Essay

Verschollen im Echoraum

Von Daniele Dell'Agli
24.08.2017. Die alle Umtriebe im Sonnenstaat Kalifornien überschattende Fatalität eines über kurz oder lang die großen Städte verwüstenden Big One nimmt einzig die Gegenkultur von Minimal und Ambient Music mit enervierender Gelassenheit auf sich. Wer sich mit Jordan de la Sierra Richtung Asien treiben lässt, der gerät leicht in eine postapokalyptische Trance. Zur Wiederentdeckung von Jordan de la Sierras "Gymnosphere - Songs of the Rose".

Die deutsche Sprache - und im indoeuropäischen Umfeld nur sie - verbindet das Verschwinden von Menschen (und Dingen) mit ihrem Verhallen oder Verklingen: wenn nach einer angemessenen Zeit nichts mehr von ihnen zu "hören" ist, gelten sie als verschollen. Das Partizip Präteritum kommt von verschallen, verschellen und versieht das Verschwundensein, juristisch die Unauffindbarkeit der Gesuchten obendrein mit der Ungewissheit über ihren Status, der ungeachtet der verstrichenen Dauer der Abwesenheit nur als mutmaßlich tot (oder verloren) einzustufen ist.

Diese Ungewissheit haftet zwar auch den vergleichbaren Ausdrücken im Englischen (lost, missing, disappeared), Französischen (disparu) oder Italienischen (scomparso, disperso) an, doch bietet ihre Ableitung aus einer fehlenden oder nicht mehr vorhandenen Sichtbarkeit (lat. dis-parere) immerhin noch den Trost, dass das, was dem Blick entraten ist, irgendwann, irgendwo auch wieder auftauchen könnte. Was jedoch einmal verklungen ist, scheint in einer anderen, nicht genau bestimmbaren Raumordnung und nach einer anderen Modalität, nämlich einer zeitlichen entschwunden zu sein: wie sollte es je wieder zu Gehör kommen?

"Melville begriff, dass Amerika das Ende seines Westens an der Küste Asiens findet", Charles Olson, Nennt mich Ismael.

Kalifornien muss für Komponisten des 20. Jahrhunderts ein Echoraum ganz eigener Art gewesen sein: nirgendwo sonst boten sich entdeckungsfreudigen Musikern soviele Gelegenheiten, mit den exotischen Klängen aus Fernostasien und dem zyklischen Geschichtsbewusstsein buddhistischer Weltgegenden in Kontakt zu kommen. Der Pazifische Ozean, einst natürliche Endstation der geografischen Erschließung Nordamerikas, sollte sich trotz seiner gigantischen Weite als Medium - Brücke und Strömungsvektor - für den Kulturtransfer denkbar unterschiedlicher Traditionen und als Horizont neuer Möglichkeiten der musikalischen Organisation von Zeit und akustischer Sensibilität erweisen. Namentlich Harry Partch, Lou Harrison und John Cage waren schon seit den dreißiger Jahren von konzertanten Gastspielen aus Indien und Indonesien, China und Japan dazu angeregt worden, die temperierten Skalen samt der harmonisch basierten Kompositionsmethoden europäischer Herkunft (trotz oder wegen des Studiums bei Arnold Schönberg) zu verlassen, was nicht zuletzt zur Erfindung neuer Tonsysteme, Notationsweisen und sogar Instrumente führen sollte.

Jahrzehnte später machten abseits der von diesen Pionieren inspirierten kalifornischen Minimalismus-Szene um La Monte Young, Terry Riley und Pauline Oliveros zwei andere West Coast-mavericks auf eine derart diskrete Weise Musikgeschichte, dass ihre Werke beinahe für immer in Vergessenheit geraten wären: Dennis Johnson und Jordan de la Sierra.

Dennis Johnson, als Mathematiker zu internationalem Ruhm gelangt, komponierte 1959 November, ein je nach Spielweise vier bis sechs Stunden währendes Klavierstück, das ein halbes Jahrhundert lang nur als Tonbandmitschnitt von dessen eigener (unvollständiger) Uraufführung existierte, der wiederum La Monte Young (nach dessen eigener Aussage) zu seinem berüchtigten Well-Tuned Piano1 inspirierte.

Kyle Gann, Musikwissenschaftler und selbst Komponist, erfuhr zufällig davon und hatte zunächst Mühe, den in der kalifornischen Wildnis zurückgezogen lebenden Johnson überhaupt ausfindig zu machen. Anhand des verwitterten Aufnahmematerials und fragmentarisch erhaltener Noten gelang es ihm schließlich, das Werk zu rekonstruieren. Den spröden, meditativen Klängen von November, am ehesten Klavierstücken des späten Morton Feldman verwandt, hört man sowohl die Stille und Abgeschiedenheit, in der sie entstanden als auch die extreme Verzögerung, mit der sie in Hörweite eines interessierten Publikums gelangten.2 Da Kyle Gann die Geschichte dieser wundersamen Bergung ausführlich dokumentiert hat3 und Dennis Johnsons Musik sich dank der ersten Gesamtaufnahmen von Andrew Lee und Jerome van Veen seit einigen Jahren zunehmender Resonanz erfreut, werde ich mich im Folgenden auf die andere, nicht minder seltsame Wiederentdeckung der letzten Jahre konzentrieren.

"Ich singe Physiologie vom Scheitel bis zur Sohle" (Walt Whitman, Grashalme 1871)

Vor vierzig Jahren wurde in San Francisco ein vierteiliges, fast zwei Stunden langes Klavierstück aufgenommen und auf ein Doppelalbum gepresst, das schnell wieder vom Markt verschwand und trotz seines Rufs als Klangkosmologie des New Age keine Neuauflage erlebte. Das okkulte Werk geriet in Vergessenheit und war praktisch verschollen, bis Freunde ihres ebenfalls in der Einsamkeit des kalifornischen Outback verschwundenen Urhebers mit Hilfe zeitgemäßer Studiotechnik 2014 daran gingen, die alten Tonbänder zu bearbeiten, um sie als CD-Set herauszugeben. Die Rede ist von Jordan de la Sierras Gymnosphere. Song of the Rose.4

Jordan de la Sierra (bürgerlich Jordan Stemberg) ist ein kalifornischer Komponist und Multinstrumentalist, der mit La Monte Young, Terry Riley und Steve Reich gearbeitet und bei Pandit Pran Nath klassische indische Musik studiert hat. Die jeweils um die 25 Minuten langen Teile von Gymnosphere wurden November 1976 auf einem - nach dem Vorbild von La Monte Youngs Well Tuned Piano - rein gestimmten Steinway-Flügel5 zuerst in einem kleinen Studio in Berkeley aufgenommen, das Band anschließend mit geringfügig verlangsamter Geschwindigkeit über mehrere Lautsprecher in der Grace Cathedral von Nob Hill, einem der sieben Hügel San Franciscos, abgespielt, um den Nachhall des steinernen Baus einzufangen und die Aufzeichnung der entstandenen Klangwolke anschließend wiederum mit den Studioaufnahmen abzumischen. Wir hören also die (inzwischen digital übertragene) analoge Bearbeitung eines Klangereignisses, das seinerseits auf der Installation einer bereits vorhandenen Aufnahme eines ursprünglich instrumentalakustisch erzeugten und elektromagnetisch gespeicherten Klangs beruht. Das sensationelle Ergebnis lässt sich auf eine bündige Formel bringen: die Verwandlung von Klang in Sound.6

Der bereits durch die Naturtonstimmung verfremdete Klavierklang gewinnt durch diese einfachen Kunstgriffe die Artifizialität eines hybriden Keyboards, das wie durch ein halbdurchlässiges Medium - etwas zwischen Wasser und Luft - gefiltert gleichsam aus weiter Ferne tönt, weder akustisch noch elektronisch, weder komponiert noch improvisiert anmutet. Musik wie nicht von Menschen gemacht, aber zugleich voll sich überlagernder Spuren ihres Entstehens, weit entfernt von den frequenzgereinigten Endprodukten digitaler Klangästhetik. Ganz wie von selbst - ohne Sampler oder Synthesizer - mischen sich Gong und Tampoura, Harfen, Glocken und Orgel unter die Klangfarben des Pianos und evozieren einen imaginären geokulturellen Raum, einen Echoraum musikalischer Idiome oder eben ein Crossover avant la lettre, genauer: über den Jordan gequert. Das ist mitnichten ein Wortspiel.

De la Sierra hat seine Gymnosphere in vier Übungskreise eingeteilt: "Music for Gymnastics", "Temple of Aesthetic Action", "Music of Devotional Past" und "Sphere of Sublime Dances". Diese vier Songs of the Rose stehen für ebenso viele Anläufe, den Fluss, den der Komponist schon im Namen trägt (und zwar gleich doppelt: al-hardum ist der vom Berge - de la Sierra - herabsteigende Fluss) zu überqueren. Wörtlich bedeutet der Titel Gymnosphäre "nackte Sphäre" und greift Saties Anspielung auf die zeremoniellen Trauertänze "nackter Knaben" (gymno-paedes) im antiken Sparta auf, um die schon beim neogräzisierenden Franzosen angelegte Tendenz zur gleichzeitigen Evokation und Entleerung des Evozierten zu radikalisieren. Bei de la Sierra wird die Gymnosphäre zum semantischen Niemandsland, einem Schwamm, der die Gedächtnishypotheken des stets assoziationsbereiten Hörers löscht.

Die vier Séancen, wie man sie ritualdynamisch nennen müsste, umkreisen in zahllosen Varianten ein e-moll-Motiv, das modulationsfrei gleichsam am Schnittpunkt von repetitivem und Klangflächenminimalismus bearbeitet wird, also mit Wiederholungsmustern, die dank der beschriebenen Akustik atmosphärisch zerlaufen statt irgendeinen Prozess linear voranzutreiben. Terry Rileys Persian Surgery Dervishes (1972) wäre hier als Referenz zu nennen, auf der anderen Seite die Arbeiten der Deep Listening Band um Pauline Oliveros, die sich für ihre Aufnahmen die extremen Nachhallzeiten von Kirchen und Zisternen zunutze machen. Der aus Berkeley stammende Stuart Dempster hatte seine Standing Waves für Posaune und Didgeridoo in der Abtei Clemens VI. von Avignon zwar ebenfalls 1976 aufgenommen, jedoch erst 1987 bei New Albion Records veröffentlicht. Urszene für solche environmental soundscapes dürfte wohl Paul Horns meditative Erkundung des Taj Mahal (1968) sein, das schon durch einen Nachhall von 28 Sekunden einen flutenden Echoraum für jene Flötenklänge liefert, die später als Vorboten musikalischer New Age-Spiritualität gefeiert wurden. Doch zurück zu dem Song of the Rose.

Im ersten Anlauf führt die "Music for Gymnastics" das Tonmaterial mit einem ostentativen Refrain der rechten Hand ein, der für die Dauer des Stücks in großer Entfernung vor sich hin scheppert, sekundiert von ebenso wuchtigen wie dumpfen Kadenzschlägen [e-g-e-a-h] in der Subkontraoktave, die den in sich kreisenden Refrain je nachdem ankern oder in die Tiefe ziehen. Periodisch überlagert wird dieses Geschehen von einer deutlich langsameren Improvisation, die, mehr umspült als getragen von warm zerlaufenden Bassakkorden, jetzt raumakustisch sehr viel näher anmutet, obwohl ihr melancholischer Gestus in eine fernere Zeit zurückzublicken scheint. Vom Reiz dieses ständigen Wechsels der Perspektiven - von Panorama und Halbtotale würde man im Film sagen -, aber auch von Gestus und Tempo, von dunklen Tauchgängen unter schwach schimmerndem Oberflächenlicht lebt dieses erste Stück, dessen Refrain-Tremolo in den oberen Lagen sich zeitweilig zu einem Glöckchen- oder Schellengerassel steigert, dem allerdings schon durch die verschleiernden Halleffekte jeder Alarmismus fehlt.

Die zweite Ausfahrt ins Ungewisse, "Temple of Aestetic Action" nimmt mit feierlich ausladender Geste den Zeitlupenmodus der Klangschaukel wieder auf, in der man spätestens jetzt die fast ein Jahrhundert zuvor entstandenen Gymnopädien Saties mitklingen hört. Und wer die legendäre, demonstrativ entschleunigte Einspielung Reinbert de Leeuws von 1980 im Ohr hat, wird auch in ihnen weniger die vielbeschworene tänzerische Anmut als vielmehr das schwerfällige Rudern des Gondoliere über den Todesfluss erkennen, wenn auch ohne die expressive Düsternis des für Barkarolen Richtung Jenseits üblichen f-moll.7

Bei de la Sierra wird nun allerdings die Schwere und Schwermut des wogenden Wiegenliedrhythmus8 zu Beginn sehr bald durch weit ausgreifende Improvisationen in den helleren Registern konterkariert; aufsteigende, dramatisch beschleunigte Tonrepetitionen setzen ein Flirren frei, das trotz des elegischen e-moll (nicht zufällig die Tonart des fliegenden Holländers) und auch dank des Verzichts auf jegliche Modulation richtungslos bleibt, während Halleffekte und gleitende Orgelpunkte die Szenerie der Gymnosphäre in ein unentschiedenes Zwischen getaucht halten. Zwischen Vor und Zurück, Oben und Unten, Schwimmen und Schweben, Diesseits und Jenseits.

Diese Akzente verschieben sich nur unmerklich im dritten Durchgang, der "Music for Devotional Past". Die das ganze Werk durchziehende Ambivalenz eines zögerlichen Zeremoniells wird kenntlich als Verlorenheit im Rauschen einer Immanenz, die keine Stille kennt. Sie verdankt sich zu einem wesentlichen Teil dem erwähnten Kunstgriff einer winzigen Verlangsamung der Bandgeschwindigkeit bei der Zweitaufnahme on location, wodurch die Raum- und Zeitgefühl suspendierende Wirkung von Tonrepetitionen und Echos zusätzlich verstärkt wird, während mit den ausgependelten Trillern der rechten Hand der Glockensound stärker in den Vordergrund rückt. Vergegenwärtigt man sich den "Tempel", dem diese "ästhetischen Aktionen" ihr Timbre verdanken, die Kathedrale von Nob Hill, so fällt auf, dass Jordan de la Sierra ungefähr zu dem Zeitpunkt daran geht, einen sakralen Raum restlos zu paganisieren - eben in eine rituelle "Übungssphäre" zu verwandeln -, als im fernen Mitteleuropa Arvo Pärt umgekehrt damit beginnt, Konzertsäle zu resakralisieren. Beide verbindet darüber hinaus, dass sie, wenngleich aus denkbar gegensätzlichen Motiven, auf das Medium religiöser Einstimmung schlechthin, dem Klang und Rhythmus von Glocken zurückgreifen, deren Verführungskraft auch Pärt, der den Tintinnabuli-Modus kompositionstechnisch überträgt, zu nutzen weiß.9

Das Analogon zur "Engelsmusik" - wie sie immer wieder apostrophiert wurde - des Esten wäre hier die Levitationsmusik kalifornischer Provenienz, eine körperschwere Schwebekunst, die gar nicht erst versucht, die Gravitation auszutricksen, sondern ganz den Auftriebskräften des Wassers vertraut, um die horizontalen Spannungsverhältnisse zu entschärfen - und die selbstredend ohne Heilsbotschaften auskommt: Magie statt Andacht, Auflösung statt Erlösung, Ballastabwurf statt Mahnung zur Umkehr. Zwar stand (und steht) die episkopale Kultstätte San Franciscos Konzerten und Ausstellungen offen; neu aber ist, wie de la Sierra ihre Akustik seinerseits für die Beschwörung eines protoreligiösen Rituals nutzt, von dem sich allenfalls sagen lässt, dass es dem Omen des Komponistennamens entsprechend die Figur des Charon beschwört, des mythischen Fährmanns, der in diesem Fall jedoch seinen Auftrag, die Seele über den Styx ins Reich der Toten zu geleiten, seltsam unentschlossen wahrnimmt, passagenweise gar regelrecht vertändelt oder verdöst, als wäre er sein eigener Passagier, dem das Schaukeln auf den Wellen des Zwischenreichs vollauf genügt.10

Womit wir bei der vierten und abschließende Überfahrt angekommen wären, "Sphere of Sublime Dances" genannt. Sie scheint den drei vorangegangenen Anläufen nichts Neues hinzuzufügen, genau genommen greift sie lediglich das Ausgangsthema des ersten Stücks auf, um es schier endlos, fast eine halbe Stunde lang, zu wiederholen. Was zunächst fantasielos anmutet, erweist sich bei näherer Betrachtung als konsequent: das Ende mündet in den Anfang, die Serie wird zum Zyklus, der Kreis schließt die Sphäre und aus der Unmöglichkeit aufzuhören, ohne die Schwebe zwischen Aufbrechen und Ankommen zu verlassen, entsteht zwingend eine Endlosschleife, die alle noch mitschwingenden Ausdruckscharaktere und Reminiszenzen buchstäblich verschleift. Es ist, als wolle diese Musik, die motus perpetui zugleich von jeder Zivilisation zu entfernen und zu ihr zurückzufließen scheint, sich der Monotonie der ozeanischen Wasserwüste, dem Bewegungsmuster der Wellen angleichen. Schallwellen, Klangwellen, Meereswellen: Kymogramme korrespondierender Gefühlsbewegungen. Der schmale Styx ufert aus, macht seine Bestimmung vergessen, schwillt zu einem veritablen Lethe an.11

 

"Deutlich fangen wir an, nirgendwo hinzugelangen." John Cage, Silence

"Schon bald, wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, wissen wir nicht, wer wir sind" Gaston Bachelard, Poetik des Raumes

Ein gutes halbes Jahrzehnt war seit Antonionis Vision vergangen, die Requisiten kapitalistischer Alltagskultur am Zabriskie Point (1970), dem Aussichtspunkt des Death Valleys, zum Soundtrack von Pink Floyd in die Luft zu sprengen, um sozusagen am Nullpunkt der Zivilisation mit Blick auf den Sonnenuntergang einen Neuanfang im Nirgendwo zu suchen. De la Sierra setzt gewissermaßen beim sanften Vorspiel zu "Careful with that axte, Eugene" an, spart sich Slasher-Geschrei und Getöse, übernimmt von Antonionis Inszenierung die Slow Motion und kehrt - auf halbem Weg zwischen der Großen Weigerung (Marcuses) und dem Großen Einklang (des New Age) - den aporetischen Konflikten des American Way of Life auf seine Weise den Rücken zu. Der Song de la Rose sollte für lange Zeit sein letzter Kontakt mit dem Musikbetrieb bleiben. Mangels Resonanz seiner Zeitgenossen, heißt es, habe er sich danach als Landschaftsgestalter betätigt. Doch den Abschiedsgestus hatte er bereits überdeutlich in seine Stücke hineinkomponiert, ebenso wie die im Weltinnenraum der Aufnahmehöhlen (Studio und Kirche) implodierenden Echos, die schon künftige Resonanzen vorwegnehmen und zugleich seine Spuren in eine atopische Landschaft streuen, einem Raum unbestimmter Weite, ohne Orientierungspunkte, wo mit der Vervielfältigung der Rufe auch die Vergeblichkeit des Rufens, also jeder möglichen Ortung verschallt.

Doch das ist nur der eine, der zeithistorisch biografische Aspekt dieses Abschieds von der Öffentlichkeit, der Gesellschaft, der Welt. Wenn der Eindruck nicht täuscht, dass de la Sierras Musik darüber hinaus die Soundscape für einen Eskapismus höherer Ordnung bereit hält, dann wegen der mantischen Hellhörigkeit, mit der sie teilhat am kollektiven Unbewussten Kaliforniens, das unaufdringlich aber beharrlich die interessantesten Projekte dort ansässiger Künstler und Wissenschaftler nolens volens zu Seismografen ihrer kollektiv gefährdeten Existenz macht. Als Genius loci Kaliforniens hat Mike Davis bekanntlich einen "apokalyptischen Themenpark" tektonischer und klimatischer Rückkopplungen identifiziert, der die Katastrophenfaszination Hollywoods seit Beginn der Filmgeschichte alimentiert hat.12

Man darf getrost auch die Ewigkeitsversprechen des Transhumanismus, die Besessenheit seiner Protagonisten davon, "sich" in dem einen oder anderen Aggregatzustand zu überleben, auf das untergründige Wirken dieses mythopoietischen Dispositivs zurückführen.13 Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass diese kulturell und wissenschaftlich hyperaktive Region zugleich eine der von Naturgewalten am stärksten bedrohten auf dem Planeten ist. Die alle Umtriebe im Sonnenstaat überschattende Fatalität eines über kurz oder lang die großen Städte verwüstenden Big One nimmt einzig die Gegenkultur von Minimal und Ambient Music mit enervierender Gelassenheit auf sich. Und wer mit dem Song de la Rose von den Gestaden des Pazifik ablegt, sich der Drift seiner Wellenbewegungen überlässt, den Andreas-Graben vor Augen, der eines Tages Westkalifornien vom amerikanischen Kontinent abspalten und Richtung Asien treiben wird, der gerät leicht in eine postapokalyptische Trance: die Welt scheint untergegangen, die Kataklysmen überstanden und niemand könnte sagen, ob er überhaupt noch am Leben ist oder wieder oder das Ende nur geträumt hat.

"Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist." Ludwig Wittgenstein, Tractatus


Daniele Dell'Agli

3 Kyle Gann, Reconstructing November (PDF Direktdownload bei Google)

4 Jordan de la Sierra, Gymnosphere, Song of the Rose: https://www.youtube.com/watch?v=eNStO_ndXHE

5 Kyle Gann, Just Intonation explained: http://www.kylegann.com/tuning.html

6 In einem berühmten Experiment hat Alvin Lucier 1969 seine Stimme in einem Raum aufgenommen, daselbst wieder abgespielt und wieder aufgenommen und so weiter und so fort: bereits nach einem Dutzend Durchgängen ist die Stimme nicht mehr zu erkennen, nach dem 32. Mal hört man nur noch die dem Raum eigenen Hallfrequenzen, die am ehesten an gedämpfte Glocken erinnern. I'm sitting in a room... heißt das unter Akustikern der musikalischen Avantgarde kanonisch gewordene Stück, das de la Sierra inspiriert haben dürfte: https://www.youtube.com/watch?v=bhtO4DsSazc

7 Entsprechend spielt sie de Leeuw (https://www.youtube.com/watch?v=Yl7fK23F5QU.) konzeptionell als Gegenstück zu Liszts fast zeitgleich (1882) komponierter Lugubre Gondola, die er im Rahmen seiner bahnbrechenden Aufnahme der späten Klavierwerke Franz Liszts 1979 veröffentlicht hatte: "The Final Years" - Teldec 6.42489 AW. Unverständlich, warum dieser wichtigste Beitrag zur Neubewertung von Liszts freitonalem Spätwerk nie wieder aufgelegt wurde).

8 Die Affinität von Wiegenliedern und Abschiedsliedern habe ich ausführlich analysiert in: Drifting Away. Zur Nirwanologie der Ambient Music: https://www.perlentaucher.de/essay/drifting-away.html

9 Überhaupt erfahren die weitgehend aus dem Alltagsleben verdrängten Glockenklänge in Minimal und Ambient Music eine gespenstische Renaissance. Verwandelt tauchen sie in Brian Enos Music for Airports (1976) und Tom Johnsons An Hour for Piano (1971 komponiert, 1978 veröffentlicht) auf, puristisch erforscht und (re-)inszeniert in Tom Johnsons Nine Bells (1982) und Charlemagne Palestines Bells Studies (1965-2015). Sie alle melden den Anspruch an, die reine Klangmagie eines der ältesten Instrumente der Menschheit wiederherzustellen, befreit davon, Gläubige zur Messe zu rufen, Sakramente zu feiern oder Unheil anzukündigen.

10 Die dunkle, todesträchtige Seite der Wassermythologien und ihrer Figuren hat Gaston Bachelard in Le complexe de Caron. Le complexe d'Ophélie, dem dritten Kapitel von L'eau et les rêves (1942) untersucht, allerdings ohne auf Metaphern der fluidalen Selbstauflösung einzugehen.

11 Dem "ozeanischen Kontinuum" als Grundlage jeder evidenzbasierten, gottlosen Mystik hat neuerdings Peter Sloterdijk eindringliche Seiten gewidmet: Der mystische Imperativ, in: Nach Gott, Berlin 2017, S. 283-299.

12 Mike Davis, Ökologie der Angst. München 1999

13 Für die prima vista gewagt erscheinende Parallelisierung von kollektivem Unbewussten, Genius Loci und mythopoietischem Dispositiv finden sich in dem grundlegenden Werk Genius Loci (Stuttgart 1982) des Architekturtheoretikers und Heidegger-Schülers Christian Norberg-Schulz wichtige Hinweise.