Heute abend diskutieren in Berlin die Reporterin Swetlana Alexijewitsch, der Historiker Andrei Sorokin, der Historiker und Mitbegründer von Memorial Arsenij Roginskij und der Historiker Lascha Bakradse über die Aufarbeitung des Stalinismus in den postsowjetischen Staaten. Swetlana Alexijewitsch ist in Russland und Weißrussland berühmt für ihre literarischen Reportagen. Auch im Westen ist sie keine Unbekannte, doch ist sie hier längst nicht so bekannt wie beispielsweise Ryszard Kapuscinski.

Am Freitag trat sie schon im Collegium Hungaricum auf, um aus ihrem neuen Buch "Second-Hand-Zeit - Das Ende des roten Menschen" vorzulesen (noch nicht erschienen). "Ich habe versucht ein Bild von der neuen Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Zusammenbruch der Utopie darzustellen", sagte sie. "Jetzt gibt es den freien Menschen, dachte ich. Aber er ist zu dieser Freiheit nicht bereit. Er ist ein Sklave. Ich versuche das zu verstehen."

Sie erzählte von Anna, der 59-jährigen Architektin. Im Gulag geboren, mit fünf Jahren von ihrer Mutter getrennt und in ein Waisenhaus gesteckt, wo sie Loblieder auf Stalin sang und geprügelt wurde, weil man das mit solchen wie ihr ja machen durfte. Als ihre Mutter sie Jahre später aus dem Waisenhaus abholte und zu sich nahm, war Anna enttäuscht: die Mutter, die sie sich schön und fröhlich vorgestellt hatte, war alt, hässlich und zerbrochen (aus einem Reportagen-Kapitel über Anna und ihre Mutter hatte die Lettre 2008 einen Auszug gebracht). "Warum empfindet sie sich als Sowjetmensch? Eine sehr schwierige Frage, auf die unsere Intellektuellen noch keine Antwort haben", sagte Alexijewitsch und erzählt von einer anderen Frau, die viele Jahre im Lager war, aber "wenn man über Stalin sprach, richtete sie sich auf, obwohl sie schon gebeugt wie eine Schildkröte ging, und sagte: Rühr meinen Stalin nicht an.

Wir konnten uns [nach der Wende] gar nicht vorstellen, wie sowjetisch wir sind. Man kann das nicht einfach abschütteln. Wir waren auch überhaupt nicht auf diese neue Ungleichheit vorbereitet. Früher hatten wir Angst vor der Polizei, heute haben wir Angst vor dem Leben. Schuld daran sind nicht die Politiker wie Jelzin oder Putin. Die waren nur deshalb möglich, weil die Elite die Situation nicht bewältigen konnte. Intellektuelle stehen nicht auf gegen reiche Proleten, die sich mit ihren goldenen Klos brüsten. Sie sagen ihnen nicht: Das ist beschämend."

"Es gibt", so Alexijewitsch weiter, "ein Gefühl, dass dieser Kapitalismus in Weißrussland und Russland nur vorübergehend ist. Man merkt es auf dem Land, aber keiner weiß genau, was in diesem Kessel kocht. Schade, dass die westlichen Journalisten nicht aus Moskau und Petersburg herauskommen, sonst würden sie ein erschreckendes Russland sehen. Es gibt jetzt wieder Partisanen. Sie gehen in die Wälder und töten Beamte und Angehörige der Miliz. Diese revolutionäre Bewegung, die von unten kommt, aus der Provinz, ist für die Macht viel erschreckender als 500 Leute, die auf dem roten Platz demonstrieren. Die kann man kontrollieren."

(Die heutige Diskussion findet um 19.30 Uhr in der Heinrich Böll Stiftung statt. Von Swetlana Alexijewitsch sind mehrere Bücher erschienen. Auf Deutsch sind zur Zeit lieferbar ihr Buch über Tschernobyl, "Die letzten Zeugen: Kinder im Zweiten Weltkrieg" und "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" - ein Buch über Frauen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben.)