Essay

Solothurn - Softpunk

Von Charlotte Krafft
07.06.2017. Zum 39. Mal bietet Solothurn die Kulisse für das einzige dreisprachige Literaturfestival der Schweiz, die Solothurner Literaturtage. Ich war dort, um die Probe aufs Exempel zu machen: Wie steht es tatsächlich um die junge deutschsprachige Literatur und ihr Verhältnis zur Fiktion? Ist sie wirklich so postpost, so mut- und fantasielos, so Ich-voll, wie ich kürzlich behauptet habe?
Solothurn - eine Stadt, die aussieht als sei sie der Fantasie eines eskapistisch veranlagten Großstadt-Teenagers entsprungen, der sich das Altwerden mit seiner Angebeteten ausmalt. Hier will man nicht geboren werden! Hier möchte man seinen Lebensabend in idyllischer Ruhe, Ordnung und Geborgenheit verbringen: in der Verenaschlucht die Artenvielfalt bewundern, sich mit dem E-Bike den Planetenweg entlang radeln lassen, handgemachten Schweizer Käse auf dem Wochenmarkt verkosten, vor der St. Ursen Kathedrale Campari zippen, ab und an einem sentimentalen Gedanken nachhängen und sich einmal im Jahr bei den Solothurner Literaturtagen das Neueste der Literaturwelt präsentieren lassen. Und das meine ich alles gar nicht so sarkastisch wie es klingt.

Die Literaturtage sind das wohl größte jährliche Happening in dem Märchenort an der Aare. Einmal im Jahr ist Solothurn das Zentrum der (literarischen) Schweiz, die Hotels sind ausgebucht, die Straßen voll und es gibt zu gucken, zu zeigen, zu hören und zu lesen.

Als Rentnerparty wurde mir das Festival angekündigt. Natürlich habe ich mich davon zu keinerlei Vorurteil hinreißen lassen, aber. Tatsächlich scheint der Altersdurchschnitt des Publikums um die 70 zu liegen, wie ich bereits beim Apéro am ersten Abend im Stadttheater feststelle. Es wird Sekt, Weißwein und Mineralwasser ausgeschenkt, man begrüßt sich rückenreibenderweise vor dem Theater, blinzelt genüsslich in die Abendsonne, nippt am Weinglas. Die Leute scheinen entspannt, die kostspielig gepflegten Gesichter glänzen in prallgesunder Mai-Bräune, sie lächeln und unterhalten sich über angenehm Belangloses wie Hunde oder Straßenunterführungen. Dankche, Biette, Merzi, Grüezi süßelt man sich zu, es riecht sanft und anheimelnd nach Magensaft und Mundwasser. Um kurz vor sechs beginnt dann das eigentliche Programm mit italienischer Volksmusik, dargeboten von einem jungen, hippiesken Akkordeonspieler.

Es werden Übersetzungsgeräte ausgeteilt für die französisch- und italienischsprachigen Besucher, denn die Solothurner Literaturtage sind das einzige schweizerische Literaturfestival, das sich allen drei Literaturen des Landes öffnet. Danach stellt die Leiterin sich, das Festival und ihr überraschend junges Team sowie einige Leitgedanken vor und mir scheint, was ein Blick ins Programmheft bestätigt, dass der zuvor geschätzte Altersdurchschnitt der Gäste sich keineswegs mit dem der Organisatoren und der eingeladenen Autoren deckt, von denen immerhin die Hälfte unter fünfzig ist. Vielleicht will man, kurz bevor das Festival vierzigjähriges Jubiläum feiert, dem Ruf der Rentnerparty aktiv entgegenwirken. Vielleicht richtete sich auch zu diesem Zweck die Einladung der Pro Helvetia, dank derer auch ich Gast in Solothurn sein darf, in diesem Jahr  insbesondere an Bloggerinnen und Blogger, mit denen man sich beim eigenst dafür einberaumten Treffen am Freitagabend einen anregenden Austausch zum Thema Blog vs. Klassische Medien erhofft.

Es fällt das Stichwort Fiktion. Wie sich heutzutage noch zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden lässt, zwischen Nachrichten und Fake-News, fragt sich die sympathische Rednerin, warum wir immer wissen wollen, an welcher Stelle genau zwischen beidem ein Text steht, und ob wir in der Literatur diese Fragen nicht einfach mal getrost vergessen könnten oder sogar sollten. Falls dies tatsächlich die Leitgedanken der hier präsentierten Literatur sein sollten, so könnte ich mich auf eine Menge Stoff freuen, denn schließlich bin ich hier, um eine Probe aufs Exempel zu machen. Wie steht es tatsächlich um die junge (geförderte und vermarktete) deutschsprachige Literatur und ihr Verhältnis zur Fiktion? Ist sie wirklich so postpost, so mut- und fantasielos, so Ich-voll, wie ich selbst gewagt habe zu behaupten? (siehe Das Postpost oder Wege aus dem Ich) Und wie macht sie sich im Vergleich zur neuen Literatur der Älteren und Alten?

Als nächster Redner tritt Ilija Trojanow auf die Bühne und gefällt mit einer perfekt durchkomponierten Rede, wie sie in "Deutsch für junge Profis" (Dieses Buch gibt es wirklich, ich habe es gelesen) stehen könnte, da sitzt jedes Päuschen, da passt jedes Grinsen - beeindruckend. Unterhaltsam, lebhaft und straff spricht er über den Kanon beziehungsweise die Kanons und stellt anhand zahlreicher Beispiele deren Repräsentativität in Frage und zwar so gekonnt, dass kaum einer bemerkt, wie alt diese Leier ist. Sein Running Gag: Gabriel García Márquez - "Hundert Jahre Einsamkeit" - das einzige Buch eines Nicht-Westeuropäers, das auf keiner europäischen oder amerikanischen Bestenliste fehlt. Das Publikum ist dankbar und mir fällt auf, dass niemand auffällt, durch wichtigtuerisches Einzelgelächter, -geraune, -gestöhne oder -genicke beispielweise. Das Eingeweihten-Lachen ist kein unangenehm angestrengtes, sondern eines der Entspanntheit, die einen im Kreise Gleichgesinnter anfällt, ja anfällt.

Am Ende fordert Trojanow seine Zuhörer schließlich auf, ihren Horizont doch mal ein Stückchen zu erweitern, zum Beispiel, indem sie in eine Buchhandlung gehen und das erste Buch eines Autors auswählen, dessen Namen sie nicht aussprechen können. Wie schön. Und diese Horizontserweiterung soll nun in Solothurn beginnen? Wieder schaue ich ins Programm und tatsächlich scheint es auf den ersten Blick, als hätten sich die Organisatoren Trojanows Appell zu Herzen genommen. Immerhin zehn der 71 eingeladenen Autoren sind außerhalb Westeuropas geboren, allerdings nur sechs davon außerhalb der Schweiz, Frankreichs oder Deutschlands aufgewachsen, ein einziger darunter aus dem subsaharischen Afrika (Fiston Mwanza Mujila, er sitzt neben mir und wir überlegen, was wir einander noch fragen könnten.) Gehört der Roman eines in Bulgarien geborenen, mit sechs Jahren nach Deutschland geflohenen Autors nun zur deutschen oder zu bulgarischen, zur westeuropäischen oder zur osteuropäischen Literatur?

Nach einer kurzweiligen Stunde begeben sich die Gäste grüppchenweise zur Rothushalle, wo ein köstliches Buffet und viel hervorragender Wein (was ich durchaus nicht einschätzen kann) zum Genuss bereitsteht. An langen Tischen sitzen Autoren neben Übersetzern, Feuilletonisten und Bloggern. Wer ins Gespräch kommen will, kommt ins Gespräch, wer in Ruhe gelassen werden möchte, wird in Ruhe gelassen. Wie nett.

Der nächste Tag beginnt mit einer Lesung von Volker Braun, nein dem voraus geht natürlich ein herrliches Frühstück im Hotel, bei dem ich in Anbetracht der Schweizer Preise gezwungen bin, meine Hosentaschen mit Müsli vollzustopfen, wie einst Napoleon Dynamite, und dann geht's zur Lesung von Volker Braun im großzügigen Landhaussaal, das Zentrum des Festivals, welches laut Internetseite der Literaturtage eine "literarische Atmosphäre" verströmt. Der Saal ist etwa zu drei Vierteln gefüllt, am Altersdurchschnitt hat sich nichts verändert. Aus seinen Gedichten der letzten zehn Jahre wird Volker Braun lesen, kündigt der Moderator an, spricht ein bisschen über die Geschichte des DDR-Autors, seine Dramen und seine Lyrik. Dann übergibt er das Wort an Braun.

"Grüezi mitanand" - ein höfliches Lachlächeln geht durch den Raum. Der Titel seines ersten Gedichts… "Der Tag der Migranten"! Och nee. Was darauf folgt - man kann es sich vorstellen und es ihm nicht übel nehmen. Die literarisch besten Jahre hat er hinter sich - denke ich und komme mir brutal und anmaßend dabei vor, vielleicht dächte ich auch anders, wenn der erste Titel nicht jener gewesen wäre und wenn ich die Gedichte vor mir zu lesen hätte. Mit Lyriklesungen ist das ja immer so eine Sache. Und mit der Aktualität auch. Jedenfalls wird mir schnell langweilig und ich richte meine Aufmerksamkeit auf die anderen Zuhörer, die größtenteils mit hängendem Kiefer vor sich hin starren, die Ohren irgendwo in Richtung Himmel gerichtet, ganz eindeutig aber nicht auf die Bühne, aus diesem halbbewussten Zustand nur zwischendurch gerissen durch das verstreute Lachen einiger weniger tatsächlich zuhörender Mitwisser, dem sich tröpfelnd jeder anschließt, der zuhause über 150 Bücher im Regal zu stehen hat. Aber auch das wird mir irgendwann zu dröge und ich verlasse die Lesung mit etwa einem Viertel der übrigen Zuhörer frühzeitig. Verzeih.

Es folgt eine Podiumsdiskussion unter dem vielversprechenden Titel "Die Macht der Geschichten" mit Olga Grjasnowa, Jonas Lücher und Peter Voegeli. Wieder geht es um Fiktion und Fake-News, scheinbar ein Thema, das die Leute hier umtreibt, doch leider stellt sich die Veranstaltung als Mogelpackung heraus. Jonas Lüscher bekräftigt mehrere Male beleidigt, sein neues Buch sei "ein Roman, kein Essay", wie dauernd behauptet würde, und es hätte auch nichts essayhaftes, ja es sei... "eben ein Roman", Peter Voegeli kommt so gut wie gar nicht zu Wort und Olga Grjasnowa sagt ungefähr dreißig Mal hintereinander "Wahrscheinlichkeit". Sie und Lüscher sind sich einig, dass die Fakten als Hintergrund der Fiktion, der Raum, indem die Fiktion sich entfaltet, "stimmen" müssen und dass das Fiktive wenn nicht realistisch, so doch wenigstens wahrscheinlich zu sein hat. Daher gehöre zu guter Literatur auch immer eine gründliche Recherchearbeit, meint Grjasnowa und bringt mehrfach an, dass die Recherche zu ihrem neuen Buch "ja wirklich eine sehr umfangreiche, wirklich sehr umfangreich" gewesen sei.

Offensichtlich bin ich in einer dieser Diskussionen gelandet, von denen jeder im Nachhinein problemlos und in füllig klingenden Worten sagen kann, welche Themen besprochen wurden, jedoch nicht wirklich benennen kann, was genau der Mehrwert für den Zuhörer sein sollte. Immerhin kenne ich jetzt Olga Grjasnowas Lieblingswort, habe eine schöne Bemerkung von Jonas Lüscher aufgeschnappt ("Die Literatur als wissenschaftliches Instrument") und eine Flasche Mineralwasser umsonst bekommen.

Nach einigen Kurzlesungen, die mich weder ärgern noch begeistern können, darunter Ilma Rakusa, Dieter Zwicky und Symapthieträger Franzobel, wende ich mich dem literarischen Nachwuchs zu und hoffe, dass dieser Erfrischung bieten kann. In dem kleinen Kinosaal im Uferbau sind alle Stühle besetzt, einige Besucher stehen am Rand, ein Teil muss an der Kasse umkehren. Scheinbar wurde das allgemeine Interesse an dem, was die Jüngsten momentan schaffen, oder auch die Zahl ihrer treuen Freunde unterschätzt. Als der Moderator zu sprechen beginnt, hat sich unter mir bereits ein Pfütze gebildet, alles tropft, stöhnt und stinkt in dem engen, stickigen Saal, die Damen fächern sich mit ihren Programmheften "Luft" zu, die Herren lassen hechelnd die Köpfe zwischen die Beine hängen. Ein live Hörspiel wird angekündigt mit dem Titel "Spazieren gehen muss ich unbedingt", ein Zitat aus Robert Walsers "Der Spaziergang", auf den sich die Texte der Studierenden des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel beziehen.

Fünf Schauspieler treten nun auf die Bühne und beginnen abwechselnd aus den verschiedenen Texten vorzutragen, begleitet von Klarinettenmusik, Straßenaufnahmen und animierten Illustrationen auf der Kinoleinwand. Die Schauspieler lesen als hätte man ihnen vorher gesagt: Lest genau so, wie ihr es von den allerlangweiligsten Lyriklesungen kennt, pathetisch und mit viel Atmen dazwischen. Falls auch nur ein Fünklein Humor in den Texten stecken sollte, haben die Vorleser ihn auf jeden Fall erstickt. Die Autorin des einzig minimal interessanten Texts wird sich nach der Veranstaltung beschweren, die Schauspieler hätten den Texten ja aber auch wirklich keinen Gefallen getan.

Im Großteil der Arbeiten wird durch mehr oder minder realistische Ortschaften, meist Biel - ja - spaziert! Es geht ja schließlich um "Der Spaziergang" und was läge da näher? Nichts! Ich versuche mich auf das Gehörte einzulassen, alle Vorurteile, alle Oberflächlichkeiten abzulegen und (auch) das beste herauszuhören, doch all mein guter Wille kann nichts gegen das einfache Gesetz der Komparation ausrichten: Wo nichts Gutes ist, kann es kein Bestes geben. Entschuldigt. Ich bin so frei...

Es überrascht mich nicht, dass alle Texte aus der Ich-Perspektive geschrieben sind. Doch wundere ich mit über die umwerfende Zahl prätentiöser Adjektive von der Sorte: "Hallo, hier bin ich, ich bin ein Adjektiv!", wo diese Wortart an den Schreibschulen doch angeblich so einen schlechten Ruf genießt, ja genießt.

Abgesehen von einem einzigen Text über ein Paar Handschuhe, sind die Reaktionen auf Walsers hundert Jahre alte Erzählung allesamt schrecklich fad und nicht nur das, gerade die simpelsten, absolut bedeutungsleeren Begebenheiten und Sachverhalte werden in dieser blumig bemühten und leider dilettantisch altertümlichen Sprache aufgepumpt und groß geredet, die einen rasend macht. Vollgestopft ist jede Zeile mit blassen (weil urururalten) Bildern, Vergleichen und ausgezwitschelten Paradoxa (Ich sag nur "lärmende Stille"), die dem sensiblen Kleinbürger einen angenehmen Schauder, eine Ahnung von Weite, Wahrheit und Universum über den Rücken rieseln lassen soll. Da wird ein einfaches Bad in der Aare zum, zum, ja was eigentlich?! Wir wissen es nicht. Zu gut kann ich mir vorstellen, wie die gelockte und blümchenberockte Autorin in der Dämmerung am Schreibtisch vor dem Fenster sitzt und fein lächelnd, vollkommen von sich überzeugt, ein geschwungen, nein ein extra bekringeltes e an den "Wald" hängt.

Und das alles bei einer Vorlage wie "Der Spaziergang", einem gerade für Schreibende so interessanten, so spielerisch mit der Rolle des Erzählers umgehenden Text. Tatsächlich erscheint es mir als habe keiner der Autoren ihn wirklich gelesen, den subtilen Humor, die köstlich feine Ironie darin entdeckt. Im wenig erhellenden Gespräch danach lassen einige raushängen, sie hätten nicht viel mit Walser anfangen können - mir blutet das Herz, es blutet!

Den unklaren Status von Walsers Spaziergang zwischen Fakt und Fiktion, den Wechsel zwischen Faktualität suggerierendem Präsens und Fiktionalität erzeugendem Präteritum greifen drei der Autoren auf, indem sie versuchen, ihren Texten eine plump mystische Note beizugeben. In jedem Satz ist zu hören, wie sich sein Verfasser beim Schreiben vorgestellt hat, dem Leser flattere das Wort "kafkaesk" im Kopf herum, er es jedoch, Gott bewahre, natürlich nicht, niemals! ausspricht.

In den hier vorgetragenen Texten sehe ich alle meine Einschätzungen bestätigt: mutlos, leidenschaftslos, leer, auf das eigenst Erfahrene und direkt Zugängliche beschränkt. Ich habe Pathos gefordert, und Mut zum Vielgesagten, zur Träumerei und zum Trotzdem und ich habe vergessen, zu erwähnen, dass all dies natürlich nicht nur sich selbst dienen sollte. Ich könnte diesen Texten wahrscheinlich alles mögliche verzeihen, dass aber in ihnen keinerlei Notwendigkeit zu spüren ist, kein Drängen, das kann ich ihnen nicht verzeihen. Es sind Texte, die geschrieben sind als Ausweis für die Formulierungsgabe, für das sprachliche Geschick des Autors, und nicht mal das haut hin. Schade Schade Hitparade.

Glücklicherweise bekommt meine vorerst behutsam geäußerte Kritik nach der Veranstaltung von verschiedenen Seiten Zuspruch und ich erfahre, dass eine ältere Zuhörerin sich bei einer der Autorinnen sogar beschwert hat über die Respektlosigkeit gegenüber einem so großen Nationalautor. Da muss ich allerdings auch lachen. Wir regen uns ein bisschen auf, einfach, weil es gut tut und einigen uns darauf: a) Gute Schriftsteller stellen komplizierte Sachverhalte einfach dar, b) schlechte Schriftsteller stellen einfache Sachverhalte kompliziert da, und wir freuen uns, dass wir mit dieser wohlformulierten Feststellung eindeutig zu Kategorie a) gehören müssen.

Ich bin erschöpft von so viel Blödsinn, ergebe mich fast schon, raffe mich dann doch noch auf, um zur Lesung von Flurin Jecker zu gehen, Debütant und ebenfalls ehemaliger Student des Schweizerischen Literaturinstituts. Ich bin auf das Schlimmste gefasst, doch, ich hätte es nicht gedacht, es lohnt sich!

Jecker liest aus seinem jüngst erschienen Roman "Lanz" über einen 14-jährigen Jungen und ich bin positiv überrascht. Spannend, locker und mehrmals pro Seite zum Lachen ist sein fiktiver Blog. Am meisten begeistert mich aber die Sprache. Es ist eine selbst kreierte Jugendsprache, die er die Kids im Roman sprechen lässt. Warum er nicht versucht habe, die aktuelle Jugendsprache zu imitieren, wird er im Gespräch nach der Lesung gefragt und antwortet: Die Sprache der Teenager würde sich so schnell wandeln, da könne der Literaturbetrieb einfach nicht mithalten, er habe etwas erfinden wollen, einen Slang, der durch seine Fiktionalität immer aktuell bleiben kann oder zumindest nie inaktuell wird - er erntet viel herzliches Gelächter und lächelt selbst die ganze Zeit beim Sprechen, antwortet klug, aber einfach und direkt, gelassen und so über die Maßen ehrlich, dass es eine Freude ist. Er sagt "ficken" auf der Bühne und widerspricht ohne Hemmungen der Moderatorin, die auf Biegen und Brechen versucht irgendwelche großartigen philosophischen Perspektiven, intertextuellen Bezüge oder wenigstens eine Hand voll Archetypen in den Text zu quetschen, der allerdings partout nicht mehr sein will als das Porträt eines relativ normalen, ziemlich einsamen und mit Humor gesegneten jungen Knaben. Mut zum Fremden? Check! Mut zur Fiktion? Check! Mut zur lustigen Frisur? Check Check Check! Fetzig! Nun steht es also eins zu eins, ein Exempel pro Postpost, ein Exempel contra Postpost.

Am nächsten Morgen besuche ich eine Spoken Word Performance mit Big Zis, einer schweizerischen Künstlerin, die als Rapperin angefangen hat, in ihren Lyrics die HipHop-Klischees ihrer männlichen Kollegen ironisierend und dekonstruierend. Schon bevor die Lesung beginnt, erlaube ich mir den Genuss einiger Notizen zu möglichen Formulierungen für einen fiesen Verriss dieser Veranstaltung. Poetry Slam und Spoken Word, das sind schließlich "die Paralympics der Literatur", das weiß doch jedes Kind bildungsbürgerlicher Eltern. Der Saal ist fast bis zum letzten Sitzplatz gefüllt, man will scheinbar nun endlich auch mal wissen, was es mit diesem/dieser/dieses Spoken Word auf sich hat. Ich erwarte das Übliche: Genau frech genug, um authentisch zu wirken, genau brav genug, um nicht zu befremden, doch wieder werde ich ganz gegen meinen Willen positiv überrascht und schäme mich für meine Voreingenommenheit.

Leider verstehe ich nur einen Bruchteil der Texte, die die kleine 41-jährige Frau vorträgt, da sie auf Mundart singt/spricht, doch das ist auch gar nicht unbedingt nötig, um zu erkennen, dass diese, ich sag es ja ungern, aber Ausnahme-Künstlerin Talent, Übung, musikalisches Gespür, Originalität, Witz und Authentizität miteinander aufs erquicklichste verbindet. Viele ihrer Texte gewinnen ihre Kraft aus der Wiederholung, aus inhaltlichen und klanglichen Assoziationen, der Stimmung, die Semantik, Melodie und Rhythmus der Worte erzeugen, sich ergänzen und aus den klanglichen Metamorphosen von einzelnen Begriffen, die sich auffalten, spalten, zu Takken, zum Klicken, zu Tropfen werden und sich dann plötzlich wieder zusammensetzen zu anderen Begriffen. Es entfaltet sich hier eine Art von Humor, der auf dem Zusammenspiel von Inhalt, Klang und Rhythmus basiert und sehr rar ist. Ich bin begeistert, genauso wie die Leute um mich herum.

Es ist schwierig diese Form von Kunst in Bezug zu meiner Theorie des Postpost zu setzen, da diese sich eher auf Prosa-Formen und generell mehr auf Inhalt als auf Form bezieht und daher der Kraft, die aus Klang, Rhythmus und Arrangement entsteht, nicht wirklich Rechnung tragen kann. Eines allerdings muss ich mir eingestehen und es ist wichtig: Nicht alles, auf das wir uns einigen können, ist ein schlechter Kompromiss!

Es ist vor allem diese Erkenntnis, die am Ende des Festivals bleiben wird, denn sie trifft sowohl auf den Roman von Flurin Jecker, als auch auf die Texte von Big Zis und die Texte von Michael Fehr zu, dessen Lesung ich am Abend des zweiten Tages im Landhaussaal besuchen werde, dazwischen höre ich mir wieder einige kurze Lesungen von Olga Grjasnowa, Jonas Lücher und Pius Strassmann an, die mir jedoch kaum der Worte wert sind, außer dieser: alles ordentliche Texte, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen befassen. Ihr Anliegen ist sicher ehrenwert, auch muss ich zugeben, dass sie sich nicht nur auf die eigenen Erfahrungen verlassen, sondern tatsächlich dem Fremden und der Fiktion einen gewissen Raum geben, womit sie einer meiner Kernthesen widersprechen. Auch, gerade in Grjasnowas Fall, sind sie offensichtlich mit viel Recherche verbunden, was lobenswert ist. Ja, es ist gut, dass es diese Bücher gibt, aber was mir fehlt, ist das sprachliche Experiment, andere vielleicht abwegigere, neue Themen oder eben alte, sich neu zu eigen gemachte, statt immer nur das, was man aktuell nennt. Wenn ich benennen könnte, was neu wäre, wäre es ja nicht mehr neu, nicht wahr? Was ich von Big Zis und Michael Fehr gehört habe, gibt mir allerdings Hoffnung.

Michael Fehrs Texte funktionieren am besten, wenn man sie sich von ihm vorgetragen lässt, begleitet von Manuel Trolle auf der Gitarre. Die Frage, ob das nun eher Literatur oder eher Musik ist, löst sich irgendwann im Laufe des Abends in Wohlgefallen auf. Es ist der Blues! Oh ja, da sitzt er und krächzt aus Fehrs charmantem Mund von widerspenstigen Mädchen, von Liebeskummer und Einsamkeit, aber auch von einer Gesellschaft, die dem Grauen der Gegenwart in Gestalt des Teufels tatenlos, ja gleichgültig gegenüber steht. Wie Big Zis macht sich auch Fehr die Wiederholung einzelner Textpassagen zu nutze. Die zunächst heiter banal, teils witzig, teils krude erscheinenden Worte offenbaren erst nach mehrmaligem Hören ihre tiefere Bedeutung. Zum Lachen ist es die meiste Zeit und manchmal auch zum Schaudern. Grandios!

Natürlich kann das Ergebnis meiner Stippvistite bei diesem Literaturfestival keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben, aber einiges fällt einfach auf:
Es sind wohlgemerkt drei junge Künstler, die meinen Besuch bei den Solothurner Literaturtagen lohnenswert gemacht haben und es sind, noch mal wohlgemerkt, drei schweizerische Künstler, darunter zwei, deren Arbeiten gerade aus dem Überschreiten und dem Spiel mit Genregrenzen ihre Wirkung ziehen. Auf der anderen Seite waren es die Jüngsten, deren Literatur mich hier am ärgsten enttäuscht hat. Alles dazwischen, ob jung, alt oder medium, war sich doch erstaunlich ähnlich in seiner Gefälligkeit.

Ob es Mutlosigkeit, Angst, Respekt, Lethargie, Gemütlichkeit oder was auch immer ist, das die jungen Literaten im Nest herumkrauchen lässt, ich kann es nur ahnen. Sicher ist, dass, wenn bzw. falls es solche gibt, die sich hinaus trauen, ihre Literatur selten den Weg in die breite Öffentlichkeit findet, jedenfalls nicht die deutsche. Wirklich mutige Prosa, jedenfalls das, was ich darunter verstehe, habe ich in den letzten Jahren fast ausschließlich am äußersten Rand des Literaturbetriebs erleben dürfen. Ob das schon immer so war - ich kann es nicht einschätzen, aber vielleicht wissen es ja Christiane Kiesow oder Bertram Reinecke besser. Und wieder meine ich es weniger sarkastisch als es klingt.

Vielleicht sind experimentelle Künstler wie Michael Fehr und Big Zis in der Schweiz präsenter als in Deutschland, was daran liegen mag, dass die Verbindungen zwischen Förderung und Vermarktung hier (noch) nicht so eng geknüpft sind wie in Deutschland.

Obgleich keiner der Texte, die ich während der Solothurner Literaturtage gehört und gelesen habe, wirklich aufgeregt, verstört, schockiert oder gar polarisiert hat, habe ich in einigen davon mehr Mut entdeckt als in so manchem "aufklärerischen", "erschreckend aktuellen", "aufrüttelnden" oder "gnadenlos ehrlichen" Roman, dem die Kritiken derzeit die Füße knutschen. Was für die drei Autoren gilt, die sich mein Lob hier verdient haben, trifft auch auf das Festival im Allgemeinen zu. Eine überraschend erquickliche kleine Angelegenheit. Und nicht alles, auf das man sich einigen kann... hab ich ja schon gesagt.