Essay

Wir werden hier leben

Von Jozsef A. Berta
12.04.2018. Das Wahlsystem ist manipuliert. Viktor Orban operiert mit Hass, Neid, Antisemitismus und Korruption - aber es hilft nichts: Er hat die ungarischen Wahlen vom Sonntag erneut mit großer Mehrheit gewonnen. Wie die letzten unabhängigen Medien des Landes die Wahlen kommentierten.
Die Parlamentswahlen in Ungarn am Sonntag brachten für die amtierende Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban und seine Partei (Fidesz) erneut eine stabile Zweidrittelmehrheit. Die Wahlbeteiligung lag mit 70 Prozent hoch. Verschiedene Faktoren spielten bei dem Sieg Orbans eine Rolle, so das zugunsten der Regierungspartei veränderte und verzerrte Wahlsystem, die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Oppositionsparteien, die überwiegende Dominanz von staatlichen und regierungsnahen Medien oder die anhaltende hassschürende Kommunikationskampagne der Regierung gegen die EU, gegen Flüchtlinge und Migranten und gegen den US-Milliardär George Soros.

Dennoch muss erkannt werden, dass ein signifikanter Teil der ungarischen Bevölkerung trotz der Korruptionsskandale, trotz der katastrophalen Lage des Gesundheitswesens, des Bildungswesens und der sozialen Sicherungssysteme Viktor Orban und seine Partei wählte. Die wenig übriggebliebenen unabhängigen Medien kommentieren die Wahlen dementsprechend niedergeschlagen.

In der Online-Ausgabe von HVG kommentiert der Publizist Arpad W. Tata: "Heute fühlen wir uns sehr alleine. Alles scheint sinnlos. Als wären wir für nichts vier oder acht Jahre gealtert. Doch das ist nicht wahr. Es war zu wenig um das auf den Leib geschneiderte, mit industriellem Betrug und Manipulation, durch Hass, Unrecht und Gewalt gestützte System einzureißen. Die tausende Appelle, Demonstrationen, Artikeln, Theaterinszenierungen und Internet-Memes waren nicht genug. Doch sie waren genug, dass wir voneinander wissen. Dass wir wissen, dass wir nicht alleine und nicht einmal wenige sind."

Der Chefredakteur der Wochenzeitschrift 168 óra Zoltan Lakner kommentiert die Wahlen auf der Website: "Erneut zwei Drittel. (...) Die Frage ist (aber ist das die Frage?) ob Orban von seinen Verbündeten in Europa, der opportunisitischen Europäischen Volkspartei zurecht gewiesen wird... Oder winken sie bei Ungarn nur ab oder versuchen gar  die Methoden des ungarischen Ministerpräsidenten zu übernehmen? (...) Die Politik des Neids, der Angst und des Hasses erhielt die Zweidrittel-Mehrheit durch ein verzerrtes Wahlsystem, durch Hassmedien und durch die Aneignung des Landes. Jetzt können die restlichen freien Medien, die Gerichte, die Zivilgesellschaft, die noch abtrünnigen Selbstverwaltungen und all das Geld und Vermögen, das noch nicht abgeschöpft ist, in das Fadenkreuz geraten. Wer ein anderes Ungarn will, der muss alles von vorne anfangen."

Auf dem größte Nachrichtenportal von Ungarn, Index, welches selbst unsicheren Zeiten entgegen schaut, verweist der junge Publizist Marton Karpati auf die verschiedenen Bruchlinien in der ungarischen Gesellschaft, die nun mit der Wahl erneut demonstrativ in Erscheinung traten."Ein Großteil des Landes interessiert sich nicht für die Fakten, ihm reicht die auf vollkommen falschen Pfeilern beruhende Nachricht, dass wir hassen sollen und jeden aufhalten, dessen Hautfarbe anders ist, der aber ansonsten auch nicht in Ungarn leben wollte. (...) Es stört auch nicht, dass in den staatlichen Schulen unsere Kinder kein Wissen und Bildung erhalten, mit denen sie die Herausforderungen der Zukunft meistern können. Sie scheißen drauf, dass wegen eines Spleens des Ministerpräsidenten das Land nun voll von Stadien ist und es ist auch kein Problem, dass der Großteil der Presse in den Dienst der Regierung gestellt wurde. (...) Für eine Mehrheit der Wähler ist der Platz der Frau in der Küche. Ihnen gefällt, dass die Regierung mit Putin befreundet ist, während sie das Volk gegen die EU aufhetzt. Gestern stellte sich heraus: in so einem Land leben wir."

Der Chefredakteur der neuen Nachrichtenseite Merce, Andras Jambor, verweist auf einen Film von Peter Gothar aus dem Jahre 1982, der das aussichtslose Gefühl des Landes nach der niedergeschlagenen Revolution von 1956 thematisierte. "Die Konsequenz, die wir ziehen könnten, wäre lediglich das bekannte Zitat aus dem Film 'Time stands still': 'Gut, dann werden wir halt hier leben!' Wir werden hier leben, denn gleichgültig, welches Ergebnis es bei den Wahlen zustande kam, dieses Land ist auch unser Land. Sei der Sieg und die Parlamentsmehrheit von Fidesz noch so groß, mehr als die Hälfte des Landes stimmte gegen sie. Viele werden nach diesem Ergebnis das Land verlassen, doch wir, die bleiben, müssen weiter in diesem Land leben und arbeiten. Auch wenn es beschissen ist und auch wenn noch beschissener wird. Wir werden hier leben. Wir sollen auf uns und aufeinander aufpassen, wir die geblieben sind, sollen uns einander zuwenden und einander helfen. Es kommen harte Zeiten." Hier ein New-York-Times-Artikel über Gothars Film.

Jozsef A. Berta