Essay

Politpsychologische Blockaden

Von Jochen Hörisch
11.01.2019. Die linke und liberale Öffentlichkeit ist auf "die Rechten" fokussiert und sieht dabei den Wald vor lauter Bäumen nicht: Sie überlässt den einen Rechtsradikalen, die im deutschen Namen agieren, die Kritik an den anderen Rechtsradikalen, die sich im Namen des Islams abschotten und "Respekt" verlangen.  Eine Argumentationsskizze
Die politische Sphäre ist reich an Paradoxien. Diese können reizvoll sein oder aber Anlass zu Gereiztheit geben. Die SPD weiß davon zur Zeit ein Lied zu singen. Sie ist in bemitleidenswertem Zustand - weil sie sich zu Tode gesiegt hat. Denn alle ernstzunehmenden Parteien, die CDU unter Angela Merkel voran, haben sich sozialdemokratisiert; sie setzen (aus besten Gründen) auf die Kombination von liberalem Rechtsstaat, sozialer Marktwirtschaft und internationaler Zusammenarbeit. So viel Konsens war nie, und eben deshalb hat eine (teils ausdrücklich, teils latent) rechtsradikale Partei wie die AfD die Chance, genau diesen Konsens in Frage zu stellen und damit viel von der knappen Ressource Aufmerksamkeit an sich zu binden. Darauf reagieren die von vielen so beschimpften "Altparteien" und die ihnen nahestehenden Medien irritierend unsicher. Ihre unübersehbaren Erfolge - eine siebzig Jahre währende Epoche des Friedens, der Freiheit und der Prosperität - verblassen in der öffentlichen Wahrnehmung, wozu kritische Journalisten beitragen, die (wie beim Fall des zum Rücktritt getriebenen Bundespräsidenten Wulff oder einer Sozialdemokratin, die eine teure Uhr trägt) systematisch übertribunalisieren, wenn sie dort Skandale wittern, wo keine sind. Zur Hilflosigkeit in den Reaktionen auf die neurechte große Gereiztheit trägt aber vor allem ein selten bedachtes Paradox bei: dass linke, liberale und friedensbewegte Köpfe es Rechtsradikalen überlassen, vor Rechtsradikalen zu warnen.

Das große und für emotionale Eskalationsstrategien taugliche Thema der AfD ist unüberhörbar die Migration und die mit ihr verbundene Problemlage. Viele Migranten (Flüchtlinge, Flüchtende, Asylsuchende, Vertriebene, Verfolgte, Unterdrückte, Schutzbefohlene - schon die Frage der rechten, der richtigen Bezeichnung sorgt für Sprengstoff) entsprechen einem rechtskonservativen bis rechtsradikalen Suchbild. Sie sind patriarchalisch, stark religiös, traditionsfixiert, machohaft, antiliberal, emanzipationskritisch, autoritär auf Führer fixiert, Befürworter der Todesstrafe, antisemitisch, archaischen Ehrkonzepten verpflichtet und misstrauisch bis feindlich gegenüber allem Fremden. Bindungen an Familie, Clan, Ethnie und Religionsgemeinschaft sind deutlich ausgeprägter als die Loyalität gegenüber dem Rechtsstaat. Einige aus diesem Milieu sind im weiten Spektrum von Klein- über Banden- und Vergewaltigungs- bis zu fanatischer terroristischer Kriminalität gewaltbereit; Beschreibungen, die auch für deutsche Rechtsradikale, etwa die sogenannten Reichsbürger und die NSU-Mörder, zutreffen. Deshalb ist es irritierend, wenn liberale und linke Köpfe das Problem rechtsradikaler Tendenzen unter Migranten nur ungern benennen und lieber mit selbstverständlichen bis hilflosen Floskeln wie "kein Generalverdacht" oder mit dem Hinweis arbeiten, die Wahrscheinlichkeit, im Bett zu sterben, sei millionenfach höher als die, Opfer eines islamistischen Anschlags zu werden.  

Rechtsradikale deutsche Politiker und Medien (gerade auch in den sozialen Massenmedien) warnen hingegen mit unverkennbarer Lust an der Hysterie - vor Rechtsradikalen, vor Ihresgleichen, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um deutschnationale, sondern muslimische et cetera Rechtsradikale.  Es herrscht eine irritierende Asymmetrie: im Namen einer falsch verstandenen political correctness verzichten viele, allzu viele Liberale und Linke darauf, rechtsradikale Migranten zu kritisieren und zu bekämpfen. Auf- und abgeklärte, nämlich weitgehend illusionsfreie Publizisten und Politiker wie Ayaan Hirsi Ali, Hamed Abdel-Samad, Heinz Buschkowsky oder Henryk M. Broder, die rechtsradikale Strömungen bei Migranten klar benennen, stoßen im linksliberalen Milieu nicht auf Sympathie. Und es gibt eine nicht weniger irritierende Symmetrie: Rechtsradikale schüren Ängste vor Rechtsradikalen und sind mit diesem Programm erfolgreich. Vor circa einem Jahr konvertierte der brandenburgische AfD-Politiker Arthur Wagner zum Islam. Eine eben nicht absonderliche, sondern plausible Geschichte, an deren Analyse aber weder politisch korrekte noch rechtsradikale Kreise sonderliches Interesse hatten - ein Sinnbild für die politpsychologischen Blockaden, die den Volksparteien, denen wir noch nachtrauern werden, enorm zu schaffen machen.

So häufen sich im linksliberalen Milieu kontraproduktive Paradoxien im Umgang mit rechtsradikalen Islamisten und Terroristen. Um nur einige wenige zu benennen:

1. "Islamophobie" ist offenbar ein Begriff, der Diskussionen über die Evidenz blockieren soll, dass es Korrelationen und Kausalitäten zwischen militanter muslimischer Glaubens- und Massenmordbereitschaft gibt. Für Islamophobie sorgt, wer "Allahu akbar" ruft und dann mit einem LKW in eine feiernde Menge rast, sich selbst und alle Umstehenden in die Luft jagt, mit einem Flugzeug in die Twin-Towers steuert - und nicht, wer darauf hinweist, der Massenmörder habe zuvor nun eben "Allahu abkbar" geschrien. Es genügt ein einfacher Test, um über Berechtigung oder Problematik von Islamophobie zu entscheiden: wer würde in einem Kinosaal, bei einem Vortrag, in einem U-Bahn-Waggon nicht sofort in Deckung gehen, wenn dieses Glaubensbekenntnis erschallte? Die Kritiker der Islamophobie würden diesen schlichten Lackmustest nicht bestehen.

2. Das sei irreführend, weil Massenmörder sich mit solchen religiösen Bekundungen nur wohlfeil selbst überhöhen wollten, lautet ein häufig zu hörender Gegeneinwand. Eigentlich seien sie gar nicht religiös, sondern nur Kleinkriminelle mit Integrationsschwierigkeiten, weil unsere Gesellschaften zu wenig offene Angebote machen et cetera. Genau darüber aber beklagen sich die Terroristen mit ihren letzten Worten nicht. Ihre Botschaft ist vielmehr von der Klarheit, die viele Linksliberale verdrängen müssen: wir wollen Ungläubige töten. Der bislang monströseste islamistische Massenmord von 9/11 wurde nicht von militant gewordenen verelendeten Bewohnern Pariser Vorstädte oder Berliner Kieze, sondern von einem saudi-arabischen Multimillionär initiiert und finanziert, durchgeführt wurde er von gut mit Stipendien alimentierten Islamisten. Die sich hier im gutwilligen Verständnismilieu einstellende Paradoxie ist schwer zu ertragen: wir verstehen euch viel besser, als ihr euch selbst versteht, ihr meint doch gar nicht, was ihr sagt, wir helfen euch, euch besser zu verstehen - sagen die Gutwilligen, die genau damit den eurozentrischen Überlegenheitsgestus an den Tag legen, den sie ansonsten so scharf kritisieren.

3. Der marxsche Satz, Religion sei Opium des Volkes, gehörte zum verlässlichen Standardinventar der Linken. Er ist heute weitgehend aus dem Verkehr gezogen. "Respekt" vor so gut wie allen religiösen und kulturellen Orientierungen und Praktiken ist die öffentlich zu zeigende Tugend, die an die Stelle der Religionskritik getreten ist. Dabei ist die Pathologieanfälligkeit aller, wohlgemerkt aller Religionen unübersehbar. Eine seltsame Asymmetrie auch hier: die Forderung für Respekt gegenüber "allen" gilt nicht für die, die keinen Respekt vor denen haben, die starke Korrelationen zwischen religiösen Orientierungen und Gewaltbereitschaft sehen. An der Zeit ist Respekt auch für all diejenigen, die in Respekt-Forderungen Immunisierungsstrategien vor überfälliger Kritik erkennen.

Um pragmatisch zu argumentieren und zwei konkrete politpsychologische Tests vorzuschlagen. Erstens: Wie reagieren Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, wie reagieren die unterschiedlichen Milieus auf die Ergänzung des plausiblen Satzes "Auch der Islam gehört zu Deutschland" durch den nicht minder plausiblen Satz "Auch das Christentum gehört zur Türkei"? Wer Probleme mit diesem Doppelsatz hat, wer etwa den zweiten Teil für eine unnötige Provokation hält, sollte sich fragen, welche Gemeinsamkeiten er mit denen hat, die den ersten Teilsatz für eine Provokation halten. Und zweitens: Wie wäre es, wenn die hilflose öffentliche Rhetorik nach islamistischen Anschlägen eine nicht triviale Wendung nähme und bereit hielte - etwa mit dem Satz aus Politikermund: "Unser Mitgefühl gilt auch den muslimischen  Mitbürgern, deren friedliche, erhabene, stolze Religion wieder einmal als eine satanische Mörderreligion präsentiert wurde - von 'Allahu akbar' rufenden Islamisten."

Eine Lösung der benannten und vieler weiterer Tabus und Blockaden wäre zwar nicht leicht, aber durchaus möglich. Geboten wäre es, rechtsradikale Gewalt in all ihren Formen und in allen Milieus unzweideutig zu benennen und zu bekämpfen - und denjenigen, die vor ihr fliehen und die in einem Rechts- und Sozialstaat leben und arbeiten wollen, bei ihren Integrationsbestrebungen alle denkbare Hilfe zu leisten.

Jochen Hörisch