9punkt - Die Debattenrundschau

Alles mit allem erklären

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2018. Die Washington Post veröffentlicht die letzte Kolumne des offenbar ermordeten Journalisten und Post-Kolumnisten Jamel Khashoggi: Es geht um Meinungsfreiheit. Auch in Polen wird jetzt über pädophile Priester und Machtmissbrauch der katholischen Kirche diskutiert, berichtet hpd.de. In der SZ erklärt Henrik Hanstein vom Auktionshaus Lempertz, warum er gern auch mal einen Schrumpfkopf versteigert. Und Bellingcat und Sascha Lobo in Spiegel online bringen uns einen neuen Begriff bei: "Red-Pilling".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.10.2018 finden Sie hier

Politik

Die Washington Post veröffentlicht die letzte Kolumne des Journalisten und Post-Kolumnisten Jamel Khashoggi, der nach Angaben der türkischen Regierung aufs Grausamste in der saudischen Botschaft in Istanbul abgeschlachtet worden sein soll (die Türkei hat bisher kein Beweismaterial veröffentlicht). In einem einleitenden Statement sagt Khashoggis Redakteurin, dass man mit der Kolumne bis zu Khashoggis Rückkehr habe warten wollen: "Nun muss ich hinnehmen, dass das nicht passieren wird." In der Kolumne geht es um Meinungsfreiheit in der arabischen Welt - die außer in Tunesien (und teilweise Marokko, Jordanien und Kuweit) nirgends existiert. Die Bevölkerungen werden mit den Fake News der Regimes sediert oder aufgehetzt: "Es gab eine Zeit, in der Journalisten glaubten, dass das Internet die Information aus dem Kontrollzugriff auf die Printmedien befreien würde. Aber die Regierungen, deren Existenz gerade auf der Kontrolle von Informationen beruht, haben das Internet aggressiv blockiert. Sie haben auch Druck auf lokale Reporter und Werbetreibende ausgeübt, um bestimmten Publikationen die Einnahmen zu nehem." Khashoggi schlägt am Schluss seiner Kolumne vor, transnationale arabische Medien zu gründen. Heute berichten David D. Kirkpatrick und Carlotta Gall in der New York Times über eine Audioaufnahme von der Ermordung Khashoggis, dem die Finger abgeschnitten worden sein sollen, bevor er betäubt und von einem Gerichtsmediziner zerstückelt worden sei.

Wann ist je einer tiefer in der Wahrnehmung gestürzt als Mohammed bin Salman, fragt Dexter Filkins, der mit Khashoggi befreundet war, im New Yorker: "In der Tat, wenn es eine Lektion aus dieser schrecklichen Geschichte gibt, dann, wie blind das offizielle Washington und die amerikanische Presse angesichts des wahren Charakters von MBS waren. Als der Kronprinz die Vereinigten Staaten vor einigen Monaten besuchte, wurde er in Hollywood und Silicon Valley und natürlich in Trumps Weißem Haus als Messias à la Gorbatschow oder Gandhi  gefeiert. 'Eine historische Nacht war das' schrieb Dwayne (the Rock) Johnson, der Schauspieler,  auf Instagram nach einem Dinner mit MBS bei dem Rupert Murdoch der Gastgeber war."
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Europa

Das einzige Land, in dem es keine Skandale der katholischen Kirche gibt, war bisher Polen. Oder gibt es doch welche? Andrzej Wendrychowicz berichtet bei hpd.de, dass sich selbst hier nun etwas ändert: Missbrauchsopfer führen Prozesse gegen Priester (und gewinnen zumindest in erster Instanz, bis die Urteile von den  politisch gekaperten höheren Instanzen wieder kassiert werden). Und vor zwei Wochen ist ein Film ins Kino gekommen: "Sein Titel ist 'Kler' (Klerus). Schon an den ersten drei Tagen haben ihn fast eine Million Menschen gesehen. Die Hauptfiguren des Films sind drei befreundete katholische Priester. Einer misshandelt Kinder sexuell; der zweite ist Säufer und hat Frau und Kind; der dritte ist Angestellter in Erzdiözese und macht im Auftrag seines Chefs, dem Bischof, zweifelhafte Geschäfte. Der Film zeigt, was die Polen schon längst wussten. Aber niemand hat das bisher so laut und deutlich gesagt oder gezeigt. Seit dem 28. September diskutieren Millionen Menschen, die 'Kler' gesehen haben, darüber." Jan Opielka berichtete neulich in der FR über den Film, unser Resümee.

Dazu Passend: In der FR erzählt Joachim Frank, wie der Kölner Erzbischof Rainer Woelki beim NRW-Wissenschaftsministerium gegen einen unliebsamen Theologen interveniert.

Seit einem Jahr sitzt der türkische Unternehmer Osman Kavala in Istanbul in Untersuchungshaft, erinnert Constanze Letsch in der NZZ. Kavala habe gemeinsam mit Fetullah Gülen "gegen Staat und Verfassung konspiriert", lautet der Vorwurf: "Doch Kavala, davon sind seine Freunde und Unterstützer überzeugt, ist - so wie zahlreiche andere zurzeit in der Türkei Inhaftierte - nichts anderes als eine politische Geisel. Sein unermüdliches Bestreben zur Förderung von Menschenrechten, Freiheit und kultureller Vielfalt, sein Einsatz für eine Lösung der Kurdenfrage und sein gutes Verhältnis zu westlichen Verbündeten machten ihn zur Zielscheibe des Zorns der Erdogan-Regierung, so der Journalist Rusen Cakir auf der Online-Plattform Medyascope."

Vor knapp zwei Monaten erklärte Peter Gauweiler im FAZ-Feuilletonaufmacher, weshalb er Europa lieber in Schweizer Neutralität als in einer weltpolitischen Rolle haben möchte. (Unser Resümee). Ebenfalls im FAZ-Feuilletonaufmacher verteidigt Jürgen Trittin den CSU-Mann gegen die Kritik von Sigmar Gabriel, Wolfgang Ischinger und Christoph von Marschall, die Gauweiler vorwarfen, er habe ausgesprochen "was nicht wenige ganz links und ganz rechts unseres politischen Spektrums längst denken". Europa kann eine liberale Ordnung nicht mehr durchsetzen, meint Trittin, aber: "Europa muss sich seiner Rolle als einer der Pole der Welt stellen - weniger mit der scheinheiligen Phrase von der liberalen Ordnung als mit einer zivil und multilateral ausgerichteten Interessenpolitik. Hierzu wird man wechselnde Bündnisse mit unterschiedlichen Partnern eingehen müssen, auf der Basis des Völkerrechts. Mit den Chinesen gegen die Zollschranken, mit Amerika für das geistige Eigentum, mit China und Indien für mehr Klimaschutz. Europas Stärke ist dabei seine ökonomische Kraft, seine Soft Power. Es geht um den Aufbau ziviler, globaler Governance."
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Urheberrecht

Das Haus der Kulturen in Berlin veranstaltet ein kleines Festival zum Thema Urheberrecht. Kein Künstler versteht heute mehr die Finessen dieses Rechtsgebiets, das von interessierten Aktueren immer komplizierter gemacht wird, sagt Kurator Detlef Diederichsen im Gespräch mit Valie Djordjevic von irights.info. Ein Thema ist bei Musik etwa das Sampling: "Die Grenzen sind willkürlich und nicht mehr nachvollziehbar... Im Prinzip ist ein Sample nichts anderes als ein Zitat. Im Musikbereich ist das aber schwierig. Ich kann nur in dem Sinne zitieren, wenn ich nachweisen kann, dass ich einen Musikschnipsel nachspiele. Das Original-Audiomaterial darf ich nicht nehmen. So haben sich die Fantastischen Vier 1992 bei 'Die da' rausgerettet. Sie hatten in dem Stück ein Sample von Asha Puthli drin, das sie aber nachgespielt hatten, weil sie diese Rechtsprechung kannten."
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Kulturpolitik

Belgien und Frankreich haben mit so etwas gar kein Problem, sagt im SZ-Gespräch mit Jörg Häntzschel Henrik Hanstein, Geschäftsführer des Auktionshauses Lempertz, das in seiner Brüsseler Dependance aktuell Kolonialkunst, darunter einen Schrumpfkopf, anbietet. Auch von dem neuen Leitfaden des Museumsbundes zum Umgang mit Objekten aus der Kolonialzeit hält er nicht viel: "Da kannst du dich erschießen, das ist Schwachsinn. Ich habe Direktoren von Völkerkundemuseen in Berlin und in Köln angerufen und gefragt: Was sagt ihr dazu? Die meinten, das sind durchgeknallte links-grüne Weltverbesserer, die das geschrieben haben. Das ist völlig unrealistisch. 99 Prozent der Bestände in den Museen haben keinen Herkunftsnachweis."
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Medien

Die Zeit erscheint aufgrund der Recherche zu einem "milliardenschweren Finanzskandal" diese Woche erst Donnerstagfrüh. Unter dem Namen Cum-Ex plünderten Banker, Anwälte und Berater öffentliche Haushalte in halb Europa, wie hier bei Zeit Online und hier in einem von dem Recherchezentrum Correctiv zusammengestellten Dossier zu lesen ist.
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Gesellschaft

In der Welt setzt sich der Philosoph, Theologe und ehemalige SPD-Fraktionschef in der Volkskammer, Richard Schröder, mit Thesen auseinander, die die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping in ihrem Buch "Integriert doch erstmal uns" aufstellt. Ihre Rechtfertigung rechter Hetze im Osten beispielsweise durch erlebte Traumatisierung in der Nachwendezeit, etwa durch die Treuhand, kommt für Schröder einer "Entmündigung" gleich, die die Betroffenen "pathologisiere". Er meint, wer jenen sage: "'Eigentlich hast du gar nichts gegen Muslime, sondern du bist durch die Entwürdigungen des Einigungsprozesses traumatisiert', der nimmt ihn nicht ernst. Im Klartext heißt das übrigens: Am Ausländerhass ist mittelbar die Treuhand schuld. Küchenpsychologie ist eine Art von Zauberei, die alles mit allem erklären kann. Wer rational bleibt, fragt sich, ob wirklich ohne die Untaten der Treuhand die Ostdeutschen fremdenfreundlich wären. Warum ist in Polen, Tschechien, Ungarn die Ablehnung von Migranten weitaus stärker als in Ostdeutschland, obwohl es doch in diesen Ländern gar keine Treuhand gab? Und warum werden migrationskritische Parteien in allen westlichen und südlichen Ländern Europas zunehmend stärker? Die Treuhand kann's nicht gewesen sein."
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Internet

Wir müssen einen neuen Begriff lernen: "red-pilling". Sascha Lobo verweist in seiner Spiegel online-Kolumne auf eine Recherche des unermüdlichen Bellingcat-Teams: Die investigative Website konnte tausende Beiträge eines amerikanischen Neonazi-Forums auswerten. Dort geht es um die Konversion einzelner zu den Verschwörungstheorien der extremen Rechten: "Eine Online-Community entwickelt über die Zeit ihren eigenen Sprech. 'Red-pilling' bedeutet unter faschistischen Aktivisten, jemanden zu faschistischen, rassistischen und antisemtischen Überzeugungen zu bekehren. Der Begriff geht auf den populären Film 'The Matrix' von 1999 zurück. Der Protagonist wird vor Wahl zwischen einer roten Pille, die ihm die Augen für die Realität einer von Maschinen dominierten Welt öffnet, und einer blauen Pille, die ihn wieder in Unwissenheit und Sicherheit versetzt, gestellt. Die von den Faschisten benutzte Definition der 'roten Pille' ist recht elastisch." In den von Bellingcat ausgewerteten Forumsbeträgen erzählen die Mitglieder freimütig die Geschichte ihrer Konversionen.

Lobo selbst verwendet den Begriff der "Filterbrillen", die sich Mitglieder solcher Foren aufsetzten, und gerät dann in ein leicht relativistisches Schlingern: "Ich habe beispielsweise häufiger beobachtet, wie Erkenntnismomente über Kapitalismus oder das Patriarchat zu einer aufgeklärteren Weltsicht geführt haben. In gewisser Weise ist auch die Aufklärung selbst eine Art riesige Filterbrille: ein Erkenntnis- und Ideengebäude, das die komplette Weltsicht verändert."

Zum Thema passt eine Mitteilung auf dem Unternehmensblog von Twitter: Heute veröffentlichen wir alle Konten und damit verbundenen Inhalte im Zusammenhang mit möglichen Geheimdienstoperationen, die wir seit 2016 in unserem Dienst gefunden haben." Es geht allein um 3.800 Konten russischer Staatshacker.
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