9punkt - Die Debattenrundschau
Innerorthodoxe Gräben
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Die unglaubliche Affäre Benjamin Griveaux hält Paris weiter in Atem. Der Macron nahestehende Politiker wurde von dem russischen Performance-Aktivisten Pjotr Pawlenski, seiner Freundin Alexandra de Taddeo und möglicherweise dem linksradikalen Autor und Anwalt Juan Branco in eine Falle gelockt, die zur Publikation von Masturbationsvideos und seinem Verzicht auf die Kandidatur für das Pariser Bürgermeisteramt führten. Für David Isaac Haziza in La Règle du Jeu markiert diese Affäre den endgültigen Kollaps der Intimsphäre, nicht nur im politischen Leben: "Intimität - und ohne sie gibt es keine Demokratie - wird vernichtet. In den letzten Jahrzehnten haben wir allmählich akzeptiert, dass die ehrwürdigen Barrieren, die früher als Grenze zwischen unseren beiden Leben, dem öffentlichen und dem privaten, dienten, zusammenbrechen, aus Rücksichtslosigkeit, aus Spaß an der Freude oder aus böswilligem Machiavellismus."
Der Rechercheservice bellingcat.com bringt neue stichhaltige Beweise, dass der tschetschenische Asylbewerber Zelimkhan Khangoshvili (auch Selimchan Changoschwili geschrieben) in Berlin vom russischen Geheimdienst FSB umgebracht wurde. "Diese Untersuchung stellt schlüssig fest, dass es der Hauptsicherheitsdienst des russischen Staates war, der das extraterritoriale Attentat von 2019 in der deutschen Hauptstadt geplant, vorbereitet und verübt hat. Alternative Hypothesen, die den Mord mit dem tschetschenischen Herrscher Ramsan Kadyrow oder gar mit einem persönlichen Rachefeldzug von abtrünnigen ehemaligen oder aktuellen Sicherheitsoffizieren in Verbindung bringen, können nun als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden."
Der Berliner SPD-Politiker Raed Saleh hat durch einen Aufsatz in der Berliner Zeitung vor einigen Tagen heftige Reaktionen ausgelöst. Nach den Thüringer Ereignissen schrieb er dort: "Uneingeschränkt zur Demokratie und zum Grundgesetz stehen nur die Parteien der linken Mitte - nämlich SPD, Grüne und Linke." In der FAZ antwortet heute Markus Wehner, der vor allem die Linkspartei als Profiteur sieht und deren Begriff des "Antifaschismus" problematisiert. Die Linkspartei stilisiere sich "als die entschiedenste 'antifaschistische' Kraft... Die Linke erinnert dabei an 'den antifaschistischen Konsens nach 1945', der in Gefahr stehe. Dabei war dieser Konsens in der alten Bundesrepublik ein antinationalsozialistischer und antikommunistischer. Der 'Antifaschismus' der DDR hingegen war weitgehend ein Mythos."
Der Rechtsprofessor Christoph Schönberger sieht durch die Thüringer Ereignisse ebenfalls in der FAZ vor allem die "bundesdeutschen Stabilitätsmythen" dementiert. Stabilität sei die Sehnsucht aller deutschen Bundes- und Länderverfassungen: "Zwar sehen das Grundgesetz und die Länderverfassungen jeweils ein parlamentarisches Regierungssystem vor, in dem die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt. Aber sie wollen die Regierung doch zugleich so beständig wie möglich machen. Ihre Sorge gilt dem Parlament, ihre Liebe der Regierung."
Ideen
Jörg Häntzschel hat für die SZ eine Konferenz am Burgtheater in Wien besucht, die sich mit dem wachsenden Faschismus beschäftigte. So richtig zu fassen bekamen die zumeist auf Europa fixierten Teilnehmer das Phänomen nicht, lernen wir: "Polizeistaat, Imperialismus, Unterdrückung, solche Begriffe gingen vielen leicht von den Lippen, aber sie meinten nicht Saudi-Arabien oder Russland, sondern Österreich und Frankreich. Restitution - auch von der war die Rede - ist nach dieser, allerdings nicht von allen geteilten, Vorstellung nur ein 'Trick' Präsident Macrons, um koloniale Verhältnisse fortzuschreiben. Als die indischstämmige, in Kanada lehrende Marxistin Radhika Desai sagte, die Überwachung habe auch ihr Gutes, zumindest in China, da sie dort in der Hand des Staats und nicht der privater Konzerne liege, regte sich kein Widerspruch."
Religion
Gesellschaft
Geht es nach Björn Höcke, läuft das allerdings anders, lesen wir in einer Reportage auf Zeit online über Höckes jüngsten Auftritt bei Pegida in Sachsen (denen fast doppelt so viele Gegendemonstranten gegenüberstanden): "Über die Gegendemonstranten sagt er: 'Im Hintergrund sehen Sie die Opfer der deutschen Bildungskatastrophe.' Die seien auch in Vereinen engagiert, die man nicht mehr tolerieren werde. 'Wir werden diese sogenannte Zivilgesellschaft dann leider trockenlegen müssen.'"
Der Arzt Jérôme Segal, Assistenzprofessor an der Universität Paris-Sorbonne und Viola Schäfer, die Vorsitzende des Vereins "intaktiv", publizieren bei hpd.de einen Überblicksartikel über die Praxis der Genitalverstümmelung beziehungsweise Beschneidung bei Mädchen, Jungen und intergeschlechtlichen Kindern. Sie kritisieren dabei auch das deutsche Gesetz, das die Beschneidung von Jungen erlaubte, um die entstandene Debatte zu beenden: "Den Paragrafen 1631d des bürgerlichen Gesetzbuches, der im Dezember 2012 in Kraft trat und Jungenbeschneidungen auch ohne medizinische Indikation legalisiert bezeichnete Christa Müller, Vorsitzende des von Intact e. V., als Einfallstor für weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland. Eltern, die bei ihrer Tochter eine 'kleine Sunna' (Entfernung der Klitoris-Vorhaut und der Klitoris-Spitze) vornehmen lassen wollten, könnten sich vor einem deutschen Gericht mit Berufung auf das 'Beschneidungsgesetz' und den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter das Recht auf diesen Eingriff an ihrer Tochter vermutlich einklagen."
Im Prozess gegen Harvey Weinstein ging es weniger um das Verhalten des Angeklagten als das der Opfer, ärgert sich in der FAZ Verena Lueken. Denn woran zeigt sich, ob jemand ein Opfer war? "Pointiert gesagt: Wer vergewaltigt wird, darf danach nicht frühstücken. Und falls der Täter derjenige ist, der eine Karriere verheißt, darf die Karriere nicht verfolgt werden. Wer den Schaden hat, hat den Schaden. Dass über solcherlei überhaupt diskutiert wird, zeigt, wie wenig die Folgen sexueller Gewalt letztlich zur Kenntnis genommen werden und wie viel den Frauen, die sie erdulden, zugemutet wird: Während der Angreifer die Moral einer Kakerlake haben mag und damit möglicherweise ungeschoren davonkommt, sollen die Opfer sich mit damenhafter Konsequenz den Mechanismen der Industrie, in der sie arbeiten, durch Branchenwechsel entziehen?"
Internet
Geschichte
Medien
Weiteres: Für viel Ärger bei Medien und Journalistenverbänden sorgte Friedrich Merz mit einer Bemerkung, dass Politiker in Internetzeitungen auch ohne den Umweg über Medien kommunizieren können. Bei Meedia wird die Debatte resümiert. Mehr dazu auch bei den Uebermedien.