Außer Atem: Das Berlinale Blog

Yo Dicker! Sebastian Schippers 'Victoria' (Wettbewerb)

Von Nikolaus Perneczky
08.02.2015. Sebastian Schippers "Victoria" führt in einer einzigen Einstellung durch die Berliner Nacht.


Der deutsche Wettbewerbsbeitrag "Victoria" von Sebastian Schipper erzählt die Geschichte einer atemlosen Berliner Nacht - oder legt es doch darauf an, in genau diesen Worten nacherzählt zu werden. Ein leinwandfüllendes Flackern eröffnet den Film: im pulsierenden Licht des Stroboskops tanzt die Titelheldin Victoria. Auf der Straße vor dem Club begegnet die junge Spanierin nachher vier Jungs, die sich als Sonne, Boxer, Blinker und Fuß vorstellen. Sprechende Namen allesamt (auch der von Victoria), über deren eindimensionale Festlegung - Sonne zum Beispiel ist eine unbeirrbare Frohnatur - die Figuren danach nicht mehr hinauswachsen werden. Auch bei der Dialogimprovisation scheinen sich die Darsteller vor allem an ihren Rollennamen orientiert zu haben, was in Anbetracht der Tatsache, dass hier fast unentwegt geredet wird, schnell auf die Nerven geht.

Wenn Victoria, wie es den Anschein hat, tatsächlich in einer einzigen Einstellung gefilmt wurde, also ohne unsichtbare Schnitte oder andere Tricks, dann muss man dem 140 Minuten langen Film zumindest dies eine zugestehen: Er ist eine logistische Großtat. Trotzdem fühlt es sich falsch an, Schippers Methode mit dem Begriff der Plansequenz zu bezeichnen, der an präzise Choreographien von Kamera, Figuren und Umwelt denken lässt. Durch den Film führt eine bebende Handkamera, die den Figuren mal hinterher stolpert und mal voraus läuft. Zwar muss auch so sorgfältige Planung im Spiel gewesen sein; die auf Unmittelbarkeit abzielende Kameraführung erschwert es jedoch, sich den großen Produktionsaufwand, wie Plansequenzen es oft nahelegen, genießend zu vergegenwärtigen.

Auch sonst ist, dass der Film in nur einer Einstellung gedreht wurde, die meiste Zeit ziemlich egal. Nur selten versteht es Schipper, aus dem Gimmick ästhetischen Mehrwehrt zu schlagen. Ein einziges Mal traut er sich, der Zeit beim interesselosen Verstreichen zuzusehen. Ansonsten wird überall geschäftiges Tun simuliert, das die notwendig überbrückende Funktion vieler Szenen zudecken soll, tatsächlich aber das genaue Gegenteil erreicht. Warum darf in einem Film, der sich mehr als zwei Stunden nimmt, nicht auch einmal nichts passieren?
So strampelt "Victoria" sich redlich ab, Intensitäten in Serie zu produzieren, vermittelt erst durchs Berliner Milljöh und dann - spoiler alert! - durch jäh einbrechende Genrekinogewalten. Die generische Gewalt funktioniert mitunter sogar ganz gut, das authentische Milieu ("Yo Dicker!") hingegen gar nicht - zum Glück wird meist in gebrochenem Englisch gesprochen. Den größten Effekt erzielt das Echtzeitverfahren mit Blick auf den großen Bogen des Films. Wenn Victoria am Anfang des Films den Club verlässt, ist es draußen stockdunkel; am Ende wird ein neuer Tag angebrochen sein. Müde und ausgelaugt wie nach einer durchwachten Nacht verlässt man das Kino.

Sebastian Schipper: Victoria. Mit Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André M. Hennicke, Anna Lena Klenke, Eike Schulz. Deutschland 2015, 140 Minuten (Vorführtermine)