9punkt - Die Debattenrundschau

Das würden die Kinder doch gar nicht verstehen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2019. Sehr viel Prominenz: Götz Aly nennt die Namen all der Juroren, die Claas Relotius mit Journalistenpreisen überhäuften. In der NZZ empfiehlt Hans Ulrich Gumbrecht die Lektüre René Girards, um die Proteste im heutigen Frankreich zu verstehen. Im Perlentaucher fragt Jochen Hörisch: Warum ist die liberale Öffentlichkeit auf die einen Rechten fokussiert, aber nicht auf die anderen? taz und SZ fragen: Wie rosa wäre der Sozialismus der Rosa Luxemburg gewesen, die vor hundert Jahren ermordet wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.01.2019 finden Sie hier

Medien

Am Dienstag zitierten wir eine Kolumne von von Götz Aly, der das Schweigen der Juroren all der vielen Journalistenpreise für Claas Relotius kritsierte (unser Resümee). Namen nannte Aly nicht. Auf Facebook zirkuliert die vollständige Version von Alys Artikel, bevor der folgende Absatz der kollegialen Rücksichtnahme durch die Chefredaktion der Berliner Zeitung zum Opfer fiel: "Diejenigen, die Relotius in den verschiedensten Jurys blindlings hochgejubelt haben, hüllen sich in Schweigen - so, als hätten sie mit dem Fall überhaupt nichts zu tun. Lügen funktionieren aber dann besonders gut, wenn der Lügner - gleich dem Hauptmann von Köpenick - genau das tut, was sein Publikum erwartet. In jenen Jurys, die Lügenwerke von Claas Relotius zigfach auszeichneten, saßen unter anderem, hier in alphabetischer Reihenfolge genannt: Gehard Fürst (Bischof, Diözese Rottenburg-Stuttgart), Tina Hassel (ARD), Brigitte Huber (Chefredakteurin, Brigitte), Claus Kleber (ZDF), Friedrich Küppersbusch (TV-Produzent), Markus Lanz (Moderator), Caren Miosga (ARD), Ines Pohl (Chefredakteurin, Deutsche Welle), Evelyn Roll (Journalistin, Autorin); Theo Sommer (vormals Chefredakteur der Zeit), Jörg Thadeusz (Moderator, WDR), Ulrich Wickert (Stifter). Die Liste ließe sich erheblich verlängern, zumal es im Fall des viermal an Relotius verliehenen Deutschen Reporterpreises noch üppig besetzte Kommissionen zur Vorprüfung der eingereichten Texte gab."

Auch das Reporter-Forum, das Relotius mehrfach ausgezeichnet, hat die Texte von seiner Website genommen, berichtete schon vor ein paar Tagen Kurt Sagaz im Tagesspiegel. Das gilt auch für "Texte in der Süddeutschen Zeitung, die an das Reporter-Forum die 'dringende Aufforderung' geschickt hat, die nominierten Beiträge von der Seite zu nehmen." Beim Reporter-Forum datiert die letzte Meldung vom 20. Dezember, mit dem Versprechen: "Wir halten Sie weiter auf dem Laufenden."

Dem Neuen Deutschland geht es nicht so gut. Das Überleben der Zeitung hängt von der Linkspartei ab. Und dann ist da noch die Frage, wem das höchst wertvolle Grundstück gehört, wo die Zeitung ihren Sitz hat. Anne Fromm berichtet für die taz: "Zu DDR-Zeiten, als das nd noch Propagandaorgan war, arbeiteten dort mehr als 500 Menschen, eine Million Exemplare wurden täglich verkauft, überregionale Konkurrenz gab es praktisch nicht. Heute sind es bei hundert Mitarbeitern noch gut 22.000 Exemplare, Tendenz sinkend. Alle Tageszeitungen kennen diese Entwicklung. Nur läuft sie beim nd schneller ab, weil die Leserschaft älter ist und stirbt. Der Großteil der nd-Leser sind alte Ostdeutsche. Manche in der Linkspartei sagen, dass die Zeitung vor allem in Ostberliner Altenheimen stark sei."

Der russische Propagandasender Russia Today hat ein Problem: Er sucht eine europäische Sendelizenz. Trotz des Engagements eines ehemaligen MDR-Chefredakteurs (unser Resümee) dürft RT deutsch wegen seiner staatlichen Finanzierung allerdings keine Chance auf eine Sendelizenz in Deutschland haben, schreibt Timo Niemeier bei dwdl.de: "Übrigens hat auch die Deutsche Welle, die aus dem Bundeshaushalt finanziert wird, keine deutsche Rundfunklizenz. Die braucht sie aber auch nicht, weil sie ja ein Auslandssender ist. RT muss sich bald aber wohl ganz zwangsläufig um eine Lizenz in einem europäischen Land kümmern, will man auch nach dem Brexit europaweit empfangbar bleiben. Derzeit ist der Sender bei der britischen Ofcom lizenziert."

Außerdem: Meedia berichtet, dass die einst mit großem Trara gestartete deutsche Ausgabe der Huffington Post eingestellt wird. "Die Maßnahme kommt auch deshalb überraschend, weil Burda erst im vergangenen Oktober den Umzug der HuffPo in die Haupstadt angekündigt und zum Jahreswechsel auch weitgehend vollzogen hatte." Noch immer ist die Reichweite herkömmlicher Medien stärker als jene von alternativen Kanälen, schreibt Rainer Stadler in der NZZ.
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Gesellschaft

Thomas Wagner, Autor des Buchs "Die Angstmacher - 1968 und die Neuen Rechten", unterhält sich für den Freitag mit  Helmut Lethen, der erzählt, wie es zuging, als seine Kinder von der Waldorfschule verwiesen wurden - die Lehrer wollten nichts mit seiner Frau Caroline Sommerfeldt zu tun haben, die sich bei den Identitären engagiert. Sie hätten ihm (der sich selbst als Linker sieht)  den Ausschluss einfach mitgeteilt: "Ich fragte diese Leute vom Schulvorstand also: 'Was sollen die Kinder eigentlich daraus lernen?' Die schien das aber gar nicht zu interessieren. Normalerweise bin ich von stoischer Gelassenheit, aber das machte mich wahnsinnig wütend. Ich sagte: 'So, und jetzt gehen Sie, meine Herren, die Sie den Ausschluss beschlossen haben, in die Schulklassen und teilen das den Kindern mit.' Daraufhin schauten sie mich fragend an mit einem Gesichtsausdruck, der in etwa sagte: 'Das würden die Kinder doch gar nicht verstehen.' Sie meinten, dass das nicht ihre, sondern meine Aufgabe sei."

Jochen Hörisch fragt sich in einer "Argumentationsskizze" für den Perlentaucher, warum die linke und liberale Öffentlichkeit, die so auf "Rechte" fokussiert ist, so wenig die "rechten" Elemente im Islam und Islamismus thematisiert. Selbst Attentätern werde attestiert, dass sie aus sozialer Verzweiflung agiert hätten: "Die sich hier im gutwilligen Verständnismilieu einstellende Paradoxie ist schwer zu ertragen: wir verstehen euch viel besser, als ihr euch selbst versteht, ihr meint doch gar nicht, was ihr sagt, wir helfen euch, euch besser zu verstehen - sagen die Gutwilligen, die genau damit den eurozentrischen Überlegenheitsgestus an den Tag legen, den sie ansonsten so scharf kritisieren."
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Ideen

Kein Autor bringt die "Entfesselung des rivalisierenden Sich-Vergleichens" so auf den Punkt wie der französisch-amerikanische Anthropologe René Girard, schreibt Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ, auch mit Blick nach Frankreich dringend zur Lektüre ratend. Je mehr sich die wirtschaftlichen Möglichkeiten der global wachsenden Mittelkasse anglichen, desto mehr nehmen auch Neid, Ressentiment und Identitätspolitik zu, so Gumbrecht: "Aus internationaler Perspektive lebt die große Mehrheit der Franzosen ja gerade nicht unter Bedingungen skandalöser Ungleichheit, sondern unter den Vorzeichen eines (erfolgreichen und kaum mehr zu finanzierenden) Wohlfahrtsstaates mit seinen typischen Gleichheitsforderungen. Eine Reihe anderer Gesellschaften scheinen derzeit die aus ähnlichen Situationen entstandenen Gewalttendenzen, könnte man in einem über Girard hinausgehenden Schritt vermuten, durch Syndrome von unnachgiebigen Vorschriften der 'politischen Korrektheit' zu neutralisieren. Denn sie sind ja nichts anderes als Regeln der absoluten Konfliktvermeidung (niemand darf sich je zurückgesetzt fühlen), deren Effekt nur paradoxerweise zu immer höherer Spannung, psychischer Blockierung und schwindender Produktivität in allen sozialen Bereichen führt. Für Frankreich hingegen ist das Gewaltvermeidungs-Netzwerk der politischen Korrektheit nicht mehr wirksam - wenn es denn dort je existiert hat."
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Internet

Nach den jüngsten Datenleaks, die Prominente und Politiker betrafen und vor allem zeigten, dass sie ohne großen Aufwand möglich waren, reflektiert Friedhelm Greis bei golem.de nochmal Forderungen nach strengeren Authentifizierungen der Nutzer, die paradoxer Weise durchaus übers Ziel hinausschießen können: "Denn nicht hinter jedem Account stecken wichtige Daten, die mit hohem Aufwand geschützt werden müssen. Zudem bedeutet ein zusätzlicher Faktor häufig, dass beispielsweise eine Telefonnummer angegeben werden muss. Doch damit steigt wiederum die Gefahr, dass personenbezogene Daten missbraucht werden. (...) Sinnvoll ist auf jeden Fall die Pflicht für sichere Passwörter."

Recht originell und interaktiv aufgemacht ist ein Online-Dossier des Guardian über das Internet in Indien, China, Kuba und Russland. Die Conclusio ist so einfach wie unheimlich: "Zum ersten Mal in der Geschichte ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung online. Aber diese Informationsquelle ist nicht für jeden gleich. Wenn man bedenkt, wie das Internet die Art und Weise prägt, wie wir die Welt sehen; wie es unsere Vorstellung von Realität beeinflusst, sind diese Unterschiede mehr als nur digitales Window Dressing - sie haben die Macht, das zu beeinflussen, was wir für wahr halten."

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Stichwörter: Datenleaks, Datenschutz, Kuba

Europa

Vor Erdogans Radikalislamisierung war die Türkei ein Sehnsuchtsort, an dem sich Osten und Westen, Religion und Säkularismus gegenseitig bereicherten, schreibt die Autorin und Polikwissenschaftlerin Cigdem Toprak wehmütig in der Welt. "Die Zahl der weltweiten Asylanträge erhöhte sich von 10.000 im Jahr 2017 auf 33.000 in 2018", erklärt sie und erinnert an eine Zeit, als auch Menschen aus der frommeren und autoritäreren muslimischen Welt Gefallen fanden an dem Land, das religiös und frei gleichermaßen war: "Von Saudi-Arabien bis zum Iran kamen junge wie alte Menschen, Frauen und Männer, die - vor allem durch türkische Fernsehserien inspiriert - die Türkei als ein Vorbild für die muslimische Welt sahen. Türkische Serien konnten Soft Power ausüben, sie waren oft Trost für die Frauen in Ägypten während des 'arabischen Frühlings'. Man zeigte romantische Sequenzen, in denen türkische, muslimische Männer mit ihren Frauen wie Prinzessinnen umgingen. Arabische Studenten kamen in das Land, weil sie hier 'Freiheit finden', sagte mir ein Architekturstudent an einer Universität direkt am Bosporus. Oder weil sie durch die türkischen Serien von einer freien Gesellschaft träumten, wie mir eine junge Mathematikstudentin aus Saudi-Arabien erzählte, die ich im Starbucks kennenlernte."
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Geschichte

Hundert Jahre nach ihrer Ermordung würdigt in der taz Stefan Reinecke Rosa Luxemburg: "Sie maß die Kommunisten an ihren eigenen Versprechungen - und fürchtete 'eine deformierte Revolution weit mehr als erfolglose', so ihr Biograf Peter Nettl. Für ihr Nachleben war ihr Tod, man muss es so sagen, Glück. Sie wurde zur Märtyrerin der Linken. Die Wahl, in der autoritären KP zu bleiben und sich selbst damit als Intellektuelle auszulöschen, oder zur einflusslosen Renegatin zu werden, blieb ihr erspart." Na, sie hätte doch auch in die SPD gehen können!

Die SZ widmet ihren Leitartikel auf dem Platz des Himmlischen Friedens (der Seite 4 der SZ) ebenfalls Rosa Luxemburg. Joachim Käppner greift ihren berühmten Satz "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" auf und stellt klar: "Zunächst und vor allem galt er der revolutionären Bewegung, nicht dem Klassenfeind." Für den Klassenfeind hatte sie anderes vorgesehen: "Sie verfasste Wuttiraden gegen die Nationalversammlung, den Parlamentarismus, gegen das Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse. Sie wollte Revolution - und zwar keine friedliche mit Lichterketten; sie hielt Gewalt für legitim..."
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