9punkt - Die Debattenrundschau
Das Zentrum von der Peripherie her bearbeiten
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Der Historiker Heinrich August Winkler benennt im FR-Gespräch mit Michael Hesse das Dilemma der jetzigen Situation, das Verhandlungen ausschließt. Dies hier ist keine "Kubakrise", meint er: "Das Russland Putins ist keine Macht des territorialen Status quo, sondern eine revisionistische Macht". Chruschschow sei noch in der Lage gewesen, vernünftig zu handeln. "In dem Augenblick, in dem Chruschtschow zu erkennen gab, dass er eine solche Konfrontation nicht wollte, wurde der Ausgleich möglich. Dieser Moment ist im Augenblick nicht gegeben. Es gibt keinerlei Anzeichen für ein Einlenken Putins. Ein 'Einlenken' der Ukraine, also ihre Kapitulation vor der russischen Aggression, schüfe für den gesamten Westen eine extrem gefährliche Situation. Deshalb gilt es weiterhin, die Kampfstärke der Ukrainer zu stärken."
Über Verhandlungen würden sich sicher die jetzt in Russland Eingezogenen freuen - Friedrich Schmidt schildert in der FAZ regelrechte Jagdszenen, auch in Moskau oder Sankt Petersburg: "In Betrieben, Obdachlosenunterkünften oder vor U-Bahn-Stationen würden Einberufungsbescheide verteilt. Auf Telegram werden Bilder von Polizisten verbreitet, die junge Leute stoppen. Manche würden gleich im Polizeiwagen weggefahren. Polizisten begleiten auch manche Männer zum Einberufungspunkt im Roman-Wiktjuk-Theater."
Putin lässt bekanntlich gern Angehörige ethnischer Minderheiten wie etwa die Burjaten einziehen, die sich allerdings ebenfalls immer öfter entziehen. Putins Imperialismus nach innen verändert auch die Beziehungen Russlands zu seinen Nachbarländern im näheren und ferneren Osten, schreibt Emily Couch in Foreign Policy: "Die Mongolei - ein ehemaliger Satellitenstaat der Sowjetunion - hat für ihre Unterstützung von Russen, die vor der Wehrpflicht fliehen, viel Lob geerntet, insbesondere von indigenen Völkern aus dem Fernen Osten. 'Wir fühlen uns dem Volk der Burjaten sehr verbunden', sagt der mongolische Journalist Anand Tumurtogoo, der die kulturellen Ähnlichkeiten und die grenzüberschreitenden familiären Bindungen zwischen der Mongolei und der sibirischen Republik hervorhebt."
Ein weiterer Beleg für diese These:
Looks like there's another crack in the so-called "Ironclad fraternity" https://t.co/n0XHvTif2h
- KyivPost (@KyivPost) October 15, 2022
Zwei Artikel befassen sich im FAZ-Feuilleton mit der Frage, wie Frankreich zwei Jahre nach dem Mord an Samuel Paty mit sich radikalisierenden Schülern und Schülerinnen und mit Dschihadisten im Gefängnis zurechtkommt: Niklas Bender erzählt vom Kampf gegen "sittsame Kleidung". Während im Iran Frauen für die Befreiung vom Kopftuch ihr Leben riskieren, gibt es in Frankreich eine ganze Szene von Influencerinnen, die bei Tiktok oder Instagram das Kopftuch als Zeichen des Widerstands inszenieren: "Mädchen in der Pubertät zeigen Techniken, verschleiert zu bleiben, oder erklären, wie man den Schleier sittsam ablegt; das Ganze ist mit Rapmusik unterlegt. Der Böse ist eindeutig der laizistische Staat. Die Like-Zahlen der Influencerinnen, die Hunderttausende erreichen, lassen auf eine enorme Resonanz schließen."
Marc Zitzmann erzählt im zweiten Artikel, wie sich Frankreich vom strafenden Zentralstaaat hin zu einem Modell der Sozialarbeit entwickelt hat, mit dem Dschihadisten im Gefängnis der Hass abgewöhnt werden soll. "Es gibt Ausflüge ins Museum oder in den Zoo, man spielt Basketball oder flaniert am Ärmelkanalstrand, immer in Begleitung eines oder zweier Mentoren. Manchmal bearbeiten diese 'das Zentrum von der Peripherie her', sprechen über Hobbys und geben Persönliches preis. Manchmal gehen sie Inhalte der dschihadistischen Weltanschauung frontal an."
Ideen
Medien
Adieu Print in Sozialen Medien. Facebook wird seine "Instant Articles" einstellen, ein Format, das es Medien erlaubte, sich auf Facebook besonders prominent darzustellen, berichtet Sara Fischer bei axios.com. Auch Google "erklärte letztes Jahr, dass es Nachrichtenartikel, die das AMP-Format (Accelerated Mobile Pages) verwenden, in der Rangliste nicht mehr bevorzugen würde, was das Aus für dieses Format bedeutet. Zwischen den Zeilen: Da immer mehr soziale Plattformen wie Meta auf vertikale Kurzvideos setzen, investieren die meisten Verleger ohnehin in Videoinhalte für diese Plattformen."
Politik
Kulturmarkt
Die steigenden Preise machen auch vor der Buchbranche nicht Halt. Die Produktionskosten dürften im kommenden Jahr rund um ein Drittel höher ausfallen, schreibt Richard Kämmerlings im Aufmacher der Literarischen Welt, die morgen der WamS beliegt. "Die Verlagsbranche, die in den letzten Jahren auf die Digitalisierung und E-Bookisierung gestarrt hat wie das Kaninchen auf die Schlange, wird in diesen Monaten von der Materie eingeholt. 'Papier ist ein energieintensives Material, das lernen wir gerade deutlicher als wir es jemals wollten', sagt Jo Lendle, der Verleger des Hanser Verlags." Hinter den Kulissen wird gerade händeringend nach Möglichkeiten gesucht, die Preise nicht allzu schmerzhaft an die Kunden weiterzugeben. "Einen Grund für die lange Zurückhaltung bei den Preisen sieht Lendle im 'Sendungsbewusstsein' der Branche. 'Wir wollen niemanden ausschließen, der es sich nicht leisten kann.'" Im englischsprachigen Raum ist im übrigen zu beobachten, dass E-Books in der Regel deutlich günstiger sind als die Printbücher - während sie in Deutschland meist marginale Preisunterschiede aufweisen.