Efeu - Die Kulturrundschau
Gymnastik und Atemübungen
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Literatur
Im Spiegel und im Guardian auch online bereitet die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri die Europäer darauf vor, was sie noch alles erwarten wird: Welche Ängste, welche Trauer, welche emotionalen Achterbahnfahrten: "Ihr werdet euch verletzlich fühlen, wenn ihr zum Einkaufen ausgeht, vor allem, wenn ihr eine Frau seid. Ihr werdet euch fragen, ob es sich so anfühlt, wenn Gesellschaften zusammenbrechen, und ob das wirklich so schnell gehen kann. Ihr werdet euch diese Gedanken verbieten, nach Hause gehen und essen. Ihr werdet zunehmen. Ihr werdet Fitnesskurse im Netz suchen. Ihr werdet lachen, unbändig viel lachen. Einen Galgenhumor entwickeln, schwarz und sarkastisch. Auch jene, die immer alles ernst nehmen, werden sich der Absurdität des Lebens voll bewusst werden.
Die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises protestiert in einem offenen Brief gegen die corona-bedingte Absage der diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur: Der Lesewettbewerb "wäre ein Zeichen der Solidarität mit den Kulturschaffenden, aber auch mit den Kulturkonsumierenden gewesen, die alle gleichermaßen von dieser Krise betroffen sind. ... Keine vergleichbare Institution verfügt über eine so vielversprechende Ausgangslage, ein solches Experiment auch zum Erfolg zu machen."
Online aus der Wochenendausgabe der NZZ nachgereicht, spricht Hilary Mantel im Interview über den Abschluss ihrer Cromwell-Trilogie. Dass die Reihe abgeschlossen war, sagte ihr spätestens das Porträts Heinrichs VIII., das eines Morgens aus freien Stücken seinen Weg von ihrer Wand auf den Fußboden fand, erzählt sie. Auch für Großbritannien sieht sie nach dem Brexit den Vektor des Schicksals eher nach unten weisen. Aber auch um ihren Roman geht es: "Wir haben es mit einer strengen Struktur zu tun, die die gesamte Trilogie zusammenhält. Erst den jungen Cromwell auf den Kopfsteinen des väterlichen Hofs, später den erwachsenen Mann, der den Tod erwartet. Dazwischen eine große erzählerische Fluidität."
Außerdem: In der "Freitext"-Reihe auf ZeitOnline schreibt die schweizerisch-rumänische Schriftstellerin Dana Grigorcea über die unterschiedlichen Sterbekulturen in Rumänien und in der Schweiz. Stefan Hochgesand spricht in der taz mit dem Autor Donat Blum über sein binnen weniger Tage aus dem Boden gestampftes, digitales Literaturfestival Viral. Im Standard porträtiert Mia Eidlhuber die Schriftstellerin Helena Adler. Marie Schmidt (SZ) und Tobias Wenzel (Dlf Kultur) gratulieren dem Schriftsteller Uwe Timm zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden unter anderem Daniela Emmingers "Der Bauernroman beginnt in New York" (Standard), Paolo Giordanos Coronakrisenbuch "In Zeiten der Ansteckung" (Tagesspiegel), Alan Moores und Jacen Burrows' Comic "Providence" (54books), Pascal Merciers "Das Gewicht der Worte" (Zeit), Jürgen Links "Hölderlins Fluchtlinie Griechenland" (Freitag), Markus Orths' "Picknick im Dunkeln" (NZZ), Joshua Groß' "Flexen in Miami" (SZ) und eine Arte-Doku über Hölderlin (FR).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Durs Grünbeins "Monatsblut":
"Was für flüchtige Existenzen wir sind. Nach uns
Sind die Stätten unseres Auftritts sofort wieder leer,
..."
Kunst
Erst hat sich das Bauhausjahr um eine umfassende Auseinandersetzung mit Johannes Ittens Esoterik gedrückt, jetzt musste das Kunstforum Hermann Stenner in Bielefeld seine kritische Schau schließen, seufzt Bettina Maria Brosowsky bedauernd in der taz. Dabei hätte sie sehr schön gezeigt, wie Itten einem Ideal höchster Subjektivität anhing, das ihm zum Verhängnis wurde: "Er dynamisiert das Zeichnen, lässt seine Studierenden etwa Skizzen eines sich bewegenden Aktes als reine Hand-Arm-Bewegungen oder mit geschlossenen Augen ausführen: Wirkungsformen, Gefühlsstenogramme. Er erkennt unterschiedliche Künstlertypen in der Atmung - 'rembrandtisch, giottonisch' -, erweitert die Lehreinheiten um Gymnastik und Atemübungen. Itten will den Menschen aus der anerzogenen Form befreien, die erschreckend armselig sei, und sucht den Reichtum höchster Subjektivität. In Wien konfrontiert er seine Studierenden wie später am Bauhaus mit Spinnen oder der Distel: von ihr mussten sie sich stechen lassen, um das Schmerzhafte, Aggressive zu erspüren, ihre Form zu 'erleben' - die Synästhesie im Dienste künstlerischen Schaffens."
Weitere Artikel: Harvey Weinstein hätte sich die Tizian-Ausstellung "Love, Desire, Death" in der National Gallery in London nicht schöner wünschen können, spottet Michael Glover auf Hyperallergic. Sie versammelt alle sechs Gemälde des "Poesie"-Zyklus, der "Vergewaltigung, Gewalt und die Wildheit des Mannes" feiere. In der SZ betrachtet Thomas Steineld, wie die Florentiner Uffizien online über ihre wahrscheinlich noch Monate anhaltende Schließung hinwegtrösten, etwa mit dem Hashtag #UffiziDecameron. Ingeborg Ruthe resümiert in der FR, wie sich der Kunstmarkt ins Netz verlegt. Der Guardian bringt eine schöne Bilderstrecke mit den Fotos der Woche.
Besprochen werden die Steve-McQueen-Schau in der Tate Modern (taz) und eine Schau zu Lucian Freuds Selbstporträts im Museum of Fine Arts in Boston (FAZ).
Bühne
Weiteres: Die Nachtkritik hat ihren eigenen Nachtkritikstream geschaffen, seit gestern ist dort Christopher Rüpings Brecht-Inszenierung "Trommeln in der Nacht" zu sehen. Den allgemeinen Online-Spielplan gibt es hier.
Film
Musik
Große Trauer um den polnischen Komponisten und Dirigenten Krzysztof Penderecki, den spirituellen Avantgardisten, der von der Neuen Musik zurück zum sinfonischen Klang des 19. Jahrhunderts wanderte und damit "zum quasi spätromantischen Klassiker der gemäßigten Moderne" wurde, schreibt Ljubisa Tosic im Standard. Manchem galt er daher als "Abtrünniger", für Welt-Kritiker Manuel Brug war er hingegen das Paradebeispiel eines "freien Geists", einer der für "gloriose Hardcore-Musik aus dem Osten" stand, zum Glauben in der Musik fand und "zunehmend an der Schroffheit und Publikumsabgewandtheit der zeitgenössischen Musik und ihrer Dogmen" verzweifelte. So sagte er selbst über sich: "Meine Rückkehr zur Tradition hat mich vor der versteinernden Avantgarde des Formalismus gerettet."
Penderecki war "ein Komponist der Leidenschaft, des Lebendigen, auch des Genusses", dessen "Lebensgier" Helmut Mauró in der SZ auch als Reaktion auf "das Grau der Vor-Solidarnosc-Zeit" deutet. Und er war ein Pionier der Sonoristik, hät Jan Brachmann in der FAZ fest, also der "Verwendung von Klangfarben jenseits eines tonalen Systems" und "wollte die Sprachfähigkeit von Musik zurückgewinnen, nachdem der Serialismus nach dem Zweiten Weltkrieg das Kontinuum der Sprachhaftigkeit von Musik hatte abreißen lassen." Als Dirigent war Penderecki "ein ausgefuchster Praktiker, der die Klänge, die er komponierte, genau hörte und dosierte", schreibt Wolfram Goertz auf ZeitOnline, fügt aber auch hinzu, dass "dieser Klangluxus manchmal freilich ans Geschmäcklerische grenzte". Weitere Nachrufe in der FR und im Tagesspiegel. Kaum ein Nachruf lässt unerwähnt, dass auch große Filmregisseure wie William Friedkin und Stanley Kubrick sich in Pendereckis Werk für ihre Filme bedient haben. Ein spektakulärer großer Einsatz erfolgte vor wenigen Jahren in der mittlerweile legendären achten Episode von David Lynchs dritter "Twin Peaks"-Staffel:
Weitere Artikel: In der SZ staunt Michael Stallknecht über das Hausmusik-Projekt "Music never sleeps NYC", "das bislang beeindruckendste unter den vielen Überlebenszeichen, die die Klassik in den Zeiten der Konzertsaalschließungen zu geben versucht". Für die Zeit porträtiert Christian Staas die Saxofonistin Muriel Grossmann, eine Pionierin des Spiritual-Jazz-Revivials, deren Musik "nicht einlullt, sondern einen Zustand gesteigerter Wachheit" hervorruft. Stefan Hentz (NZZ) und Hans-Jürgen Linke (FR) gratulieren Eric Clapton zum 75. Geburtstag. 80 Jahre alt wird die Bossanova-Sängerin Astrud Gilberto, dem Jörg Wunder im Tagesspiegel gratuliert.
Besprochen werden Bob Dylans neues Song-Epos "Murder Most Foul" (FR, Welt, mehr dazu bereits hier), Shabaka and the Ancestors' Album "We Are Sent Here by History" (Pitchfork) und neue Musikveröffentlichungen, darunter Beethovens "Leonore" in einer Aufzeichnung des Freiburger Barockorchesters unter René Jacobs (FAZ).
In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Alexander Müller über "Waiting Room" von Fugazi: