Im Kino

Freidrehender Machismo

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Lukas Foerster
15.07.2015. Jeder der will darf rappen in Sion Sonos Hip-Hop-Extravaganz "Tokyo Tribe". Noah Baumbachs "Gefühlt Mitte Zwanzig" blickt trotz gelegentlichem Situationswitz abschätzig auf seine Figuren.


Der erste Satz des Films: "Wenn ich groß werde, bringe ich Hoffnung und Freude in die Stadt". Gleich darauf stürzt sich der Sprecher, ein agiler, kratzbürstiger, respektloser Bengel, in eine Stadt, in der es vorläufig noch keine Hoffnung und höchstens temporäre, käufliche Freuden gibt. Shion Sonos gleichfalls agile, kratzbürstige, respektlose Kamera folgt ihm und eröffnet in einer langen Plansequenz zwar noch nicht den gesamten Handlungsraum des Films, aber doch dessen visuelle Grundstimmung: Bunt, chaotisch, wuselig ist fast jedes einzelne Bild im Film - und auch fast jeder Mensch, der in einem dieser Bilder auftaucht. Junge und sehr junge, tätowierte, subkulturell aufgetakelte Gestalten ("Gestalt" trifft tatsächlich besser als "Mensch" das, was Sono mit den Körpern seiner Protagonisten anstellt) huschen zwischen abgewrackt anmutenden Pappkulissen herum, schmieden miteinander Pläne oder schlagen sich gegenseitig nach den Regeln des effektbewussten Martial-Arts-Kinos, die Köpfe ein. Illuminiert wird das Geschehen von artifiziellem, dafür umso farbenfroherem Licht (ein reiner Studiofilm ist das - nur einmal lässt Sono einen CGI-Panzer durchs echte Shibuya rollen), auf der Tonspur wummern fast durchweg nicht allzu aufwändig produzierte Hip-Hop-Beats, über die jeder, dem danach ist, rappen darf.

"Wenn ich groß bin": In Sonos Tokyo kann ein junger, selbstbewußter, robuster Mann zwar durchaus physisch größer werden - und vor allem kann, das wird im Verlauf des Films immer wichtiger und schließlich zur unbedingten Dominante, auch sein Penis wachsen; aber innerlich größer, reifer, erwachsen wird niemand. Das Organisationsprinzip der Stadt und damit auch des Films erklärt ein besonders fieser, blondierter, muskelbepackter Typ, während er ein Messer auf dem nackten Oberkörper einer Frau in Richtung ihres entblößten Busen führt (und auch das Geräusch, das aus dem Kontakt von Klinge und Haut entsteht, ist ein genau kalkulierter Effekt): Tokyo ist Gangland, aufgeteilt in eine Handvoll informeller Bezirke, die von jeweils einer Hip-Hop-Crew dominiert werden. Die dauerpubertierenden alpha males (in einem Fall: alpha females) an deren Spitze stellen sich selbst vor, in Reimform. Über allen trohnt, erfährt man bald, ein Kingpin namens Buppa (dessen Darsteller Riki Takeuchi in neue Dimensionen des overacting stets vor allem dann vorstößt, wenn er sich sabbernd den voluminösen Brüsten seiner Gespielinnen nähert), außerdem vagabundiert eine junge Frau durch die Stadt, die aus vorläufig noch unbekannten Gründen alles daran setzt, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren.



Auf die Feinheiten des Plots kommt es freilich am wenigsten an (tatsächlich hat man den Eindruck, dass der Regisseur gelegentlich ziemlich bewußt gegen die Mangavorlage aninszeniert, die seinem Film zugrunde liegt; inbesondere mit den nominellen good guys, die sich ihre eigene, kleine Welt aufgebaut haben, wo sie den echten, unverdorbenen Hip-Hop-Spirit hochzuhalten versuchen, weiß Sono wenig anzufangen). Wie alle Arbeiten von Sono ist "Tokyo Tribe" im Kern kein Erzähl-, sondern ein Konzeptfilm: Figuren und Handlungsstränge interessieren nicht um ihrer selbst Willen, sondern nur als Funktionen eines alles umgreifenden, seinerseits freilich eher hingerotzten, als fein säuberlich ausformulierten ästhetischen Gesamtentwurfs. In diesem Fall heißt das: Sie interessieren als Funktionen eines freidrehenden Machismo, der alles und jeden und am Ende sich selbst verschlingt.

Sonos Kino kann nerven, weil man zumeist schon nach wenigen Minuten merkt, wie der Hase ungefähr laufen wird - gerade "Tokyo Tribe" dürfte sich für alle, die sich mit dem Tonfall und vor allem mit dem von der ersten bis zur letzten Minute voll durchgetretenen Gaspedal nicht anfreunden können, wie Kaugummi ziehen; aber dann kann man es auch wieder ziemlich großartig finden, dass Sono seine Konzepte nicht nur stets ganz unbedingt ernst nimmt (ähnlich wie bei seinem japanischen Kultregisseurskollegen Takashi Miike geht der Postmodernevorwurf sehr grundsätzlich fehl), sondern sie auch jedesmal so lange und so extrem überreizt, bis sich der Blick auf die Welt verändert.



"Tokyo Tribe" reduziert Hip Hop zum einen konsequent auf die unangenehmsten Klischees des misogynen Gangster Rap: alles bitches, sogar Mama (bzw: Oma); zum anderen ätzt der Film allen kulturindustriellen Lack weg. Wo der real existierende Hip-Hop nicht selten die schlimmsten Texte mit den eingängigsten hooks ausstattet (siehe Chris Rock: "Love rap music, tired of defending it"), stolpern die Lyrics der Sono-Gangster zwar manchmal durchaus charmant, aber stets ziemlich ungelenk über die Beats. Den bei jeder Gelegenheit einen blauen Glasdildo masturbierenden Buppa umtänzelt in einer Szene ein bizarr, fast grunzend beatboxendes Mädchen. Buppas Sohn wiederum, der wie eine Bizarro-Version von Snoop Dogg aussieht und sich aus dem Sklavenpool seines Vaters organische Dioramen bastelt, verfällt andauernd in einen arrhythmischen Singsang. Ein aggressiv näselnder "Nerimathafucka", der große Mühe zu haben scheint, seine Reime überhaupt lautlich zu artikulieren, sorgt für besonders nachhaltige Irritation.

Das Tolle ist aber, dass Sono nicht einfach ein Anti-Hip-Hop-Manifest gedreht hat. Alles, was im Kleinen krude, exaltiert, holprig ist, fügt sich im großen Ganzen des Films, in Sonos frenetischer Montage der Attraktionen, zu einem faszinierend unförmigen, und trotzdem hypnotischen flow. Keine Strophenstruktur, keine Refrains zum Mitgröhlen, kein polierter Doppelreim, keine abgezählten bars, nur der chaotische Freestyle einer gründlich unversöhnten Welt.

Lukas Foerster

Tokyo Tribe - Japan 2014 - Regie: Sion Sono - Darsteller: Young Dais, Riki Takeuchi, Yosuke Kubozuka, Ryohei Suzuki, Yui Ichikawa, Shoko Nakagawa - Laufzeit: 116 Minuten.

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"Gefühlt Mitte Zwanzig" hat der deutsche Verleih Noah Baumbachs neuen Film "While We"re Young" betitelt. Die Hauptfigur heißt Josh (Ben Stiller) und ist 44, gefühlt Mitte Vierzig. Seit acht Jahren arbeitet Josh an einer Dokumentation, die "zugleich materialistisch und intellektuell" von Amerikas Selbstverständnis im Wandel der Zeit handeln soll. Mit großen theoretischen, allerdings auch eingeprobt und darin merklich klein wirkenden Worten erklärt Josh sein noch unfertiges Projekt dem jungen Regisseur Jamie (Adam Driver) und dessen Frau Darby (Amanda Seyfried). Jamie gibt sich als Bewunderer des einst aussichtsreichen Dokumentarfilmers zu erkennen, nennt ihn Vorbild und Inspirationsquelle, stellt ihm vor der ersten Begegnung sogar nach. Schmeicheleien vom knapp halb so alten Nachwuchs: Erbaulich für den in Lebenskrisenstimmung verfallenen Josh und seine Ehefrau Cornelia (Naomi Watts). Auf Anhieb verbringen die beiden viel Zeit mit dem jungen Pärchen, über dessen Unbedarftheit Josh nur staunen kann: "They"re all making things", meint er ein wenig neidvoll.
 
Noah Baumbach geht es darum, die ungleichen Paare so ausdifferenziert wie möglich agieren zu lassen, mit Blick vor allem auf alltägliche Gegensätze. Die Twentysomethings Jamie und Derby schauen Filme auf VHS, Josh und Cornelia richten ihre Abendunterhaltung am Netflix-Programm aus. Das eine Pärchen liest wieder Bücher und tippt mit alten Schreibmaschinen, das andere nutzt E-Reader und Smartphones. In der albernsten Parallelmontage des Films zocken die kinderlosen Mittvierziger einsam Tablet-Games, während sich ihre neuen Freunde mit Brettspielen vergnügen - als habe Baumbach die demonstrativ herausgepulten und dennoch bloß behaupteten Generationsunterschiede bis dahin noch nicht deutlich genug eskalieren lassen: Junge Hipster sind hip, alte Langweiler langweilig und die Anbiederungsversuche des sich mit Vintage-Kleidung verjüngenden Josh fürchterlich verzweifelt ("You are so in the moment", scharwenzelt der sich offenbar außerhalb irgendwelcher Momente bewegende Josh um seinen Günstling herum).
 


Das ist ziemlich unangenehm - und noch nicht einmal auf eine interessante Art. Baumbach stellt mit diesen Menschen nämlich nichts an, er spielt sie nur immer wieder gegeneinander aus. Nach etwa der Hälfte des Films hat er alle Klischees restlos abgefrühstückt, weshalb er das figurale Ungleichgewicht einfach kräftig in die andere Richtung verlagert: Josh wendet sich vom draufgängerischen Jamie ab, weil dessen ironische Gekünsteltheit auch keine lebenstaugliche Alternative zur eigenen Midlife-Crisis darstellt, und in einem großspurig inszenierten, aber denkbar absurden Twist wird auch noch der Dokumentarfilm des Nachwuchsregisseurs als methodisch fragwürdig überführt. Anders als Josh, der nach der Wahrheit im Leben und in seinem das Leben abbildenden Film sucht, hat es der selbstsüchtige Jamie lediglich auf schnelle Karriereerfolge im Kinobusiness abgesehen - eine Erkenntnis, die Josh zu Selbstoptimierung inspiriert und die Baumbach dazu bringt, umso abschätziger auf seine anderen Figuren zu blicken.
 
Zwar gelingen dem versierten Drehbuchautor, der Baumbach zweifellos ist, hin und wieder schöne Einzelszenen voller auf Fremdscham abzielenden Situationswitz, in denen Ben Stiller allerhand absonderliche, hochnotpeinliche Momente regungslos und also hochkomisch aussitzen darf. Doch das in den vorherigen Filmen des Regisseurs stets evidente Interesse an Menschen, die nicht anders können, als sich gegenseitig im Weg zu stehen (wie etwa die rührige Francis in der Post-Adoleszenz-Eloge "Frances Ha" oder der ebenfalls von Stiller gespielte Verlierertyp Roger in "Greenberg") ist einem seltsamen Altherrenzynismus gewichen. Wo frühere Baumbach-Protagonisten ihre Befindlichkeiten gerade deshalb geradezu brachial kommunizierten, weil sie auf eine gemeinsame Klärung der Verhältnisse auf Augenhöhe hoffen durften, erweist sich "Gefühlt Mitte Zwanzig" als geradewegs diskursfeindlich darin, wie die einmal gezogenen Trennlinien wieder und wieder bestätigt werden. Intergenerationelle Annäherung (oder auch Klassenwiderstände, die Josh in seiner Dokumentation zu thematisieren versucht) bekommt der Film lediglich über strikte Thesen und Gegenthesen zu fassen, mit dem ebenso unverhandelbaren wie trostlosen Ergebnis, dass es wohl allen besser ginge, wenn sie nur immer schön unter sich blieben.

Rajko Burchardt

Gefühlt Mitte Zwanzig - USA 2014 - Originaltitel: While We"re Young - Regie: Noah Baumbach - Darsteller: Ben Stiller, Naomi Watts, Adam Driver, Amanda Seyfried, Maria Dizzia, Adam Horovitz - Laufzeit: 97 Minuten.

Aufgrund einer kurzfristigen Änderung im Programm des Verleihs läuft der Film erst am 30.07. in den deutschen Kinos an.
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