert hat. Als er sich im Juli 1968 gezwungen sah, im Prozess gegen einen früheren Legationsrat im Auswärtigen Amt, der der Beihilfe zur Deportation von Juden beschuldigt worden war, auf einer Sondersitzung des Frankfurter Landgerichts in Bonn als Zeuge aufzutreten, behauptete er, dass er weder "aus Überzeugung" noch "aus Opportunismus" in die NSDAP eingetreten sei. Auf seine Ankündigung, seine wirklichen Motive näher zu erläutern, warteten die zahlreichen Journalisten jedoch vergeblich. Er machte sie weder bei dieser noch bei irgendeiner anderen Gelegenheit wahr und blieb somit eine glaubwürdige Erklärung wie viele andere Politiker - darunter der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke, dem vorgeworfen worden war, er sei am Bau von Konzentrationslagern beteiligt gewesen - schuldig.

Aly vertritt mit Aplomb die These, dass es sich bei der 68er-Bewegung um einen "sehr deutschen Spätausläufer des Totalitarismus" (Seite 8) gehandelt habe. Obwohl er mit der Bemerkung, dass er keine Gleichstellung von "Rot und Braun" im Sinne habe, einen nahe liegenden Verdacht auszuräumen versucht, so unterstellt er ihr doch ein hohes Maß an Ähnlichkeit mit der NS-Bewegung. Die Symptome, die er dafür aufzählt, sind zahlreich und nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen: In beiden Fällen ging es um die Missachtung von rechtsstaatlichen Institutionen, die Verklärung der eigenen Akteurskohorte als "Bewegung", einen gegenüber dem üblichen politischen Handeln zugespitzten Aktionismus, einen ebenso entgrenzten wie ungebremsten Utopismus, zahllose antibürgerliche Affekte sowie einen durchgängig zu beobachtenden Anti-Liberalismus.

Die totalitäre Symptomatik beider "Bewegungen" ist offenbar vergleichbar, jedoch ist sie auch überzeugend? Und besteht ihre entscheidende Differenz tatsächlich darin wie von ihm behauptet, dass die eine beim Kampf um die Staatsmacht "gesiegt" und die andere "verloren" hat?


III.

Aly macht mit seinem Untersuchungsgegenstand kein großes Federlesen. Differenzierungen sind ihm im Grunde völlig schnuppe. Und die für theoretische Erörterungen unabdingbare Notwendigkeit, zu Vermittlungen zu gelangen, scheint ihm völlig fremd zu sein. Statt dessen postuliert er munter drauflos. Am stärksten werden seine Defizite dort deutlich, wo er den Wirkungszusammenhang zwischen den beiden von ihm in den Fokus gerückten Generationen genauer hätte bestimmen müssen. Doch Aly verfügt über kein theoretisches Instrumentarium, um zwischen der von ihm als "33er" etikettierten Nazi-Generation und der ihrer Kinder, einer vermeintlichen "68er-Generation", vermitteln zu können. (21) Statt dessen spricht er populärwissenschaftlich trivialisierend von einem "nazistischen Restgift", das angeblich unter den Jüngeren von den Älteren übrig geblieben sei. Was bedeutet das aber, eine totalitäre Ideologie, einen Werteverlust, eine menschenverachtend-zerstörerische Haltung oder Weltanschauung? Und wenn sich ein solcher Befund diagnostizieren lassen sollte - wie ist diese Haltung weitergegeben worden? Haben wir es mit einem sozialen oder einem psychischen Prozess oder einer Kombination von beidem zu tun? Das alles bleibt völlig offen.

Da er sich einer Klärung des von ihm benutzten Generationenbegriffs enthält, mangelt es ihm bereits an der entscheidenden kategorialen Voraussetzung für derartige Operationen. Unter welchen sozialen und historischen Voraussetzungen lässt sich sinnvoll mit dem Begriff der Generation arbeiten? Wo liegen dessen Grenzen? Was konfiguriert einen historischen Typus zur Generation? Und wann ist es sinnvoller, lediglich von einer Generationenkohorte zu sprechen? Und in welchen Fällen ist es ganz unangebracht, mit diesem Begriff zu hantieren, mit dem im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte so viel Schindluder getrieben worden ist?

Unverzichtbare Unterscheidungen zwischen Bewegung und Generation, zwischen 68er-Bewegung und Post-68er-Strömungen, zwischen Polit- und Psychosekten sucht man bei ihm vergeblich. Das Phänomen "68" wird von ihm als eine Einheit behandelt, die sich nicht weiter ändert und weitgehend statisch bleibt. Wenn man jedoch etwa die im SDS maßgeblichen Differenzen zwischen undogmatischen und dogmatischen Marxisten, zwischen sogenannten Antiautoritären und Traditionalisten nicht in Blick nimmt, dann lässt sich auch kein Zugang für weitreichende Entwicklungsprozesse, Abspaltungen wie Fraktionierungen, emanzipatorische oder totalitarismusverdächtige Folgen gewinnen.

Allerdings muss Aly zugute gehalten werden, dass er sich bei einigen der Negativ-Charakterisierungen, die er geradezu in Serie vornimmt, keineswegs ausnimmt und mit sich kaum weniger schonungslos zu Gericht geht wie mit anderen. So beschreibt er etwa, dass er zeitweilig mehr als nur ein Sympathisant der RAF gewesen sein muss und von den Sicherheitsbehörden wohl als einer ihrer Unterstützer klassifiziert worden wäre. Für die Rote Hilfe hatte er 1972 tausend Mark, die aus einem Banküberfall stammten, mit der Anweisung in Empfang genommen, sie im Laufe von vier Wochen zu "waschen". Wie andere seiner damaligen Gruppe, die vielen als legaler Am der RAF galt, hatte er den Auftrag erfüllt. Doch so bedenkenswert auch einzelne seiner Rückblicke sein mögen - er tut sich damit keinen Gefallen. Denn er produziert mit seinen Analogiebildungen mit dem Nationalsozialismus, seinen Pauschalurteilen, seinen Maßlosigkeiten und Übertreibungen ein regelrechtes Zerrbild der 68er-Bewegung.

Gegen Alys Thesen lassen sich die folgenden Haupteinwände vorbringen: Er huldigt einer Pauschalvorstellung von den "deutschen Achtundsechzigern", in der aus für ihn nahe liegenden Gründen nicht einmal zwischen den bundesdeutschen Aktivisten und denen in der DDR unterschieden wird. Damit verbaut er sich jeden Zugang zu einem tiefer reichenden Verständnis der damaligen Protestbewegung. Da er keine Binnendifferenzierung zwischen Strömungen, Organisationen und Fraktionen vornimmt, kann er auch keine Binnendynamik im Zusammenhang der Ereignisse erkennen. Durch die eindimensionale Rückbeziehung auf den Nationalsozialismus blendet er auf der anderen Seite so gut wie jegliche gesellschaftspolitische Kontextualisierung in die damalige Gegenwart aus. Durch die Überbewertung der innerhalb und im Umfeld der 68er-Bewegung zweifelsohne aufgetretenen Negativphänomene verharmlost er umgekehrt den Nationalsozialismus. Dutschke mit Hitler und Goebbels auf eine Stufe zu stellen, ist schlicht hypertroph. Auf der einen Seite dämonisiert er den tragischen Helden der 68er-Bewegung, auf der anderen Seite verharmlost er den Inbegriff des schlimmsten Massenmörders, den die Geschichte erlebt hat, und dessen geifernden Propagandisten. Und durch die Fixierung auf den scheinbar deutschen, in Wirklichkeit jedoch bundesdeutschen Fall reduziert er das Phänomen "68" auf eine quasi-nationale Ebene und ignoriert die internationalen Zusammenhänge und Faktoren.

In gewisser Weise hat Aly nach vier Jahrzehnten den Anschluss ans Ressentiment wiederhergestellt. An eine damals in Boulevardzeitungen wie in der konservativen Presse verbreitete Stimmung, dass "Rot gleich Braun" sei und sich die Mitglieder des SDS wie seinerzeit die der SA benommen hätten. Damit hat er das Handwerk der eingefleischtesten und unbelehrbarsten 68er-Gegner erledigt. Zugleich hat er aber auf der anderen Seite auch den unbelehrbarsten Anhängern und Verklärern der 68er-Geschichte in die Hände gearbeitet. Selten herrschte unter ihnen so viel Einigkeit, dass es nun nur noch darauf ankomme, eine möglichst unüberwindbare Front gegenüber seinen Thesen aufzubauen.

Es war zu erwarten, dass darauf in ebenso kurzschlüssiger wie einfältiger Weise reagiert werden würde. (22) So stellte z.B. die erste von drei linken Hochschullehrern formulierte Kritik an Alys Analogiekonstruktion kaum etwas anderes als Gesinnungsprosa dar, mit der die Ideen von 68 noch einmal samt und sonders verteidigt werden sollten. (23) Neben solch bloß reaktiv ansetzenden Verteidigungen gab es jedoch auch einige differenzierter argumentierende Kommentare. (24)

IV.

Im Gegensatz zu Alys Darstellung, in der viele historische Bezüge verschoben, Zusammenhänge auf den Kopf gestellt werden und mancherlei Grenze verwischt wird, ist daran festzuhalten, dass es sich bei den 68ern um keine Generation, sondern um eine numerisch eher schwache und eine zeitlich zudem ziemlich begrenzte Protestbewegung gehandelt hat, die vom Sommer 1967 bis zum Herbst 1969 andauerte und eine Parallelerscheinung zur damaligen Großen Koalition gewesen ist. (25) Nicht ohne Grund wurde sie damals auch als Außerparlamentarische Opposition, kurz APO, bezeichnet.

Derartige Bewegungen könnten kaum entstehen, wenn die Integrationsfähigkeiten eines parlamentarischen Systems und insbesondere die der in ihnen vertretenen Parteien nicht defizitär wären. Die Entstehung solcher Protestzusammenhänge ist immer auch ein Indiz für das Unvermögen des politischen Systems, soziale Widersprüche und die daraus resultierenden Interessenkonflikte aufzunehmen und sie als Widerstreit von Meinungen innerhalb des Parlaments auszutragen. Das rechtfertigt keinerlei antidemokratische Ideologie, es macht jedoch deutlich, dass systemkritische bzw. -gegnerische Strömungen nicht einfach vom Himmel fallen.

Die damalige APO war durch eine grundlegende Doppeldeutigkeit bestimmt. Nicht wenige ihrer Aktivisten changierten zwischen Außer- und Antiparlamentarismus hin und her. Dabei traten immer stärker Gruppen in den Vordergrund, die der Bundesrepublik Deutschland, dem Rechtsstaat und seinen Institutionen nicht nur kritisch, sondern ablehnend gegenüberstanden. Antistaatlichkeit gehörte bei vielen von ihnen zu den elementarsten Grundüberzeugungen. Das Misstrauen schöpfte zudem aus dem Verdacht, dass der bundesdeutsche Staat bis in seine Spitze hinein von ehemaligen Funktionsträgern des NS-Regimes besetzt sei. Dieser Argwohn wurde auf die verschiedensten Institutionen übertragen und bis zu einer regelrechten Institutionenfeindlichkeit ausgeweitet. Noch beim geringfügigsten Anlass glaubte man das Gespenst eines "neuen Faschismus" vor Augen zu haben. Die Nichtanerkennung des staatlichen Gewaltmonopols war eine logische Folge dieser hysterisch anmutenden Einstellung.

Als nach den Bundestagswahlen vom September 1969 eine Koalitionsregierung zwischen SPD und FDP, die sogenannte sozialliberale Koalition, möglich wurde, zeigte sich, dass die außerparlamentarische Bewegung in einem unmittelbaren politischen Sinne fast auf der ganzen Linie gescheitert war. Zwar hatte sie mit dazu beigetragen, den Einzug der rechtsextremen NPD in den Bundestag zu verhindern, ihre Hauptziele jedoch waren allesamt verfehlt worden. Innenpolitisch war bereits die Niederlage in der Anti-Notstandsbewegung entscheidend gewesen. Die viel beschworene Einheit von Arbeiter- und Studentenbewegung, wie sie zum allgemeinen Erstaunen in Frankreich vorübergehend möglich geworden war, blieb in der Bundesrepublik eine Chimäre. Mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 hatte die APO ihren Zenit bereits überschritten. Die Struktur des Axel-Springer-Verlags blieb unangetastet, die Hochschulreform erwies sich rasch als Enttäuschung, der Vietnamkrieg dauerte unvermindert an und die hochfliegenden revolutionären Erwartungen blieben auf der ganzen Linie unerfüllt.

Innerhalb von nur wenigen Monaten fiel mit dem SDS der eigentliche Motor der APO-Aktivitäten faktisch auseinander. Die dynamischen, sich als "antiautoritär" begreifenden Strömungen schienen durch die nachlassende Mobilisierung auf der Straße und die infolge der sozialliberalen Koalition veränderte politische Lage wie paralysiert. Mit der neuen Bundesregierung unter dem sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt, der eine Reformpolitik einzuleiten versprach, entfielen die meisten Voraussetzungen zur Fortführung einer außerparlamentarischen Bewegung. Einige der von der APO freigesetzten Impulse, insbesondere im Bereich der Bildungspolitik, wurden aufgegriffen, andere hingegen eingedämmt oder ganz abgeschnitten. Die Bundesregierung legte einerseits mit dem Amnestiegesetz für Demonstrationsstraftäter ein Integrationsangebot vor, andererseits lieferte sie mit dem Radikalenerlass, durch den Systemgegner vom Staatsdienst ferngehalten werden sollten, bald darauf auch ein Zeichen der Abschreckung. Zwar wuchs das Potential links von der SPD quantitativ stark an, es stellte jedoch wegen seiner Diffusität keine einheitliche Kraft mehr dar und büßte dadurch viel vom Charakter einer politischen Herausforderung ein.

Den Ton gaben nun radikal-orthodoxe Kräfte an - Neoleninisten und Maoisten. Während der größte Teil der alten APO von der SPD und der neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) aufgesogen worden war, bildeten sich in kurzer Zeit vielerorts kommunistische Kadergruppen, die sich in völliger Verkennung ihrer wirklichen Rolle als Vorhut einer weitgehend eingebildeten Arbeiterbewegung begriffen. Die studentischen Speerspitzen der APO ernannten sich kurzerhand zur proletarischen Avantgarde und glaubten sich so zur Führungselite einer in Wirklichkeit überhaupt nicht zu einer radikalen Systemveränderung neigenden Arbeiterschaft machen zu können. Als sich im März 1970 der SDS auch formell auflöste, waren die Weichenstellungen für den Weg der radikalen Linken der siebziger Jahre bereits vollzogen.

Aus der einstigen APO waren vier Grundströmungen entstanden - eine, die dem Parlament konstruktiv, eine die ihm aus taktischen Gründen zustimmend und zwei, die ihm ablehnend bzw. äußerst kritisch gegenüber standen: Eine reformistische, die ihre stärkste Bastion in der Jugendorganisation der SPD, den Jungsozialisten, besaß; eine orthodox kommunistische, die nach der Legalisierung einer kommunistischen Partei in der DKP ihre Stütze fand und in der Anbindung an SED, DDR und Sowjetunion ihr Heil suchte; eine marxistisch-leninistische, die den "Proletkult" der zwanziger Jahre imitierte und maoistische Kaderorganisationen gründete und schließlich eine undogmatisch-neomarxistische, die im Sozialistischen Büro (SB) eine Art Netzwerkzentrale fand.

Die Universitäten, an denen sich Rote Zellen ausbreiteten, wurden nicht länger mehr als der zentrale Ort angesehen, von dem aus die politische Arbeit zu organisieren war. Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich zunehmend auf außeruniversitäre Bereiche, auf Stadtteile und insbesondere auf Betriebe. Betriebsarbeit hatte für die entschiedensten der linksradikalen Gruppierungen Priorität. Denn der Adressat war in erster Linie die Arbeiterschaft als das in ihren Augen einzig erfolgversprechende revolutionäre Subjekt. Es schien alles nur noch eine Frage der Bewusstseinsbildung zu sein, genauer, wie sich das "ökonomistische" Arbeiterbewusstsein auf dem schnellsten Wege in ein "revolutionäres Klassenbewusstsein" würde transformieren lassen können. Die Tatsache, dass es im September 1969 unter Stahlarbeitern zu wilden Streiks gekommen war, wurde als Zeichen für ein neues Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse gewertet.

Die Fixierung auf die Arbeiterbewegung als dem vermeintlichen revolutionären Subjekt führte zur Entstehung zahlreicher K-Gruppen und zur Bildung verschiedener pseudoproletarischer Parteien. Auch die im Mai 1970 erfolgte Gründung der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF), deren Mitglieder sich zynisch als "Leninisten mit Knarre" verstanden, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Die bewaffnete Kaderorganisation, die in den Jahren darauf wie keine andere das innenpolitische Klima in der Bundesrepublik vergiftete, gab vor, Teil eines größeren Ganzen, einer Art proletarischen Kampfzusammenhanges, zu sein.

Die meisten der genannten Gruppierungen und Bewegungen waren außerparlamentarisch entstanden und hatten zum Parlamentarismus - wenn überhaupt - ein taktisches Verhältnis. Sie basierten immer noch auf einer, wenn auch höchst unterschiedlich akzentuierten Ablehnung von Parlament und Parteienstaat, deren theoretische Begründung in einem von Johannes Agnoli bereits zu Beginn der Großen Koalition verfassten Traktat über die "Transformation der Demokratie" geliefert worden war. (26) Diese Abwehrhaltung war so stark verankert, dass sie in den Augen der aus der APO hervorgegangenen Akteure keiner weiteren Überprüfung bedurfte. In gewisser Weise gehörte sie zu den als selbstverständlich angesehenen Grundüberzeugungen. Das war zwar noch kein Totalitarismus, der Übergang zu totalitären Formationen erwies sich jedoch von nun an als fließend. Schon bald wurden in den ersten Politsekten blutige Diktatoren wie Stalin und Mao Tse-tung als Heroen gefeiert.

Gleichwohl gilt: Über die APO bzw. die 68er-Bewegung und ihre Folgen verallgemeinernd sprechen zu wollen, sollte sich von vornherein verbieten. Sie war zweifelsohne ein Konglomerat ganz unterschiedlicher Strömungen, ihre Akteursgruppen waren höchst heterogen und ihre programmatischen Überzeugungen ziemlich diffus. Wer hier unbedingt zu Pauschalurteilen ansetzen und die 68er-Bewegung in eine Kontinuität zu einer "33er-Bewegung" stellen will, der begibt sich auf ein besonders dünnes Eis.

Dennoch sollten derartige Bedenken nicht einfach als Relativierung missverstanden werden. Je mehr man sich den aus dem aktivistischen Kern der 68er-Bewegung hervorgegangenen Gruppen und Fraktionen nähert, umso totalitarismusverdächtiger sind nicht wenige ihrer Positionen gewesen. Nicht nur in verbalradikalen Parolen brachen sich Antiparlamentarismus, Antiamerikanismus und zuweilen auch ein als Antizionismus getarnter Antisemitismus Bahn.

Der harte Kern der 68er versuchte sich im Moment der Niederlage eines Tricks zu bedienen und seine machtpolitische Ohnmacht durch die Adaption kommunistischer Modelle und Strategien zu kompensieren. Man unternahm Anleihen beim Leninismus, dem Stalinismus sowie dem Maoismus und kostümierte sich mit entliehenen Identitätsformen. Doch das, was revolutionär zu sein schien, war in Wirklichkeit eine Ausformung totalitären Größenwahns. Es hat lange gebraucht, bis dieser Irrweg erkannt worden ist. Es waren einzelne Politsekten, die zwar aus der 68er-Bewegung hervorgegangen sind, von dieser jedoch nur Zerfallsteile repräsentierten und nicht als ein pars pro toto angesehen werden dürfen.

Ihnen gegenüber ist der Totalitarismusvorwurf durchaus berechtigt. Alys Behauptung jedoch, dass die 68er als solche totalitär gewesen seien und die nationalsozialistische Weltanschauung ihrer Eltern fortgesetzt hätten, hält einer Überprüfung nicht stand. Sie verdankt sich fragwürdigen Argumentationen und methodisch unhaltbaren Analogieschlüssen. Eher verrät sie das Entsetzen eines NS-Forschers darüber, früher selbst einmal einer Bewegungskohorte angehört zu haben, die sich im Zuge ihrer Radikalisierung in totalitäre Politikmuster verstrickt hat, als das Ergebnis objektivierbarer zeithistorischer Erkenntnis.

Die für jegliche Historisierung der 68er-Bewegung zentrale Frage, in welchem Verhältnis sich ihre Akteure zur NS-Vergangenheit verhielten, muss weiterhin als offen gelten. (27) Eine Chance, sie vier Jahrzehnte danach besser durchblicken zu können, scheint durch Alys Polemik und den durch sie ausgelösten Medienrummel vorerst einmal vertan zu sein.

Wolfgang Kraushaar

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(1) Erwin K. Scheuch (Hg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der "Neuen Linken" und ihrer Dogmen, Köln 1968.
(2) Otto-Ernst Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960.
(3) Es folgten weitere ähnliche Titel wie der mit einem Vorwort des späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt versehene Sammelband: Kurt Sontheimer u.a., Der Überdruß an der Demokratie. Neue Linke und alte Rechte - Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Köln 1970.
(4) Giselher Schmidt, Hitlers und Maos Söhne. NPD und Neue Linke, Frankfurt am Main 1969.
(5) Jillian Becker, Hitler?s Children. The Story of the Baader-Meinhof Gang, New York 1977.
(6) Jillian Becker, Hitlers Kinder? Der Baader-Meinhof-Terrorismus, Frankfurt am Main 1978.
(7) Martin Greiffenhagen, Hitlers Kinder? - Gewiß nicht, Der Spiegel vom 31. Oktober 1977, S. 55.
(8) Vgl. Martin W. Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt am Main 1990; 2. erweiterte und aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 1994.
(9) In Abwandlung des satirisch gemeinten Kurt-Tucholsky-Wortes "Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!" hatte der Hamburger Kommunist Heinz Neumann im Zentralorgan der KPD Die Rote Fahne vom 5. November 1929 zum Angriff auf die Faschisten aufgerufen.
(10) Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005.
(11) Als erster hatte mit Michael "Bommi" Baumann ein ehemaliger Aktivist der terroristischen Bewegung 2. Juni ausführlich darüber geschrieben. "Es gab eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus", hatte Baumann in seinen 1975 erschienenen Erinnerungen in schnoddrigem Ton erklärt, "sinnigerweise am Jahrestag der Reichskristallnacht wurde die Bombe gefunden, war nicht losgegangen. Eigentlich sind alle dran ausgeflippt ... Aber für die Presse war das natürlich ein gefundenes Fressen, weil es eben dummerweise auch noch die Reichskristallnacht war, dass wieder Deutsche in der jüdischen Synagoge eine Bombe deponieren, das war nicht mehr zu vermitteln." Michael Baumann, Wie alles anfing, München 1975, S. 69.
(12) Jens Jessen, Hitlers Kinder?, in: Die Zeit vom 17. Mai 2007.
(13) Aly hatte sich mit den folgenden Publikationen einen Namen als ebenso unorthodoxer wie umstrittener NS-Forscher gemacht: Zusammen mit Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt am Main 1991; zusammen mit Susanne Heim: Das Zentrale Staatsarchiv in Moskau ("Sonderarchiv"). Rekonstruktion und Bestandsverzeichnis verschollen geglaubten Schriftguts aus der NS-Zeit, Düsseldorf 1992; "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995; Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Frankfurt am Main 1997; Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, Frankfurt am Main 2003; zusammen mit Christian Gerlach: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden, München 2004; Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943, Frankfurt am Main 2004; Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005; als Herausgeber: Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2006; zusammen mit Michael Sontheimer: Fromms - Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel, Frankfurt am Main 2007.
(14) Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008.
(15) Dies ist eine leicht überprüfbare unzutreffende Behauptung. So haben sich etwa Bernd Rabehl (in: Feindblick. Der SDS im Fadenkreuz des "Kalten Krieges", Berlin 2000) und Gerd Koenen (in: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution. 1967-1977, Köln 2001) bereits lange vor Aly in ihren Darstellungen zur 68er-Bewegung auf Dokumente des Verfassungsschutzes gestützt.
(16) "Ich sage nur: Wehler lesen! Da wimmelt es nur so von Fehlern! Der Kollege Wehler macht sich in den Archiven nicht die Finger schmutzig!", in: "Der Streit-Historiker", Die Zeit vom 19. Mai 2005.
(17) Dieser Schnitzer empörte einen Publizisten derartig, dass er darüber einen ganzen Artikel verfasste: Uwe Soukup, Für Überraschungen gut, in: die tageszeitung vom 18. April 2008.
(18) Werner Renz, Aly hat sich nicht kundig gemacht, in: Frankfurter Rundschau vom 15. Mai 2008. Aly hatte forsch behauptet, dass just 1968 "mehr NS-Prozesse geführt" worden seien als in jedem anderen Jahr. (151) Doch auch das entsprach nicht den Tatsachen. Die meisten NS-Prozesse hatten in den Jahren 1963 bis 1966, also parallel zum großen, vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Gang gebrachten Frankfurter Auschwitz-Prozess, stattgefunden.
(19) Dieses Missgeschick führte dazu, dass der Fischer Verlag in den Band einen Errata-Zettel einfügen ließ, in dem sich der Autor gegenüber den Herausgebern der FU-Dokumentation explizit entschuldigte.
(20) Vgl. Matthias Thieme, 68, ungenau, in: Frankfurter Rundschau vom 6. Mai 2008. Der für Alys Publikation verantwortliche und von dem Journalisten auf die ungewöhnliche Fehlerfülle angesprochene Lektor Walter Pehle erklärte voller Larmoyanz, dass es bei Büchern immer wieder Fehler gebe und man schließlich nicht jedes Detail überprüfen könne.
(21) So findet sich keinerlei Hinweis auf die einflussreiche Verwendung des Generationenbegriffs durch den Begründer der Zivilisationstheorie: Norbert Elias, Der bundesdeutsche Terrorismus - Ausdruck eines sozialen Generationskonflikts, in: ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Michael Schröter, Frankfurt am Main 1990, S. 300-389.
(22) Als eine Art Präludium hatte Aly kurz vor Erscheinen seines Buches am 75. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung in der Presse einen Artikel plaziert, in dem er eine verschärfte Fassung seines vorletzten, programmatisch anmutenden Kapitels "Dreiunddreißiger und Achtundsechziger" präsentierte: Götz Aly, Die Väter der 68er. Vor 75 Jahren kam Hitlers Generationenprojekt an die Macht: die 33er, in: Frankfurter Rundschau vom 30. Januar 2008.
(23) Peter Grottian / Wolf-Dieter Narr / Roland Roth, "Die Parallelisierung von 1933 und 1968 - Ein Binsenirrtum!" Eine Erwiderung auf Götz Alys Essay "Die Väter der 68er", in: Frankfurter Rundschau vom 9. Februar 2008.
(24) Klaus Behnken, Blöde Lämmer, schwarze Schafe, in: Jungle World vom 6. März 2008, S. 10-14; Clemens Heni, 1968=1933? Götz Alys Totalitarismusfiktion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 53. Jg., Heft 4/2008, S. 47-58; Rüdiger Hentschel, Totalitäre Linke, antitotalitäre Linke, in: Ästhetik & Kommunikation, 39. Jg., Heft 140/141, S. 135-145.
(25) Vgl. Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig - Eine Bilanz, Berlin 2008.
(26) Johannes Agnoli / Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main 1968.
(27) Zum bisherigen Stand in der Auseinandersetzung mit dem Thema Studentenbewegung und NS-Vergangenheit vgl.: Christel Hopf, Das Faschismusthema in der Studentenbewegung und in der Soziologie, in: Heinz Bude/Martin Kohli (Hg.), Radikalisierte Aufklärung. Studentenbewegung und Soziologie in Berlin 1965 bis 1970, Weinheim/München 1989, S. 71-86; Wolfgang Kraushaar, Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie - Zu einem Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Studentenbewegung, in: Alfons Söllner u.a. (Hg.), Totalitarismus: Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 267-283; Hans-Ulrich Thamer, Die NS-Vergangenheit im politischen Diskurs der 68er-Bewegung, in: Karl Teppe (Hg.), Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, 48/1998, S. 39-53; Detlef Siegfried, Umgang mit der NS-Vergangenheit, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S.77-113; Bernd-A. Rusinek, Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht - akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), ebenda, S. 114-147; Wilfried Mausbach, Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der 'zweiten Gründungsphase' der Bundesrepublik, in: Christina von Hodenberg/ Detlef Siegfried (Hg.), Wo 1968 liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006.